Ki-Hyang Lee: die Verfremdende

Ki-Hyang Lee ist für ihre Übersetzung von „Der Fluch des Hasen“ aus dem Koreanischen für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert. Für die wunderbar skurrilen Kurzgeschichten von Autorin Bora Chung hat sie einen überzeugend markanten Stil gefunden. Von

Nominiert für ihre Übersetzung aus dem Koreanischen: Ki-Hyang Lee ©privat

Am 21. März wer­den die Prei­se der Leip­zi­ger Buch­mes­se ver­ge­ben, unter ande­rem in der Kate­go­rie Über­set­zung. Auf TraLaLit stel­len wir die Nomi­nier­ten vor. Alle Bei­trä­ge der Rei­he sind hier zu finden.

Das Buch

Eine ver­fluch­te Hasen­lam­pe ver­mehrt sich rapi­de zu einer Schar von Hasen, die sich im Ver­bor­ge­nen durch gan­ze Akten­ber­ge knab­bern. Nach einem Auto­un­fall lässt sich eine ver­un­glück­te Frau von einer kör­per­lo­sen Stim­me lei­ten, deren beru­hi­gen­der Ton­fall als­bald umschlägt. Ein Mann macht die fol­gen­schwe­re Ent­de­ckung, dass nicht nur eine Füch­sin Gold blu­ten kann, son­dern auch ein Mit­glied sei­ner eige­nen Fami­lie. In Polen ver­wan­deln sich Kriegs­trau­ma­ta in Geister.

„Das [Buch] habe ich natür­lich nur aus­ge­wählt, weil ich unbe­dingt mal Denis Scheck ver­stö­ren woll­te“, lei­te­te Insa Wil­ke im Okto­ber 2023 ihre Vor­stel­lung von Bora Chungs Kurz­ge­schich­ten­band Der Fluch des Hasen (Ori­gi­nal­ti­tel: 저주토끼) im lesens­wert Quar­tett ein. Der gab auch prompt zu, dass ihr dies durch­aus gelun­gen sei. Auf die­se Art und Wei­se, das erfährt die Zuschaue­rin im Ver­lauf der Sen­dung, lässt sich der Lite­ra­tur­kri­ti­ker aller­dings lie­bend ger­ne ver­stö­ren: „Ich bin ja sehr dafür, dass in mei­nem Wohn­zim­mer die Regeln des guten Geschmacks der Höf­lich­keit ein­ge­hal­ten wer­den. In der Lite­ra­tur habe ich es aber ganz ger­ne, wenn jemand auf die Kacke haut.“

„Auf die Kacke hau­en“, das ist bei Bora Chung ganz wört­lich Pro­gramm. In der ein­lei­ten­den Kurz­ge­schich­te etwa ent­steht aus den Aus­schei­dun­gen einer Frau ein Wesen, das sich selbst „Kopf“ und sie „Mut­ter“ nennt – ange­wi­dert lässt sie wie­der­holt den Klo­de­ckel über dem Fäkal-Geschöpf her­un­ter­schnel­len. All­ge­mein schreckt die Autorin vor gra­phi­schen Beschrei­bun­gen von Kör­per­lich­keit (ins­be­son­de­re weib­li­cher) nicht zurück. Ihre ins Abjek­te ten­die­ren­de Erzähl­wei­se trifft auf Spe­ku­la­ti­ve Fik­ti­on, auf korea­ni­sche Mythen und euro­päi­sche Mär­chen – und ver­mag es wie­der­holt, Lese­er­war­tun­gen zu unter­lau­fen und Gen­re­kon­ven­tio­nen zu spren­gen. Über­na­tür­li­ches drängt sich in schein­bar nor­ma­le Lebens­wel­ten und macht auf para­bel­haf­te Wei­se sicht­bar, was unter der Ober­flä­che bzw. in den Ein­ge­wei­den rumort.

