
Am 21. März werden die Preise der Leipziger Buchmesse vergeben, unter anderem in der Kategorie Übersetzung. Auf TraLaLit stellen wir die Nominierten vor. Alle Beiträge der Reihe sind hier zu finden.
Das Buch
„Männlichkeit wird […] durch den Verzehr von Fleisch und die Kontrolle über andere Körper konstruiert,“ schrieb einmal die US-amerikanische Ökofeministin und Literaturwissenschaftlerin Carol J. Adams. Eine scheinbar recht steile These, die jedoch Joanna Bators neuer Roman Bitternis (Gorzko, gorzko) wunderbar illustriert. Denn die junge Berta – eine der vier Frauen, von denen dieses Buch handelt – wird von ihrem Vater Hans Koch, einem Metzger mit Karriereambitionen, in die Zubereitung von Fleischwaren eingewiesen. Von ihrem Vater lernt sie „Fleisch zu zerteilen, kleinzuhacken, zu würzen“, damit am Ende beispielsweise eine Graupenwurst herauskommt, die der Vater zusammen mit Bertas selbst gemachten Häckerle am liebsten verspeist.
Wenn Hans Koch nicht gerade fleischliche Köstlichkeiten in sich reinstopft, verzehrt er die eigene Tochter erst mit seinen Blicken, um sie anschließend mit seinen bohrenden Fingern wie ein Stück Fleisch metaphorisch zu zerlegen. Dass sie später einmal buchstäblich ihn zerlegen wird, ist jenseits der Vorstellungskraft eines Hans Kochs, einem frühen Hitler-Anhänger, der glaubt, sein Kind durch Zucht und Ordnung gefügig machen zu können. Doch Berta liest Groschenromane, und träumt davon, das beschauliche Langwaltersdorf (Unisław Śląski) gegen das goldene Prag einzutauschen. Als sie sich verliebt, scheint der Traum zunächst Realität werden zu können – doch auf die Männer ist in Bators Bitternis kein Verlass.
„Die Männer kamen abhanden – ob sie nun starben oder verschwanden“, notiert Kalina Serce, Bertas Urenkelin, im ersten Kapitel des Romans. Kalina wandelt auf den Spuren ihrer Vorfahren und hat sich in Görbersdorf (Sokołowsko), einem ehemals berühmten Kurort für Tuberkulose-Kranke in Niederschlesien ganz in der Nähe von Langwaltersdorf, niedergelassen, um dort die Geschichte ihrer Familie, genauer gesagt ihrer Frauen, zu Papier zu bringen. Im Wechsel berichtet sie von ihrer Urgroßmutter Berta, der Großmutter Barbara, ihrer Mutter Violetta und der eigenen Kindheit.
Barbara, Bertas uneheliches Kind, landet als Baby in einem Kloster und wird von dem Ehepaar Serce nach Kriegsende adoptiert. Diese sind vom Verlust der eigenen Kinder und vom Krieg zu traumatisiert, um Barbara mehr als ein Dach über dem Kopf zu bieten. Sie wächst wie so viele Nachkriegskinder unter widrigen Umständen auf und bringt später Violetta zur Welt, deren Vater nur vorbeischaut, wenn er Lust hat, deren Mutter zu verprügeln. Während Barbara die Dachgeschosswohnung ihrer Adoptiveltern ungern freiwillig verlässt, zieht es die schillernde Violetta raus in die Welt, wo sie sich Erfolg und Ruhm erhofft, aber bitterlich scheitert.
Bitternis ist der vierte Roman der polnischen Autorin Joanna Bator, der ins Deutsche übersetzt wurde. Das Original erschien bereits 2020. Fast immer erzählt sie von eigensinnigen Frauen und familiären Konflikten vor einem geschichtsträchtigen Panorama. Ihre früheren Romane Sandberg und Dunkel, fast Nacht spielen in oder in der Nähe von Waldenburg (Wałbrzych), dem Geburtsort der Autorin, der auch hier wieder eine Rolle spielt. Mit Bitternis ist ihr nun, auf über 800-Seiten, ein monumentales Generationenportrait gelungen, das fesselt und frustriert, verstört und bewegt. Die Bitternis, die ihre Frauenfiguren erleben, und regelrecht schmecken – „vor lauter Widerwillen“, der ihnen angesichts ihrer verzwickten Lebensumstände auf der Zunge liegt, den sie herunterschlucken müssen – ist auch in der deutschen Übersetzung deutlich spürbar.
Die Jury-Begründung
Vier Generationen von Frauen in Polen, die dafür, dass sie Urahnin, Großmutter, Mutter und Tochter sind, erstaunlich wenig voneinander wissen. Die Verschiedenheit ihrer Leben vermittelt Joanna Bator durch die unterschiedliche sprachliche Textur der ihnen gewidmeten Kapitel. Es ist Lisa Palmes zu verdanken, dass dies auch im Deutschen mit allen Sinnen spürbar wird. Gerüche, die Stofflichkeit der jeweiligen Epoche, die Erfahrung von Gewalt in einer Männerwelt werden so sprachlich erfahrbar.
