Am 21. März werden die Preise der Leipziger Buchmesse vergeben, unter anderem in der Kategorie Übersetzung. Auf TraLaLit stellen wir die Nominierten vor. Alle Beiträge der Reihe sind hier zu finden.
Das Buch
Der Dichter, Künstler, Buchhändler, Verleger, Literaturwissenschaftler und Aktivist Lawrence Ferlinghetti galt als „Vater“ der Beat-Generation, und hat seine, zumindest hierzulande, bekannteren Dichterkollegen Jack Kerouac, Allen Ginsberg und William S. Burroughs doch um Jahrzehnte überlebt. Ferlinghetti wurde 1919 in New York geboren, ging nach einer turbulenten Kindheit und Jugend zur Navy, studierte Literaturwissenschaft an der Columbia University, promovierte an der Sorbonne in Paris und ließ sich anschließend in San Francisco nieder. Hier gründete er 1953 den legendären City Lights Bookshop, der schnell zum Treffpunkt von Avantgarde-Künstlern und Schriftstellern wurde, und kurz darauf den gleichnamigen Verlag. Zu dessen ersten Veröffentlichungen gehörten Ferlinghettis eigener erste Gedichtband Pictures of the Gone World (1955) sowie Allen Ginsbergs berühmtes Gedicht „Howl“ in dem Band Howl and Other Poems (1956), für das Ferlinghetti als Verleger sogar wegen „Obszönität“ der Prozess gemacht wurde.
Der Durchbruch als Dichter gelang Ferlinghetti mit seinem zweiten Gedichtband, A Coney Island of the Mind (1958), der sich millionenfach verkaufte und in zahlreiche Sprachen übersetzt wurde. Hier setzt Ferlinghetti gewissermaßen den Ton für sein Schreiben, hier verbindet sich alltägliche, gesprochene Sprache mit der Sprache seiner poetischen Vorbilder (allen voran Walt Whitman). Sie ist mal derb, mal elegisch, mal wütend, mal sanft, ebenso ausschweifend, spielerisch, sinnlich wie knapp, präzise und lakonisch. Die Gedichte des Bandes bewegen sich mal im Zickzack über die Seiten, die Verse reißen aneinander oder fließen lebendig, rhythmisch ineinander, mal sind sie klassisch linksbündig, zentriert oder im Block gesetzt. Sie klagen an, rechnen ab mit „Amerika/ mit seinen Geisterstädten und leeren Ellis Islands/ und seiner surrealen Landschaft der/ ungesteuerten Prärien/ Supermarktsuburbias/ dampfbeheizten Gottesäcker“, mit dem „betonierten Kontinent/ gespickt mit faden Billboards/ die Glücksversprechen illustrieren“. Sie sind vehementer gesellschaftskritischer Appell, aber auch alltägliche Momentaufnahmen des modernen Großstadtlebens, Betrachtungen weiter Landschaften, ekphrastische Erkundung von Gemälden oder Skulpturen und atmosphärische Traumbilder.
Auf A Coney Island of the Mind folgen zahlreiche weitere Gedichtbände, Romane, Theaterstücke, Essays, Reisejournale sowie bild- und konzeptkünstlerische Projekte. Bis ins hohe Alter blieb Ferlinghetti aktiv. Zuletzt erschien 2019 der Roman Little Boy, den Ron Winkler im selben Jahr für den Schöffling Verlag übersetzte. 2023 folgte dann mit Angefangen mit San Francisco eine vom Übersetzer selbst erstellte Auswahl von Ferlinghettis Lyrik. Die Sammlung vereint Gedichte aus vier Jahrzehnten, von 1958 mit A Coney Island of the Mind, über den titelgebenden Band Starting from San Francisco von 1961, dann The Secret Meaning of Things (1968), Open Eye, Open Heart (1973), Who Are We Now? (1976), Landscapes of Living & Dying (1979) bis hin zu Over All the Obscene Boundaries von 1984.
Bereits in den 70er und 80er Jahren erschienen – in kleiner Auswahl – Gedichte von Ferlinghetti in deutscher Übersetzung, etwa von Wulf Teichmann, in den 90ern und 2000ern dann in limitierter Auflage einzelne Gedichte übersetzt von Ingrid und Reinhard Harbaum. Einzig von A Coney Island of the Mind liegen gleich mehrere vollständige deutsche Übersetzungen vor. Mit Ausnahme der bisher aktuellsten Ferlinghetti-Übersetzung, der 2005 erschienenen deutschen Fassung von A Coney Island of the Mind und A Far Rockaway of the Heart von Klaus Berr, sind diese Bände allerdings nur noch antiquarisch oder überhaupt nicht mehr erhältlich.