Umso schau­ri­ger erschei­nen die Kurz­ge­schich­ten, da das Innen­le­ben der von rät­sel­haf­ten Phä­no­me­nen geplag­ten Cha­rak­te­re opak bleibt und ihre miss­li­che Lage gera­de­zu kaf­ka­esk nüch­tern beschrie­ben wird. Fol­ge­rich­tig reagiert auch das Umfeld jener Per­so­nen mit ener­vie­ren­der Non­cha­lance auf deren Wid­rig­kei­ten – so rät der Ehe­mann der unfrei­wil­li­gen Fäka­li­en-Mut­ter: „Es ist ja nicht so, als wür­de das selt­sa­me Etwas Eier legen. War­um igno­rierst du es nicht einfach?“

Die Jury-Begrün­dung

Bora Chung leuch­tet die Abgrün­de der süd­ko­rea­ni­schen Gesell­schaft bedroh­lich hell aus. Oft könn­ten sie auch unse­re sein: das patri­ar­cha­le Gesund­heits­sys­tem beschert einer jun­gen Frau eine unbe­fleck­te Emp­fäng­nis, die wohl­stän­di­gen Aus­schei­dun­gen einer ande­ren Frau repro­du­zie­ren sich. Oder sie? Ki-Hyang Lee hat Chungs bizar­re Kurz­ge­schich­ten in eine poin­tier­te und leicht neben die Norm gesetz­te deut­sche Pro­sa gebracht, die dem Absur­den und Unheim­li­chen im Deut­schen eine ange­mes­sen eigen­ar­ti­ge Form gibt.

Die Über­set­zung

Schon seit den 2000er Jah­ren ist von einer „Korea­ni­schen Wel­le“ die Rede – also der immensen welt­wei­ten Ver­brei­tung süd­ko­rea­ni­scher Pop-Kul­tur, dar­un­ter K‑Pop und K‑Drama, und eben auch von Lite­ra­tur. Ins­be­son­de­re Autorin­nen, die anhand der tra­gi­schen Schick­sa­le ihrer Prot­ago­nis­tin­nen auf psy­cho­lo­gisch raf­fi­nier­te Arte und Wei­se die Abgrün­de einer miso­gy­nen Gesell­schaft auf­zei­gen, wer­den im deutsch­spra­chi­gen Aus­land begeis­tert rezi­piert. Pro­mi­nen­te Bei­spie­le sind Han Kang mit Die Vege­ta­rie­rin und Cho Nam-Joo mit Kim Jiy­oung, gebo­ren 1982, und nun Der Fluch des Hasen von Bora Chung. Gemein­sam haben die­se Publi­ka­tio­nen außer­dem, dass sie alle­samt von Ki-Hyang Lee ins Deut­sche über­tra­gen wurden.

In einem Inter­view mit der SZ beton­te Lee ein­mal, dass es kaum Über­set­zun­gen aus dem Korea­ni­schen ins Deut­sche gab, als sie ihre Anfän­ge als lite­ra­ri­sche Über­set­ze­rin mach­te; die meis­ten Über­tra­gun­gen nah­men einen Umweg über die eng­li­sche Spra­che. Sie selbst wuchs in Seo­ul auf und stu­dier­te dort Ger­ma­nis­tik, Japa­no­lo­gie und Päd­ago­gik. 1992 kam sie nach Deutsch­land, mitt­ler­wei­le arbei­tet sie in Mün­chen als Dozen­tin und hat einen eige­nen Kinderbuchverlag.

Auch die eng­li­sche Fas­sung des Kurz­ge­schich­ten­ban­des, Cur­sed Bun­ny, erfuhr ein gro­ßes Medi­en­echo, stand 2022 auf der Short­list des Inter­na­tio­nal Boo­ker Pri­ze und 2023 auf der Long­list des Natio­nal Book Award for Trans­la­ted Lite­ra­tu­re. Der Über­set­zer, Anton Hur, ist mitt­ler­wei­le eine Art Shoo­ting Star der Über­set­zungs­sze­ne, in sei­nem groß­zü­gi­gen Port­fo­lio befin­det sich unter ande­rem auch Oce­an Vuong. Words Wit­hout Bor­ders berich­te­te er unlängst, dass er Chungs Kurz­ge­schich­ten­band unver­hofft auf einer Buch­mes­se begeg­net war. Schon nach dem ers­ten Satz war er hin­ge­ris­sen und frag­te die Per­son, die den Mes­se­stand betreu­te, nach einem Kon­takt zur Autorin – die­se Per­son, stell­te sich her­aus, war Bora Chung selbst.

