Ihre neueste Übersetzung ist Barbara Kingsolvers Roman Demon Copperhead, der 2023 den Pulitzer-Preis erhielt. Kingsolvers Bücher wurden in der Vergangenheit von verschiedenen Übersetzerinnen ins Deutsche gebracht. Wie kam es dazu, dass Sie einen Titel von ihr übernommen haben?
Ich gestehe, dass ich Barbara Kingsolver und ihre Bücher bis dahin nicht kannte. Demon Copperhead wurde mir angeboten, ich war auf Anhieb begeistert und wurde mit dem Verlag schnell einig.
Wie können sich Leser:innen Ihre Arbeit an einem Text vorstellen? Ganz konkret: Was war Ihre Herangehensweise beim Übersetzen von Demon Copperhead?
Ich habe wie immer das ganze Buch gelesen – einfach um zu wissen, ob mich zum Beispiel auf S. 450 eine Überraschung erwartet, die schon auf S. 45 vorbereitet wird. Eine explizite Strategie habe ich beim Übersetzen eigentlich selten; in diesem Fall beschränkte sie sich auf ein paar Überlegungen: Demon Copperhead wird von seinem gleichnamigen Helden erzählt, einem jungen Mann von etwa zwanzig. Er ist ungebildet, aber intelligent, er hat viel Schlimmes erlebt und etliche Illusionen über die Menschen verloren, sich aber einen trockenen, sarkastischen Humor bewahrt und ist nicht auf den Mund gefallen. Sein spezifischer, schnoddriger, sehr umgangssprachlicher Ton verleiht dem Buch einen ganz besonderen Reiz. Ich habe auf Wörter aus der Jugendsprache weitgehend verzichtet (hier und da vielleicht mal ein „mega“) und häufig umgangssprachliche Marker verwendet: „raus“ für „heraus“, „kriegen“ statt „erhalten“, kein einziges „jedoch“ im ganzen Buch, usw. Die Richtschnur war: Es sollte locker erzählt klingen. Verschärfte orthografische Verschleifungen („gehn“, „nich“) kamen nicht in Frage, weil Demon dann prolliger gewirkt hätte, als er ist – außerdem landet man konsequenterweise bald bei „wien“ („wie ein“), und das finde ich sehr unschön. Ein wesentliches Element war die Verwendung des Konjunktivs II für die zahlreichen indirekten Reden. Auf den 850 Seiten findet sich (hoffentlich) kein einziger korrekter Konjunktiv der indirekten Rede, und zwar weil man in keiner S‑Bahn und auf keinem Schulhof je die Worte „sie habe“ oder „er sei“ hören wird. (Es brauchte ein bisschen Beharrlichkeit und Überredungskunst, das Lektorat davon zu überzeugen.)
Wie stellt man als Übersetzer sicher, dass der Erzählstil 800 Seiten lang schlüssig ist?
„Schlüssig“ ist der Stil von Anfang an oder gar nicht. Wenn mit „schlüssig“ aber „konsistent“ gemeint ist: Im Grunde habe ich Demon seine Geschichte erzählen hören – seine Stimme ist im Original sehr authentisch, und das sorgt für Konsistenz (oder Schlüssigkeit). Die ganze Qualität, der Ton, der Rhythmus eines Textes erweisen sich aber erst beim lauten Lesen, und darum habe ich mir viele Sätze oder Absätze vorgelesen oder vorlesen lassen und war erst zufrieden, wenn sie wie der Demon klangen, den ich im Ohr hatte.
Kingslovers Roman spaltet ein wenig die Gemüter. Einerseits wird die mitunter scharfe Sozialkritik geschätzt, andererseits ist der Roman an der Grenze zum „Poverty Porn“, wo Armut auf eine Art und Weise dargestellt wird, die Mitgefühl erregen soll. Hatten Sie beim Übersetzen Angst vor Kitsch und Klischees?
Das finde ich ziemlich befremdlich. „Poverty Porn“? Wer hat sich das ausgedacht, und was für eine Haltung steckt dahinter? Mit diesem Urteil wird ja unterstellt, dass sich die Autorin des Themas Armut bemächtigt und es für ihre Zwecke (Auflagensteigerung?) benutzt hat, und das erscheint mir zynisch bis niederträchtig. Im Grunde klingt in diesem Vorwurf genau die Herablassung und Verachtung der städtischen Amerikaner gegenüber den Menschen in den fly-over states an, die Kingsolver in ihrem Roman schildert. Nein, das ist kein „Poverty Porn“ – Kingsolver beschreibt einfach die Verhältnisse im Westen von Virginia: Arbeitslosigkeit und Armut, Menschen, die im Rahmen eines Pilotprojekts der Pharmaindustrie von gewissenlosen Ärzten opioidsüchtig gemacht wurden und von den Städtern als „Hillbillies“ und Hinterwäldler verachtet werden. Sie zeigt uns einen Landstrich, in dem vierzig Prozent der Kinder praktisch als Waisen aufwachsen, weil ihre Eltern entweder im Knast oder süchtig sind, und wo innerhalb eines Jahres über hunderttausend Menschen – Busfahrer, Lehrerinnen, Polizisten – an ihrer Sucht gestorben sind. Ich weiß nicht, wie man das in einem Roman darstellen soll, ohne Mitgefühl zu erregen, und habe in Demon Copperhead weit und breit keinen Kitsch und keine Klischees gefunden, vor denen ich hätte zurückzucken wollen.
Sie bringen viele große US-amerikanische Autor:innen ins Deutsche – darunter Cormac McCarthy, Thomas Pynchon, Philip Roth, oder T. C. Boyle. Welche davon waren für Ihre Arbeit prägend?
