6 Bücher aus Rumä­ni­en und Moldau

Auf der Suche nach außergewöhnlichem Lesestoff? Hier werdet ihr fündig: eine literarische Entdeckungsreise durch Rumänien und Moldau. Von

Bücher aus Rumänien. Bild: Midjourney

In die­ser Rei­he stel­len Übersetzer:innen Bücher aus „ihrem“ Land vor – span­nend, weg­wei­send, roman­tisch, sub­til, haar­sträu­bend oder urko­misch – und in jedem Fall lesens­wert. Ob Klas­si­ker oder Zeit­ge­nös­si­sches, Kri­mis, Poe­sie oder Kin­der­bü­cher … die­se ganz per­sön­li­che Lese­lis­te lädt dazu ein, die lite­ra­ri­sche Land­schaft des Lan­des vom Sofa aus zu berei­sen. Viel Spaß beim Schmökern!


Lyrik
Andra Rota­ru: TRIBAR
Aus dem Rumä­ni­schen über­setzt von Alex­an­dru Bulucz. Elif Ver­lag 2022

Wenn Dichter:innen ande­re Dichter:innen ent­de­cken und das der Welt zei­gen, ist das ein Akt der Cou­ra­ge. Was sich Alex­an­dru Bulucz beim Über­tra­gen die­ses Ban­des vor­ge­nom­men hat, ist eine gro­ße Her­aus­for­de­rung, denn Andra Rota­ru ist eine der jun­gen Stim­men der rumä­ni­schen Lyrik­sze­ne, die sich etwas traut: expe­ri­men­tel­le Poe­sie. In ihrem Werk räumt sie dem Unmög­li­chen Platz ein, was schon am Titel ersicht­lich wird, denn Tri­bar, oder das Pen­ro­se-Drei­eck, ist eine exis­tie­ren­de Kon­struk­ti­on, die gegen jeg­li­che Prin­zi­pi­en der Geo­me­trie ver­stößt. So ähn­lich ver­hält es sich auch mit Rota­rus Schaf­fen, in dem sie „wrong con­nec­tions“ ent­ste­hen und ande­re Schriftsteller:innen wie Aldous Hux­ley, Sus­an Howe, Amy Leach, Mah­moud Dar­wisch oder Doro­thea Las­ky mit­re­den lässt. Man denkt, man hat es ver­stan­den, muss sich jedoch im Lau­fe des Lesens per­ma­nent neu posi­tio­nie­ren, um die ver­schie­de­nen Blick­win­kel als Gesamt­bild sehen zu kön­nen. Der Über­set­zer ist bes­tens mit dem Ton des Ori­gi­nals, der Inter­punk­ti­on und den Bil­dern ver­traut, das merkt man sowohl beim Lesen der run­den Über­set­zung als auch an den kur­zen Anmer­kun­gen am Ende des Buches, in denen er erklärt, auf wel­cher Grund­la­ge er sich für bestimm­te Wör­ter ent­schie­den hat. Die Gedich­te in deut­scher Spra­che las­sen sich auf­grund der auf­merk­sa­men Arbeit tat­säch­lich wie Ori­gi­na­le lesen.


Roman
Tatia­na Țîbu­leac: Der Gar­ten aus Glas
Aus dem Rumä­ni­schen über­setzt von Ernest Wich­ner. Schöff­ling 2023