Die deut­sche und die eng­li­sche Über­set­zung, das wird bei der Lek­tü­re schnell klar, unter­schei­den sich sti­lis­tisch nicht uner­heb­lich, so auch in „Der Kopf“.


The woman redis­co­ver­ed the con­tours of her youn­ger face in the fami­li­ar-unfa­mi­li­ar face of her daugh­ter, fee­ling sur­pri­se, pri­de, love, and jea­lou­sy at the same time. When her child straight-per­med her hair flat and dyed it pur­ple, the woman stood befo­re a mir­ror when no one was wat­ching and fidd­led with the curls of her “aun­tie-perm”, a tight cap of pood­le-like hair that had to be dyed black.

In dem ver­trau­ten und doch so fremd­ar­ti­gen Gesicht erkann­te die Frau die Züge ihres eige­nen jün­ge­ren Ichs wie­der, wobei sie glei­cher­ma­ßen Über­ra­schung, Stolz, Lie­be und Eifer­sucht emp­fand. Als sich ihre Toch­ter die Haa­re glät­te­te und lila färb­te, stell­te sich die Frau vor den Spie­gel und spiel­te heim­lich mit den nach­ge­färb­ten schwar­zen Locken ihrer Dauerwelle.


Die deut­sche Fas­sung fällt merk­lich deskrip­tiv-schlich­ter aus. Das Gesicht der Toch­ter ist ein­mal „ver­traut und doch so fremd­ar­tig“, ein­mal „fami­li­ar-unfa­mi­li­ar“. Von „aun­tie-perm“ und „pood­le-like hair“ im Deut­schen kei­ne Spur. Die Bis­sig­keit der eng­li­schen Fas­sung liest sich schwung­voll, doch nicht zuletzt durch den Pudel-Ver­gleich schleicht sich auch eine Wer­tung ein, ein nicht ganz wohl­wol­len­der Blick auf die altern­de Prot­ago­nis­tin. Ein sol­ches Urteil nimmt die deut­sche Erzähl­stim­me nicht vor, sie berich­tet bewusst nüch­tern. Dies ist kenn­zeich­nend für Ki-Hyang Lees Über­set­zung, die durch einen merk­li­chen Kon­trast zwi­schen den unaus­ge­spro­che­nen Emo­tio­nen, die dem Erzähl­ten offen­sicht­lich zugrun­de lie­gen, und der sach­li­chen Erzähl­wei­se durch­weg eine inter­es­san­te Span­nung auf­baut. Auch hat ihre Wort­wahl einen Hang zum Anti­quier­ten, was her­vor­ra­gend mit der mär­chen- bzw. mythen­haf­ten Form der Kurz­ge­schich­ten resoniert.

Dass in Bora Chungs Kurz­ge­schich­ten Unheim­li­ches am Werk ist, ist ihr Mar­ken­zei­chen. In „Die Monats­blu­tung“ wird eine Frau durch die Ein­nah­me der Anti­ba­by­pil­le schwan­ger und muss nun auf ärzt­li­chen Rat einen Vater für das Erzeug­nis ihrer Arz­nei-indu­zier­ten Emp­fäng­nis suchen.


“You’re in a situa­ti­on whe­re you’ve beco­me pregnant under abnor­mal cir­cum­s­tances, which means that if you don’t find a male part­ner, the cells of the fetus will not pro­per­ly pro­pa­ga­te or grow. You know how in gro­cery stores the­re are freeran­ge fer­ti­li­zed eggs and non-fer­ti­li­zed eggs? It’s the same thing here. If the fetus does not pro­per­ly grow, then your pregnan­cy will not pro­ceed nor­mal­ly, and this will ulti­m­ate­ly be bad for the mother. […]”

„Sie sind unter unge­wöhn­li­chen Umstän­den schwan­ger gewor­den. Das bedeu­tet, dass die Zel­len des Fötus sich nicht ange­mes­sen tei­len und nicht rich­tig wach­sen, wenn Sie kei­nen männ­li­chen Part­ner fin­den. Sie wis­sen doch, es gibt befruch­te­te Eier und unbe­fruch­te­te Eier. Das hier ist das Glei­che. Wenn ein Fötus nicht adäquat wächst, wird die Schwan­ger­schaft nicht nor­mal ver­lau­fen, und das wirkt sich schließ­lich nega­tiv auf die Mut­ter aus. […]“