Ron Winkler macht Ferlinghettis Gedichte also zum Teil wieder, zum Teil erstmalig auf Deutsch zugänglich, und das zum ersten Mal im Kontext einer größeren Auswahl. Der Band vermittelt einen guten Eindruck von der rhythmischen Vielfalt, den motivisch-thematischen Netzen und der Referenzdichte von Ferlinghettis dichterischem Werk sowie von den – echten wie intertextuellen – Landschaften, die es durchwandert. Der Übersetzer nimmt uns in Angefangen mit San Francisco mit auf eine Reise: durch das Werk Ferlinghettis, an die US-amerikanische Westküste der 50er Jahre und von dort quer durchs Land und bis über den Atlantik …
Die Jury-Begründung
Ron Winkler hat Gedichte von Lawrence Ferlinghetti ausgewählt und aus dem amerikanischen Englisch auf eine Weise übersetzt, die das lyrische Werk des Beat-Poeten in seiner spielerischen Dimension freilegt, ohne die Herkunft aus dem »dunkelsten der Orte« zu vernachlässigen. Winklers Phantasie und sprachlicher Übermut führen in ein Klang-Konzert, das Ferlinghetti als Wahlverwandten von Dante und Chagall plausibel macht. – Eine Übersetzung, die aus heutiger Zeit auf einen Geist von damals antwortet.
Die Übersetzung
Ron Winkler sticht ein wenig heraus aus dem Kreis der Nominierten, nicht nur als der einzige Lyrik-Übersetzer, und weil mit Angefangen mit San Francisco zumindest (bzw.: nur) ein „Klassiker“ nominiert ist, wie die Herren Literaturkritiker erleichtert (bzw.: enttäuscht) anmerken. Nein, vor allem ist an Ron Winklers Nominierung besonders, dass in seinem Fall auch die Komposition der Texte in Angefangen mit San Francisco Teil seiner übersetzerischen Arbeit war. Ein Vorwort von ihm wäre sicher spannend gewesen: Warum Ferlinghetti? Warum gerade jetzt? Wie verlief die Begegnung mit dem Werk Lawrence Ferlinghettis? Wonach richtet sich seine Auswahl der Texte und seine übersetzerische Annäherung?
Auch ohne Vorwort merkt man Ron Winklers Übersetzungen an, dass sie keine unpersönliche Auseinandersetzung mit Ferlinghettis Gedichten sind, dass er sich beim Übersetzen nicht selbst zurücknimmt, um die Gedichte für sich und aus ihrer Zeit sprechen zu lassen. Man tut ihnen sicher keinen Gefallen, wenn man sie auf ein Podest stellt und am Anspruch einer „repräsentativen“ oder objektiv „brillanten“ Übersetzung (wie es ganz unbescheiden im Klappentext heißt) misst. Winklers Übersetzungen sind rhythmisch und semantisch nicht sehr genau am Original orientiert; er ist merklich weniger auf Knappheit und einfaches Vokabular bedacht wie Ferlinghetti, der explizit forderte, Dichter sollten ihren Platz im Elfenbeinturm verlassen und zu einem breiten Publikum sprechen.
Manchmal reiben sich die deutschen Gedichte an den historisch, geographisch und politisch-kulturell so klar situierten Originalen, wenn sie sehr viel moderne, auch jugendsprachliche Ausdrücke verwenden, oder wenn Wortfindungen in Form von richtig deutschen, wuchtigen Nominalkomposita die klar strukturierten Verse aufmischen. Sie fügen dem Original oft etwas hinzu, spitzen die Bedeutung zu oder reduzieren sie – sie führen aber auch die spielerische Freude des Dichters beim Übersetzen vor. Zum Beispiel bei „Westentaschencharliechaplin“ für „a little charleychaplin man“, bei „Nichtspeisepilzknopf“ für „inedible mushrom button“, bei „Schildkrötenkarawanenzeichen“ für „trotting turtle symbols“ oder bei „Mogelpackungsmönche“ für „make-believe monks“.