Ein Buch wie eine Faust in den Magen. Die 1978 in Mol­da­wi­en (Mol­dau) gebo­re­ne Tatia­na Țîbu­leac erhielt 2019 für die­sen Roman den Euro­päi­schen Lite­ra­tur­preis. Dar­in beschreibt die heu­te in Paris leben­de Schrift­stel­le­rin die Lebens­ge­schich­te ihrer Prot­ago­nis­tin Las­totsch­ka, deren Weg vom Wai­sen­kind zur Fla­schen­samm­le­rin in Chișinău und schließ­lich zur Chef­ärz­tin in Buka­rest. Der Schreib­stil erin­nert mit sei­ner poe­ti­schen Dar­stel­lung von Grau­sam­kei­ten aus der Sicht eines Kin­des an Agla­ja Vete­ranyi. Die in Der Gar­ten aus Glas auf­ge­führ­ten, teil­wei­se auto­bio­gra­fi­schen Ereig­nis­se wer­den hier jedoch eine Num­mer här­ter dar­ge­stellt; von Ver­nach­läs­si­gung und Kin­des­miss­brauch bis hin zu Krank­heit und Tod fächert Tatia­na Țîbu­leac eine brei­te Palet­te an schmerz­haf­ten Epi­so­den auf, die bewe­gen­de Ein­bli­cke in das Leben des heu­ti­gen Mol­da­wi­en gewäh­ren – ein Land zwi­schen den Län­dern, das in der Mehr­spra­chig­keit zu Hau­se ist, wes­halb in die Dia­lo­ge vie­le rus­si­sche Wör­ter und Aus­drü­cke ein­ge­scho­ben sind. Das Buch ent­hält auch ein Glos­sar, in dem mol­daui­sche, rus­si­sche und rumä­ni­sche kul­tu­rel­le Beson­der­hei­ten auf­ge­führt wer­den. Ein poe­ti­sches, jedoch nüch­ter­nes und erschüt­tern­des Buch über die Unmensch­lich­keit unter Men­schen. Ernest Wich­ner, ein erfah­re­ner Über­set­zer, sowohl im Bereich der Lyrik als auch der Pro­sa, schafft es, die bedrü­cken­de Atmo­sphä­re, die in die­sem Roman herrscht, auch ins Deut­sche zu transportieren.


Erzäh­lun­gen
Ion Luca Cara­gia­le: Hum­bug und Varia­tio­nen
Aus dem Rumä­ni­schen über­setzt von Eva Ruth Wem­me. Gug­golz 2018

Irland hat Samu­el Beckett, Frank­reich Jules Renard, Rumä­ni­en Ion Luca Cara­gia­le. Der 1852 gebo­re­ne Dra­ma­ti­ker wird zwar als „unüber­setz­bar“ abge­stem­pelt, aber wenn man erst ein­mal ver­stan­den hat, auf welch poin­tier­te Wei­se er Fein­hei­ten, Beson­der­hei­ten und Abgrün­de der mensch­li­chen Natur lite­ra­risch ver­ar­bei­tet, hat man einen Ansatz­punkt für die Über­tra­gung. Cara­gia­le war ein auf­merk­sa­mer Beob­ach­ter sei­nes Milieus, was sich in sei­nen iro­nisch-sar­kas­ti­schen For­mu­lie­run­gen und Sprach­spie­len bemerk­bar macht. Sei­ner Über­set­ze­rin Eva Ruth Wem­me ist es gelun­gen, eini­ge in Deutsch­land frem­de Denk- und Ver­hal­tens­mus­ter sprach­lich der­art leben­dig zu über­tra­gen, dass man an man­chen Stel­len das Gefühl hat, man lese ein Ori­gi­nal. Die Geis­ter strei­ten sich unter zwei­spra­chi­gen See­len, denn an besag­ten Stel­len sieht man nicht nur den Gewinn, den die deut­sche Leser­schaft durch die­se Über­tra­gung hat, son­dern auch das Ver­lo­re­ne, das, was zwi­schen den Spra­chen auf der Stre­cke geblie­ben ist. Nichts­des­to­trotz ist das Buch eine emp­feh­lens­wer­te Lek­tü­re, die man häpp­chen­wei­se zu sich neh­men kann und bei der man zwi­schen­durch das Gefühl hat, dass sich das Wesen des Men­schen in all sei­ner Dumm­heit, Selbst­be­zo­gen­heit und Stur­heit selbst in 100 Jah­ren fast gar nicht ver­än­dert hat.