Auch in die­ser Pas­sa­ge fällt auf, dass die eng­li­sche Über­set­zung bild­haf­ter arbei­tet – der Ver­gleich der mensch­li­chen Eizel­len mit Frei­land­ei­ern aus dem Super­markt bleibt im Deut­schen aus. Anton Hur lässt die Ärz­tin zudem von „your pregnan­cy“ spre­chen, was ihren Vor­trag per­sön­li­cher und damit ein­dring­li­cher macht. In Ki-Hyang Lees Ver­si­on wird dar­aus neu­tral „die Schwan­ger­schaft“, wodurch die Situa­ti­on der Prot­ago­nis­tin als eine erscheint, die durch­aus kei­nen Ein­zel­fall dar­stellt. Der Ton­fall ist dabei ver­stö­rend sach­lich – zumal sich die Ana­ly­se der Ärz­tin abso­lut gro­tesk ausnimmt.

Unter­des­sen fin­det sich die schwan­ge­re Frau bei einem von ihrer Fami­lie arran­gier­ten Date wie­der. Das Gespräch zwi­schen wer­den­der Mut­ter und Vater­schafts­an­wär­ter nimmt schnell skur­ri­le Züge an (wobei alle anschlie­ßen­den Dates, so viel darf ver­ra­ten wer­den, noch weit­aus weni­ger erfreu­lich ausfallen).


“What are you spe­cia­li­zing in?”
“Sla­vic lite­ra­tu­re –“
“How very unu­su­al! I’m sure the­re can’t be many peo­p­le stu­dy­ing Nor­we­gi­an lite­ra­tu­re in Korea?”
“Uh, that’s not quite–“
She sud­den­ly couldn’t stand the smell of the cof­fee. Cas­ting her digni­ty to the winds, she bol­ted from her seat and sprin­ted to the ladies’ room. For a long time, she wrung out not­hing from her sto­mach other than a litt­le cof­fee, air, and bile. She pray­ed the man had left as she washed her mouth and hands.

„Was ist Ihr Haupt­fach?“
„Sla­wis­tik …“
„Wie unge­wöhn­lich! Ich bin sicher, dass nicht vie­le Leu­te in Korea Skan­di­na­vis­tik stu­die­ren?“
„Ähm … das ist nicht ganz das­sel­be …“
Plötz­lich konn­te sie den Kaf­fee­ge­ruch nicht mehr ertra­gen. Ihre Wür­de in den Wind schla­gend, sprang sie auf und rann­te zur Toi­let­te. Eine gan­ze Wei­le gab sie nichts ande­res von sich als etwas Kaf­fee, Luft und Gal­le. Wäh­rend sie sich den Mund aus­spül­te und die Hän­de wusch, bete­te sie, dass der Mann gegan­gen war.


Im Deut­schen könn­te der Sprung von Sla­wis­tik von Skan­di­na­vis­tik fast noch einem Ver­hö­rer geschul­det sein, aus dem Eng­li­schen spricht über­deut­lich die Igno­ranz des jun­gen Man­nes. Den anschlie­ßen­den Satz kann die Prot­ago­nis­tin im Deut­schen vor ihrem Wür­ge­reiz noch zu Ende füh­ren, im Eng­li­schen blei­ben ihr die letz­ten Wor­te im Hals ste­cken. Die bei­den Über­set­zen­den fin­den hier sehr unter­schied­li­che Stra­te­gien, um die Unbe­quem­lich­keit der Situa­ti­on im Dia­log poin­tiert wie­der­zu­ge­ben. Die im Eng­li­schen übli­che Par­ti­zi­pi­al-Kon­struk­ti­on in der anschlie­ßen­den deskrip­ti­ven Pas­sa­ge hat im Deut­schen hin­ge­gen eine ande­re Wir­kung. Die Satz­struk­tur mutet etwas umständ­lich an, was jedoch nicht als Unauf­merk­sam­keit sei­tens der Über­set­ze­rin zu ver­ste­hen ist.