Angefangen mit San Francisco kann nur gewinnen, wenn man es als die Begegnung des Dichters Ron Winkler mit den Gedichten Lawrence Ferlinghettis (und damit als eine von vielen möglichen Begegnungen mit dessen Werk) liest. Oder eben, in der Formulierung der Jury, als ein Antworten auf „den Geist von damals“ – wobei diesem Geist oft auch gerade nicht entsprochen wird, wenn z.B. aus „italians“ „Italienerinnen und Italiener“ werden. Es ist ein Gespräch, eine Begegnung, die sich im Übersetzen vollzieht, die in den Übersetzungen noch in Bewegung ist. Wenn wir uns dieser Bewegung beim Lesen überlassen, trägt sie uns vielleicht mit. Auch weil die Auswahl der Gedichte sehr stimmig ist, weil sich aus ihr eine gewisse Dramaturgie ergibt. Sie setzt noch einmal an bei A Coney Island of the Mind, das vielen Leser:innen des Bandes zumindest vage bekannt sein dürfte. Dann folgt direkt das titelgebende Gedicht, in San Francisco brechen wir auf:
Starting From San Francisco
Here I go again
crossing the country in coach trains
(back to my old
lone wandering)
All night Eastward… Upward
over the Great Divide and on
into Utah
over Great Salt Plain
and onward, rocking,
the white dawn burst
across mesas,
table-lands,
all flat, all laid away.
Great glary sun—
wood bridge over water…
Later in still light, we still reel onward—
Onward? […]
Angefangen mit San Francisco
Es zieht mich wieder,
das Land in Reisezügen zu durchqueren
(zurück auf meinem alten
solitären Treck)
Die ganze Nacht gen Osten… hoch
entlang der Great Divide und dann
nach Utah
über die Great Salt Plain
und holpernd weiter,
weißer Morgendämmerausbruch
über mesas, Tafelberge,
Hochebenen
ganz flach, ganz abgelegt.
Intensives Sonnengleißen –
Holz als Brücke überm Wasser. …
Dann flaues Licht, wir schaukeln weiter –
Weiter? […]
Ist es ein bewusst markiertes Zögern, dieses „Es zieht mich…“ und der irreale zu-Infinitiv „zu durchqueren“ hier ganz am Anfang, in dem die Reise erst noch Anlauf nehmen muss, noch nicht so sehr im Gang zu sein scheint, wie bei „Here I go again…“ und „crossing“? Ist es Zufall, dass das Subjekt („I go“) des Originals zum Objekt („Es zieht mich“), der Antrieb ein klein wenig aus dem Selbst in etwas Anderes, Vorausgegangenes verlagert wird? Fast meint man, hier schreibt sich die Nachträglichkeit der Übersetzung dem übersetzten Gedicht ein.
„Weiter?“ − Ja, es geht weiter, hätte aber mit einem Echo auf „aufwärts“ („upward“) natürlich auch „vorwärts“ („forward“) gehen können. Es geht in die Weite, in die Welt und ins Innere, ins Visionäre oder die Vergangenheit, und manchmal beides zugleich. Zum Beispiel in einem Gedicht mit dem Titel „Seitdem die Vögel nicht mehr zwitschern“ („After the Cries of the Birds“) aus dem Band Das geheime Innere der Dinge (The Secret Meaning of Things) von 1968, das so beginnt: „Die Ewigkeit durcheilend/ seitdem die Vögel nicht mehr zwitschern/ sehe ich die ‚Zukunft dieser Welt‘/ jetzt nur noch diffus erkennbar/ in Folk-Rock-Festsälen […]“. „Die Ewigkeit durcheilend/ zu einer neuen pastoralen Ära“ sieht das sprechende Ich „die Schatten jener Zukunft/ auf jener weißen Insel/ die als San Francisco im ihr fremden Meer schwimmt“, sieht „die Stadt als Insel/ flottiert endlich wirklich frei/ nie wirklich Teil Amerikas/ der Osten Osten und der Westen Westen/ und beyde trafen sich in alter Zeyt/ im ‚Wunsch dem nachzugehen was jenseits liegt des Geists‘/ und keinen Weg mehr weiß als den nach innen/ nachdem Kolumbus Amerika zurückgewonnen hatte“.
Längst nicht immer, wenn die Übersetzung dem Original ein wenig von der Seite weicht, lässt sich das so sinnig erklären wie beim Anfang von „Angefangen mit San Francisco“. Schon beim Titel von „Seitdem die Vögel nicht mehr zwitschern“ mag man sich fragen, warum die Vögel denn in der Übersetzung schon im Titel stumm sind, und ob sie davor wirklich nur friedlich gezwitschert haben. Wo es im Original heißt „after Columbus recovered America“ mag man sich fragen, warum Kolumbus Amerika „zurückgewonnen hatte“ (und nicht ‚hat‘) und ob er es denn wirklich „zurückgewonnen“ hätte. (Dass ein paar Verse später ganze Stämme, vielleicht etwas verharmlosend, am Horizont „abtauchen“ („disappear“), liegt daran, dass sie in Winklers Fassung später wieder „auftauchen“ („reappear“) sollen…)
Und es geht „weiter“ an fremde Orte, träumerisch und doch ganz gegenwärtig, wie hier in diesem Gedicht aus dem Band Offene Augen offenes Herz (Open Eyes, Open Heart, 1973):
Into Darkness, in Granada
O if I were not so unhappy
I could write great poetry!