Lyrik
Oskar Pas­ti­or ent­deckt Gel­lu Naum
Aus dem Rumä­ni­schen über­setzt von Oskar Pas­ti­or. Euro­pa Ver­lag 2001 (anti­qua­risch erhältlich)

Ein Band von gro­ßer Bedeu­tung, der „gleich zwei Autoren von euro­päi­schem Rang in einem Buch ver­eint“, wie Her­aus­ge­ber Axel Mar­quardt im Nach­wort zusam­men­fasst: Gel­lu Naum, geb. 1915 in Buka­rest, war einer der bedeu­tends­ten rumä­ni­schen Schrift­stel­ler und einer der wich­tigs­ten Sur­rea­lis­ten Euro­pas. Oskar Pas­ti­or, in die­sem Fall als Über­set­zer tätig, ist in Deutsch­land als Schrift­stel­ler für sein sprach­lich expe­ri­men­tel­les Werk mehr­mals aus­ge­zeich­net wor­den, u. a. 2001 mit dem Peter-Huchel-Preis. Obwohl sich Naum zeit­le­bens dage­gen sträub­te, in irgend­ei­ne lite­ra­ri­sche Schub­la­de hin­ein­ge­presst zu wer­den, und obwohl er jahr­zehn­te­lang in Rumä­ni­en Publi­ka­ti­ons­ver­bot hat­te, da er sich im Kom­mu­nis­mus dem offi­zi­ell ver­ord­ne­ten Lite­ra­tur-Kanon wider­setz­te, hebt Oskar Pas­ti­or den Wert sei­nes Werks durch die Über­set­zung her­vor. Das Buch erschien 2001, im Todes­jahr Naums, und kann mit den sehr wert­vol­len Noti­zen des Über­set­zers (über die Begeg­nung mit Naums Poe­sie und die Aus­wahl der Gedich­te), nicht nur als Lyrik durch­ge­blät­tert , son­dern fast schon wie ein Lehr­buch gele­sen wer­den, in dem die Metho­dik und Aus­ein­an­der­set­zung des Über­set­zers mit dem Werk und Leben sei­nes Autors dar­ge­legt werden.


Roman
Lavi­nia Bra­niș­te: Null Kom­ma Irgend­was
Aus dem Rumä­ni­schen über­setzt von Manue­la Klen­ke. mikro­text 2018

Der Roman schil­dert das Leben einer jun­gen Frau, die in der rumä­ni­schen Haupt­stadt ver­sucht, ihren eige­nen Weg zu gehen. Um sie her­um wim­melt es von mani­pu­la­ti­ven Cha­rak­te­ren, ange­fan­gen von der cho­le­ri­schen Che­fin bis hin zum selt­sa­men Ver­mie­ter, der Wahl­ma­te­ri­al, Kulis und Pla­ka­te auf ihrem Bal­kon hor­tet. Null ist die Durch­wahl, unter der sie in der Fir­ma erreicht wer­den kann, aber „Null Plan“ ist auch das Mot­to, nach dem ihr Leben ver­läuft. Zwar macht sie sich Gedan­ken um ihre Zukunft und, ange­regt durch ihre in Spa­ni­en leben­de Mut­ter, um ihre Fern­be­zie­hung, um eine eige­ne Woh­nung, einen neu­en Job, aber der ent­schei­den­de Anlass für eine Ver­än­de­rung fehlt. Der Roman könn­te die Hym­ne einer gan­zen Gene­ra­ti­on sein, die unent­schlos­sen und in per­ma­nent insta­bi­len Macht­struk­tu­ren auf­ge­wach­sen ist und ver­sucht, die Gegen­wart zu ver­ste­hen und sich aus der Mise­re her­aus zu kämp­fen. Für das Freie Werk­statt Thea­ter Köln hat Inka Neu­bert auch ein Büh­nen­stück insze­niert. In Rumä­ni­en wur­de der Roman als Buch des Jah­res 2016 aus­ge­zeich­net. Sti­lis­tisch ist Null Kom­ma Irgend­was (Inte­ri­or zero im Ori­gi­nal) eine leich­te Lek­tü­re, Lavi­nia Bra­niș­te setzt auf Mini­ma­lis­mus und vie­le Dialoge.