Der­lei Kon­struk­tio­nen fin­den sich häu­fig bei Ki-Hyang Lee, die ihre Leser­schaft immer wie­der über eine mini­mal umständ­li­che Gram­ma­tik und unge­wöhn­li­che Wort­wahl stol­pern lässt. So wer­den unaus­ge­spro­che­ne Span­nun­gen ver­schärft und es bleibt ein dif­fu­ses Unbe­hag­lich­keits­ge­fühl zurück. Meis­ter­haft ver­steht es die Über­set­ze­rin, ihre Leser*innen sub­til in Bora Chungs son­der­li­che Uni­ver­sen zu ver­stri­cken, und es ihnen mul­mig wer­den zu las­sen im Ange­sicht der bei­läu­fig geschil­der­ten Absurditäten.


Drei Fra­gen an Korea­ni­sch/­Eng­lisch-Über­set­ze­rin Dasom Yang

Da ich selbst kei­ne Korea­nisch-Kennt­nis­se mit­brin­ge, habe ich mich mit Dasom Yang getrof­fen, die selbst Essays, Kurz­ge­schich­ten und Poe­sie aus dem Korea­ni­schen ins Eng­li­sche über­setzt. Wir haben uns über Bora Chungs Rezep­ti­on sowie unse­re Lese­ein­drü­cke von Ori­gi­nal und Über­set­zun­gen ausgetauscht.

Zunächst ein­mal, wie bist du der Autorin zum ers­ten Mal begegnet?

Ich bin tat­säch­lich erst über die eng­li­sche Über­set­zung auf Cur­sed Bun­ny auf­merk­sam gewor­den, genau­er gesagt über die Short­list des Inter­na­tio­nal Boo­ker Pri­ze 2022. Ich konn­te mich dann auch erin­nern, dass mir der Name Bora Chung schon ein­mal irgend­wo begeg­net war. Aber es gab kei­nen Hype um den Kurz­ge­schich­ten­band, als er 2017 in Süd­ko­rea ver­öf­fent­licht wur­de. Durch die Boo­ker-Nomi­nie­rung ist das Buch dann wie­der­ent­deckt wor­den und ich habe alle mög­li­chen Kurz­ge­schich­ten gele­sen, die ich in korea­ni­schen Maga­zin­pu­bli­ka­tio­nen fin­den konn­te. Als Bora Chung dann letz­tes Jahr beim inter­na­tio­na­len lite­ra­tur­fes­ti­val ber­lin zu Gast war, hat­te ich die Gele­gen­heit mich kurz mit ihr zu unter­hal­ten – sie redet mit dem glei­chen tro­cke­nen Humor, der auch ihr Schrei­ben auszeichnet.

Bora Chung hat in sla­wi­scher Lite­ra­tur pro­mo­viert und sich viel mit sla­wi­schen wie auch korea­ni­schen Mythen aus­ein­an­der­ge­setzt, die ihre Kurz­ge­schich­ten inspi­rie­ren. Gleich­zei­tig betont sie immer wie­der, dass ihre Lite­ra­tur von ihren eige­nen Erfah­run­gen und der Lebens­rea­li­tät in Süd­ko­rea beein­flusst sind. In einem Inter­view etwa spricht sie über ihre Kurz­ge­schich­te „Monats­blu­tung“, in der eine jun­ge Frau die Pil­le ver­schrei­ben bekommt, weil ihre Peri­ode nicht enden will, und davon schwan­ger wird. Bora Chung selbst hat­te mit 28 Jah­ren eine Ova­ri­al­zys­te, die ihr gro­ße Schmer­zen berei­te­te, und muss­te des­halb medi­zi­nisch behan­delt wer­den. Die Reak­ti­on ihrer Mut­ter war alles ande­re als ermu­ti­gend – sie sag­te ihr, eine unver­hei­ra­te­te Frau dür­fe nicht ohne Beglei­tung zu einer gynä­ko­lo­gi­schen Pra­xis gehen. Ich kann mir vor­stel­len, dass Lite­ra­tur, die nicht vor Mens­trua­ti­ons­blut zurück­scheut, unter sol­chen Umstän­den nicht nur posi­tiv auf­ge­nom­men wird?