Dusk falls through the olive trees
Federico García Lorca
leaps about among them
dodging the dark as it falls upon him
O if only I could leap like him
and make great songs
Instead I swing about wildly
as in a children’s
jungle gym
in a vacant lot by Ben Shahn
[…]
Von Granada in die Finsternis
Oh wäre ich nicht so entmutigt
was für tolle Lyrik könnte ich dann schreiben!
Dämmerung fällt durch Olivenbäume
zwischen ihren Stämmen
macht García Lorca große Schritte
um dem Dunkel auszuweichen wo es ihn erreicht
Oh könnte ich wie er mäandern
und große Lieder fabrizieren
Statt bloß von hier nach dort zu schwingen
wie ein Kind
in einem Indoordschungel
auf einem Brachgelände von Ben Shahhn
[…]
Hier fragt man sich dann vielleicht doch kurz, ob der Übersetzer sich wie das lyrische Ich „entmutigt“ und nicht zu „toller Lyrik“ im Stande zeigt – und das Gedicht damit in einem genialen Twist performativ-parodistisch umsetzt. Auch das Original setzt ja ein wenig ironisch an mit zwei Versen, die mit ihrem Rhythmus an den Anfang eines etwas abgeschmackten Kreuzreims denken lassen. Diesen Rhythmus bildet der Übersetzer im ersten Vers auch nach, der zweite verwässert dann aber. Doch die Übersetzung produziert auch andere Bilder als das Original: Die „children’s/ jungle gym“ wird nach „indoor“ verlagert und aus dem erwachsenen Dichter, der dort (bildlich gesprochen) und nicht ohne bittere Komik umherschwingt, wird in der deutschen Fassung selbst wieder ein Kind. Wer die Gemälde Ben Shahns nicht kennt, wird bei der Suche nach „Brachgeländen“ vermutlich nicht auf seine „Vacant Lots“ stoßen. Ob das „Ich“ noch mit den gleichen Gefühlen zu García Lorca aufblickt wie das „I“ im Original, wird durch die Auflösung der Wiederholung von „leap“ ein wenig fraglich („Federico García Lorca/ leaps about“ – „O if only I could leap like him“ vs. „macht García Lorca große Schritte“ – „Oh könnte ich wie er mäandern“).
In den letzten drei Versen des knapp einseitigen Gedichts wird dann „total darkness“ zum „Herz der Finsternis“, was beim Lesen in der rein deutschsprachigen Ausgabe schon ein wenig auf Abwege führt. Und in der Veränderung der Reihenfolge der Elemente verliert sich die klare Gliederung, die fast imagistisch wirkende bildliche Dichte und der dumpfe Aufprall im Banalen:
[…]
And paddle away slowly
into total darkness
in a Dove boat
[…]
Um schließlich auf der Dove
ins Herz der Finsternis
zu paddeln
Trotzdem funktioniert das Gedicht auf Deutsch für sich genommen − und die Abweichungen, die hier auffallen, sind auch konsistent mit Ron Winklers Herangehensweise insgesamt: der locker-leichte Umgang mit den Bildern, eine Lust zu spezifischeren, geschraubten Verben (hier „fabrizieren“ für „make“ und „mäandern“ für „leap“), die etwas weichere (manchmal auch verwässernde) Einbettung des Ganzen in mehr Wortmaterial.
Der genaue Blick zurück zum Original lässt diese übersetzerischen Strategien sichtbar und damit Winklers Stimme in der Begegnung mit Ferlinghetti deutlich hörbar werden. Es hätte, zumal in einer einsprachigen Ausgabe, auch etwas mehr Ferlinghetti sein dürfte. In jedem Fall ist das Buch ein Gewinn für diejenigen, die sich für das Werk des Dichters interessieren und mehr davon auf Deutsch entdecken möchten. Und auch wenn die Leichtigkeit, mit der Ron Winkler dieses riesige Projekt angegangen ist, und ohne die es vielleicht gar nicht umsetzbar gewesen wäre, manchmal ein recht leichtfertig daher kommt: Angefangen mit Sanfrancisco wird noch vielen Leser:innen Freude bereiten, ob sie Lawrence Ferlinghettis Gedichten zum ersten Mal oder nochmal neu begegnen – jetzt durch die Augen und in der Stimme des Dichters Ron Winkler.
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