Neue Pro­sa
Das Leben wie ein Tor­ten­bo­den
Aus dem Rumä­ni­schen über­setzt von Miru­na Baca­li, Kath­rin Bar­tha, Julia Braun­gart, Katha­ri­na Dociu, Gun­del Gro­ße, Chris­tia­ne Hoyer, Anca Ilea, Sarah Maria Joițoiu, Adri­an Mühl­roth, Bea­te Mühl­roth, Chris­ti­ne Nie­hoff, Anke Pfei­fer, Astrid Pfört­ner, Cri­na Vasi­liu-Kien­le, Wer­ner Welther und Huber­tus Wes­ter-Ebbing­haus. Tran­sit 2018

Die Pro­sa-Antho­lo­gie ver­eint Aus­zü­ge aus den Wer­ken von vier­zehn rumä­ni­schen Gegenwartsautor:innen, die bis­lang (mit weni­gen Aus­nah­men) dem deut­schen Publi­kum kom­plett unbe­kannt sind. Die in die­sem Band ver­sam­mel­ten Tex­te dien­ten teils als Mate­ri­al­grund­la­ge für uni­ver­si­tä­re Über­set­zungs­se­mi­na­re, teils ent­stan­den sie im Rah­men von Über­set­zungs­work­shops am Rumä­ni­schen Kul­tur­in­sti­tut in Ber­lin. Dass die Tex­te in Arbeits­grup­pen ein­ge­hend bespro­chen und über­ar­bei­tet wur­den, macht sich beim Lesen durch­aus bemerk­bar, denn die Über­set­zun­gen tref­fen den Stil des Ori­gi­nals und machen Lust auf mehr. Hilf­lo­sig­keit mit Iro­nie zu begeg­nen ist ein eta­blier­tes Mit­tel rumä­ni­scher Schriftsteller:innen, was auch in die­sem Buch den Leser:innen nicht erspart bleibt. So etwa beim Prot­ago­nis­ten aus Luci­an Dan Teo­do­ro­vicis „Mana­ge frei“, der nach sei­nem täg­li­chen Selbst­mord­ver­such zufrie­den schluss­fol­gert: „‚Sieh an‘, den­ke ich oft und freue mich, wenn sich mein selbst­mör­de­ri­scher Impuls schon nicht ein­stel­len will, bleibt mir immer­hin das gute Gefühl, jeman­dem die ein­ma­li­ge Chan­ce gebo­ten zu haben, einen Men­schen vor dem Tod zu ret­ten.‘ Ja, ich muss zuge­ben, dies ist eine der weni­gen unge­trüb­ten Freu­den mei­nes Lebens …“ Wie es der Titel schon sagt, ist die­se Antho­lo­gie, ähn­lich einem  Tor­ten­bo­den, eine Grund­la­ge, auf der man wei­ter auf­bau­en kann, soll­te der Appe­tit auf die rumä­ni­sche Lite­ra­tur ange­regt wor­den sein.

Noch mehr zur rumä­ni­schen Spra­che, Lite­ra­tur und Kul­tur erfahrt ihr in unse­rem Bei­trag Gro­ße klei­ne Spra­che Rumä­nisch!


Die Peri­phe­rie im Zentrum

In Geo­va­ni Mar­tins’ Roman „Via Ápia“, über­setzt aus dem bra­si­lia­ni­schen Por­tu­gie­sisch von Nico­lai von Schweder-Schreiner,… 

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Zwi­schen hin­du­is­ti­schem Mythos und Bou­le­vard­ko­mö­die: „Das Papa­gei­en­buch“ ist eine Samm­lung indi­scher, auf Sans­krit ver­fass­ter Märchen.… 
die Übersetzerin Lisa Palmes

Lisa Pal­mes: die Vielschichtige

Lisa Pal­mes ist für ihre Über­set­zung von Joan­na Bators pol­nisch-deut­scher Fami­li­en­sa­ga „Bit­ter­nis“ für den Preis… 

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