Das stimmt durch­aus. Die Lite­ra­tur­kri­tik, die ich zu Bora Chung gele­sen habe, war qua­si durch­weg posi­tiv. Aber schon bei Kim Jiy­oung, gebo­ren 1982, das ein Jahr vor Der Fluch des Hasen erschie­nen ist, gab es einen gesell­schaft­li­chen Auf­schrei, und in bestimm­ten Krei­sen ist ein frag­wür­di­ger Trend ent­stan­den: In diver­sen Foren wur­de näm­lich dazu gera­ten, Frau­en tun­lichst zu mei­den, die man mit einem sol­chen Buch im Café sit­zen sieht. Die sei­en näm­lich „Femi­na­zis“ und defi­ni­tiv nicht beziehungstauglich!

Wow. Sol­cher Miso­gy­nie begeg­net Bora Chung mit einer guten Pri­se tro­cke­nen Humors, wie du vor­hin schon ange­deu­tet hast. Über Humor woll­te ich ohne­hin mit dir spre­chen. Der scheint mir in der deut­schen und eng­li­schen Fas­sung etwas unter­schied­lich zu funk­tio­nie­ren. In der ers­ten Kurz­ge­schich­te nennt sich das Fäka­li­en-Unge­tüm im Deut­schen schlicht „Kopf“, im Eng­li­schen „the head“. Ein klei­ner, aber fei­ner Unter­schied, der bei mir dazu geführt hat, dass ich im Eng­li­schen auf­grund der stär­ke­ren Per­so­na­li­sie­rung direkt auf­la­chen muss­te. Im Deut­schen ande­rer­seits pas­siert viel über das Sprach­re­gis­ter. Nach­dem der Kopf län­ge­re Zeit ver­schwun­den ist, taucht er plötz­lich wie­der auf und fragt im Deut­schen mit umständ­li­cher Höf­lich­keit: „Wie erging es dir, Mut­ter?“ Die eng­li­sche Fra­ge fällt dage­gen durch­aus umgangs­sprach­lich aus: “How have you been, Mother?” Hier ergibt sich im Deut­schen eine star­ke Komik aus der Dis­kre­panz zwi­schen der förm­li­chen Anspra­che und der phy­si­schen Form des Kopfes.

Mir war auch schon auf­ge­fal­len, dass sich der Kopf im Korea­ni­schen um eini­ges förm­li­cher aus­drückt als im Eng­li­schen. All­ge­mein lässt sich über Anton Hur sagen, dass er sich von star­ken Erzähl­stim­men ange­zo­gen fühlt und sich nicht scheut, das zu über­spit­zen, was er aus dem Ori­gi­nal her­aus­hört. Die­se Über­spit­zung zieht sich dann aber eben auch durch – Sprach­re­gis­ter wer­den ten­den­zi­ell abge­schlif­fen und der Text erscheint dadurch glat­ter. Das über­trägt sich mit­un­ter auch auf die Ver­hal­tens­wei­sen eini­ger Cha­rak­te­re. In der von dir ange­spro­che­nen Kurz­ge­schich­te über die Monats­blu­tung begeg­net die Prot­ago­nis­tin einer extrem unnah­ba­ren Ärz­tin, in der eng­li­schen Fas­sung ist sie vor­wurfs­voll bis feind­se­lig. Der gesell­schaft­li­che Vor­wurf ist dadurch in der Über­set­zung poin­tier­ter, im Ori­gi­nal wie auch an vie­len Stel­len im Deut­schen kann es einem bei all der Nüch­tern­heit hin­ge­gen eis­kalt den Rücken hinunterlaufen.

Lieb­lings­stel­le

„[…] Ach übri­gens, ges­tern habe ich den Kopf eines Men­schen im Klo gese­hen.“
„Was hast du gemacht?“
„Ich habe ihn ein­fach run­ter­ge­spült.“
„Sehr gut. Möch­test du noch etwas von der Suppe?“


Bora Chung | Ki-Hyang Lee

Der Fluch des Hasen


Cul­tur­Books 2023 ⋅ 264 Sei­ten ⋅ 24 Euro


Die Peri­phe­rie im Zentrum

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