Prägend war keiner davon – auch wenn mein Leserherz Thomas Pynchon gehört. Ich habe Gelegenheit gehabt, den genannten Autoren genau auf die Finger zu sehen, und dabei viel Interessantes gelernt, aber als Übersetzer sollte man sich ja gerade nicht prägen lassen, sondern beweglich genug bleiben, um sich immer wieder neue Bücher zu eigen machen und ihnen gerecht werden zu können.
Sie haben Amerikanistik studiert und übersetzen seit 1984 primär US-amerikanische Literatur. Wie nehmen Sie deren Entwicklung wahr?
Ich nehme zu wenig davon wahr, um etwas Fundiertes sagen zu können. Vielleicht täusche ich mich, aber wie mir scheint, werden die „großen Namen“ weniger und die Themen düsterer. Und wenn das stimmt – ist das eine Entwicklung?
In einem Porträt von Ihnen heißt es: „Nach der Rückkehr und sieben Jahren des Taxifahrens durchs nächtliche München entschloß sich van Gunsteren zu einem Studium der amerikanischen Geschichte und beschloß dann zu übersetzen.“ Warum fassten Sie damals den Entschluss, Übersetzer zu werden?
Ich wollte mit Sprache arbeiten, möglichst mit Literatur, vielleicht (ein großer Traum) in einem Buchverlag. Übersetzen erschien mir allerdings noch reizvoller: kein Chef! Ich habe mich bei der Zeitschrift „Transatlantik“ beworben, tatsächlich Aufträge bekommen und festgestellt: Das ist es! Es war Liebe auf den ersten Blick.
Nun übersetzen Sie seit gut 40 Jahren Literatur. Ist das Übersetzen für Sie noch immer reizvoll oder hat man irgendwann alles schon einmal gelesen?
Natürlich stellt sich mit der Zeit eine gewisse Routine ein, aber jedes Buch ist anders und eine neue Herausforderung, das macht für mich einen großen Reiz des Übersetzens aus: Eben noch habe ich mich mit den Nöten eines Waisenjungen in den Appalachen beschäftigt, jetzt tauche ich in eine utopische Gemeinschaft im 19. Jahrhundert ein. Ich betrete eine neue Welt und übernehme Verantwortung für ein Werk, an dem der Autor, die Autorin jahrelang gearbeitet hat. Das finde ich spannend und ehrenvoll. Ich kann mir keinen schöneren Beruf vorstellen.
Hatten Sie übersetzerische Vorbilder, an denen Sie sich im Laufe Ihrer Karriere orientiert haben?
Vorbilder habe ich nicht, aber es gibt Übersetzungen, die mich sehr beeindruckt haben und aus denen ich viel gelernt habe: Die Enden der Parabel (Thomas Piltz) ist nach wie vor eine Großtat, die man kaum genug loben kann, die praktisch makellose Übersetzung eines wahnsinnig schwierigen und sehr komischen Romans, vor der ich mich jedesmal, wenn ich darin blättere, in Ehrfurcht verneige; Einer flog über das Kukucksnest (Hans Hermann) und einige Stories von Charles Bukowski (Carl Weissner), weil sie in den 1970er Jahren neue Wege aufgezeigt haben; Moby-Dick (Matthias Jendis) und Der Tunnel (Nikolaus Stingl), weil man merkt, dass es bei allem Aberwitz auf Klarheit und Genauigkeit ankommt; Walden (Walter E. Richartz), weil nüchterne Weltbetrachtung und lyrischer Ausdruck auch im Deutschen so wunderbar vereint sind wie im Original, und sehr, sehr viele andere. Also: Vorbilder? Nein. Von anderen lernen? Auf jeden Fall. Am meisten vielleicht aus schlechten Übersetzungen.
In den vergangenen Jahren nahmen die übersetzerischen Debatten an Fahrt auf. Erst ging es ums Gendern, dann um Diversität und nun KI. Inwieweit wirken sich solche Debatten auf Ihre Arbeit mit Texten aus?
Bislang so gut wie gar nicht. Dem Gendern sind in literarischen Texten meines Erachtens enge Grenzen gesetzt. Wenn in einer Passage wiederholt von „high school students“ (also Schülern beiderlei Geschlechts) die Rede ist, würde die wiederholte Wendung „Schülerinnen und Schüler“ aufgesetzt wirken. Ich verfahre meist situationsbezogen. Was Diversität betrifft: In Der menschliche Makel kommt das N‑Wort achtundzwanzig mal vor. Das Buch spielt in einer Zeit, in der dieses Wort zum allgemeinen Wortschatz gehörte. Soll man das im Nachhinein beschönigen? Ich finde nicht. „Sensitivity Reading“ hat es bei meinen Übersetzungen bisher nicht gegeben – ich bin, was das angeht, auch mehr als skeptisch. Und KI? Ich habe die erste Seite von Demon Copperhead von ChatGPT übersetzen lassen und war beeindruckt. Dass „tits“ in diesem Fall keine „Meisen“ sind, hatte die KI nicht kapiert, davon abgesehen war’s aber nicht so schlecht, wie ich gehofft hatte. Ob sie irgendwann auch eine stilistische Konsistenz hinkriegt, ob sie Wortspiele, sprechende Namen, assoziative Sprünge adäquat wiedergeben kann… ? Lassen wir uns überraschen.
Und zum Abschluss: Wann sind Sie mit einer Übersetzung zufrieden?
Wenn ich sie (gut) gelesen höre und merke, dass die Bilder, die der Text im Kopf des Lesers erzeugt, klar und stimmig sind und von einem guten Rhythmus getragen werden. Wenn ich den Eindruck habe, dass die Übersetzung nicht übersetzt klingt.