Die Übersetzung
„Bitter“ – das sind der Neid, die Enttäuschung, der Wermutstropfen und manchmal auch die Schokolade. Selbst ein Lachen klingt in Lisa Palmes Übersetzung bitter. Neben Bitterkeit ist kaum Platz für andere Gefühle; es dauert eine ganze Weile, bis Bators Frauen überhaupt Emotionen zulassen oder gar ansatzweise auszudrücken versuchen. Das mag zunächst an den erzählerischen Ambitionen der Enkelin Kalina liegen, die ganz am Anfang des Romans verkündet: „[Die] Vergangenheit als Projektion meiner Gegenwart interessiert mich nicht. Ich vertraue den Fakten.“ Und tatsächlich schlagen die Kapitel über Berta, zu deren Leben eine große zeitliche Distanz besteht, zunächst einen berichtenden und reservierten Ton an. Farben und Nuancen treten erst hervor, wenn es um das Innenleben dieser Frauen geht:
Bertas verborgenste Gedanken und Sehnsüchte drehten sich um die Liebe. Sie sollte die schmerzliche Leere vertreiben, die sie von jeher begleitete und ein zehrendes Gefühl tief im Innern ihres Seins auslöste. Wenn sie eine solche Liebe erleben dürfte, so malte Berta sich aus, dann wäre ihr ganzes Ich gewissermaßen fassbarer, schärfer konturiert, und würde sich zugleich auf wundersam süße Weise auflösen wie Honig in Milch. Aus solcherart köstlichen Gedanken gerissen, antwortete sie etwa der Nachbarin Liselotte Wagenknecht auf deren Frage, wie es ihr heute gehe, es gehe ihr kühl und flüssig.
Diese Passage steht nicht nur inhaltlich in starkem Kontrast zu Bertas Erfahrungen der Außenwelt, die vor allem von dem tyrannischen Vater und dem täglichen Zerlegen von Tieren bestimmt werden, sondern hebt sich auch sprachlich ab. Mit der „schmerzlichen Leere“ und dem „zehrenden Gefühl“ schleicht sich ein Pathos ein, der zum einen an Bertas Tagebuch (für Kalina eine wichtige Quelle, aus der sie hin und wieder zitiert) und zum anderen an die Liebesromane erinnert, die Bertas Verständnis von Romantik beflügeln.
Doch dann wird der Tagtraum von der umtriebigen Nachbarin unterbrochen, auf deren Frage Berta eine eigentümliche Antwort gibt. Was bedeutet, es geht ihr „kühl und flüssig“? Soll die befremdliche Reaktion Bertas ihr mitunter weltfremdes Verhalten unterstreichen? Soll eine altmodische Sprechweise suggeriert werden? Oder klingt an dieser Stelle vielleicht einfach das polnische Original durch? So oder so lässt die Übersetzung den Kontrast zwischen dem honig-süßen Innenleben Bertas und der harschen Außenwelt versiert deutlich werden. Überhaupt ist die Schilderung von Bertas Vergangenheit von einer bemerkenswerten Klarheit charakterisiert – bis die Faktenlage schwammig wird und die Gegenwart näher rückt. Kalinas Verweis auf die „Fakten“ entpuppt sich wenig überraschend als Farce, denn je näher das Hier und Jetzt kommt, desto öfter tritt das „Ich“ der Enkelin hervor und kommentiert; und desto komplexer wird die Erzählweise.
Die zitierte Stelle zeigt eine weitere Eigenheit des Romans und seiner Übersetzung auf: Es gibt zunächst kaum direkte Rede. Und wenn sie vorkommt, dann wird nicht immer klar markiert, wer gerade spricht. An der folgenden Stelle wird zum Beispiel nicht deutlich, wer die Fragen stellt: „Und Menschenkopfsülze, schmeckt die denen auch? – Was ist besser, Menschenkopf oder Menschenohr, frag ich mich? – Schmecken Weiber leckerer oder Kerle?“ Je nach Dosierung vermögen solche Stellen sowohl zu unterhalten als auch zu irritieren. Und wenn Barbaras späterer Liebhaber, der Vater ihrer Tochter, ähnlich abgehackt nicht nur mit Fäusten, sondern auch mit Worten auf sie einprügelt, dann erzeugt die unvermittelte direkte Rede gekonnt einen beklemmenden Effekt.
In den ersten Kapiteln über Berta und Barbara reden vor allem die Protagonistinnen besonders wenig, denn mit wem hätte die isoliert lebende Berta auch sprechen können, außer dem Vater, der sich jedoch am liebsten selbst reden hört? Und der kleinen Barbara verschlägt es nach Kriegsende zunächst gänzlich die Sprache. Zum einen, weil sie hofft, sich so unsichtbar und nicht angreifbar zu machen, zum anderen, weil sie schlicht kein Polnisch spricht. Ihre Muttersprache Deutsch ist nach Kriegsende verpönt:
»Sei brav« – bądź grzeczna – war eine der ersten Formeln, die Barbara auf Polnisch lernte. In jenem Frühling, in dem die ganze Welt zusammenstürzte oder vielmehr in Flammen aufging, hatte sie aufgehört, Deutsch zu sprechen. Bei Kriegsende war Barbara, so schätzte man, ungefähr sechs Jahre alt gewesen. Sie selbst wusste nicht, wie viel Zeit zwischen dem Tag, an dem sie unsichtbar und flink wie eine kleine graue Wolke an der Mauer des brennenden Gebäudes entlanghuschte, und jenem hellen Sommertag vergangen war, an dem sie sich in der Gruppe all der anderen ungewollten Kinder wiederfand.
Der Roman zeichnet subtil Teile der polnisch-deutschen Geschichte nach und zeigt am Beispiel von Barbara, wie das Deutsche aus dem ehemaligen Schlesien verschwindet. Barbara erfindet Mischwörter wie beispielsweise „Buterko“, das sich aus dem deutschen und dem polnischen Wort für Butter (Masełko) zusammensetzt. Sie verwendet das Wort bis an ihr Lebensende, um Luxusgüter zu beschreiben, und bringt es ihrer Enkelin bei. In Palmes’ Übersetzung darf das Polnische an solchen Stellen stets durchschimmern; es wird mitunter erklärt, aber nichts abgeflacht.
In der zitierten Textstelle wird Barbara mit einer flinken grauen Wolke verglichen, die an der Wand entlanghuscht. Solche Bilder funktionieren in der Übersetzung ausgezeichnet und sind nicht nur schön zu lesen, sondern lassen die Beschreibungen ungeheuer plastisch werden, vor allem die Charakterisierungen von Personen. Zum Beispiel gibt es eine Therapeutin, „deren Augenbrauen sich wellten wie zwei Raupen“, oder die „Großmutter, knittrig wie eine Obsttüte aus Packpapier“. Oder den Mond, der aussah „wie aus jungem, weißem Speck ausgeschnitten“.
Bitternis ist der zweite Roman von Joanna Bator, den Lisa Palmes aus dem Polnischen ins Deutsche gebracht hat. 2016 war Palmes’ Übersetzung von Dunkel, fast Nacht erschienen; Bators Sandberg und dessen Fortsetzung Wolkenfern hatte Esther Kinsky übersetzt. Neben Bator überträgt Lisa Palmes, die seit 2008 als freiberufliche Übersetzerin tätig ist, auch Romane von Olga Tokarczuk, darunter Die Jakobsbücher (mit Lothar Quinkenstein). Bereits in der Übersetzung der Jakobsbücher hatte Palmes Flair für historisierende sprachliche Elemente bewiesen, das auch dieser Übersetzung zu Gute kommt.
Einzelne Wörter oder Wendungen setzen sich in Bitternis über Generationen hinweg durch. Gleichzeitig zeigt der Roman, wie sehr sich die Welt seiner Protagonistinnen und auch deren Sprache wandelt. Zeitliche Markierungen werden kaum explizit vorgenommen; stattdessen wird das Jahrzehnt, in dem wir uns befinden, primär über die Interessen und Ambitionen der Figuren, über die genannten Fernsehserien oder Lieder, und nicht zuletzt eben über die Wortwahl vorgenommen. Während Berta zur „Kaltmamsell“ wird, ihre Freundin „neidische Schnepfe“ und der Vater ein „alte[r] Lumpenhund“ ist, hat Barbara eine „Fresse wie eine Krautscheuche“, deren Tochter „ein Bauch gemacht wird“. Violetta interessiert sich ohnehin für ganz andere Dinge – sie trägt T‑Shirts mit „Rolling-Stones-Zunge“, während sich ihre Tochter für die Spice Girls begeistert.
Joanna Bators Roman ist in Lisa Palmes’ souveräner Übersetzung großes Kopfkino. Die sprachliche Vielschichtigkeit mag erst beim mehrmaligen Lesen wirklich zum Vorschein kommen, so sicher klingt die Übersetzung und so auf den ersten Blick reibungslos lässt sie sich weglesen. Je genauer man hinschaut und je genauer man zuhört, desto klarer lassen sich die einzelnen Schichten identifizieren, die den Roman und seine Übersetzung zu einer unvergleichlichen Lektüre machen.
Anm. d. Red.: Dieser Beitrag wurde ohne Kenntnis der Originalsprache verfasst. Mehr zum Thema hier.
Lieblingsstelle
Seit sie bei dem Einbruch in ihren Keller vor wenigen Tagen fast sämtliche Vorräte verloren hatte, schwollen der unablässige Regen und die immer neuen Schreckensnachrichten in ihrer Vorstellung zu einer Strafe Gottes an, obgleich sie doch seit den Zeiten der vergeblich dargebrachten Krapfenopfer nicht mehr an Gott glaubte – oder vielmehr davon ausging, dass er vielleicht existierte, sich aber, ähnlich wie die Politiker in Warschau, nicht um die Sorgen von Menschen wie sie scherte.
