Am 21. März werden die Preise der Leipziger Buchmesse vergeben, unter anderem in der Kategorie Übersetzung. Auf TraLaLit stellen wir die Nominierten vor. Alle Beiträge der Reihe sind hier zu finden.
Das Buch
Was bedeutet Krieg? Was macht es mit Menschen, ohne Vorwarnung angegriffen zu werden? Wenn Familien auf beiden Seiten der Front gespalten sind? Wie lebt man mit dem Hass und der Schuld weiter? Diesen Fragen spürt die russische Journalistin Katerina Gordeeva in Nimm meinen Schmerz. Geschichten aus dem Krieg (Унеси ты моё горе) nach.
Gordeeva hat jahrelang für das russische Fernsehen gearbeitet, emigrierte 2014 aus Protest gegen die Annexion der Krim nach Lettland und gilt in Russland als Ausländische Agentin. Mit ihrem Youtube-Kanal @skazhigordeevoy („Sag’s Gordeeva“) erreicht sie ein Millionenpublikum und erhielt 2022 den Internationalen Anna-Politkowskaja-Journalistenpreis. Die Hälfte ihrer Familie lebt in der Ukraine. „Der Staat, dessen Bürgerin ich bin, hat – formell also auch in meinem Namen – die Menschen angegriffen, die ich liebe.“ Sie beschloss, die Kriegsereignisse festzuhalten, und hat Gespräche mit Betroffenen aus der Ukraine und Russland zu einem wichtigen Zeitdokument zusammengestellt.
Die Rolle der Chronistin fällt Katerina Gordeeva schwer, schließlich hat ihr Land das unermessliche Leid verursacht. Auch für die Befragten sind die Gespräche ein schmerzhafter Prozess: „Wenn man erzählt, durchlebt man alles noch einmal. Das ist, als würde man ein Pflaster von einer offenen Wunde reißen, zusammen mit dem Fleisch. Ein höllischer Schmerz.“ Manche verhehlen ihre Feindseligkeit gegenüber der russischen Journalistin nicht, viele teilen trotzdem ihre Geschichte mit ihr: Tanja, die in Mariupol ihre gesamte Familie verloren hat und sich fragt, wozu sie als einzige überlebt hat. Yulia, der ein Bombensplitter aus dem Nacken ragt und die lacht, um nicht weinen zu müssen. Danila, der ungeduldig auf eine Prothese für sein linkes Bein wartet. Inga, die pausenlos bügelt und doch ihr Leben nicht mehr glattbügeln kann. Sie alle unterbrechen ihre Erzählung immer wieder, um zu fragen: „Verstehen Sie?“ Aber die Grauen des Krieges sind nicht zu verstehen, wenn man sie nicht selbst erlebt hat. Und vermutlich nicht einmal dann.
Nimm meinen Schmerz darf in Russland nicht erscheinen und wurde im lettischen Exilverlag von Meduza veröffentlicht. Es packt große Themen wie Trauer, Entwurzelung und den Verlust der Menschlichkeit in persönliche Geschichten und macht sie damit ein Stück greifbarer.
Die Jury-Begründung
Die Journalistin Katerina Gordeeva begleitet seit Beginn des russischen Angriffskriegs Menschen aus der Ukraine und Russland. Für ihr Buch hat sie die Interviews zu Erzählungen in der Tradition von Swetlana Alexijewitsch verdichtet. Die Übersetzerin Jennie Seitz macht die verstörenden Erfahrungen eindringlich lesbar. Dabei sind die Stimmen in Ton und Sprechweise präzise unterschieden. Die Übersetzung entwickelt eine beeindruckende literarische Ausdruckskraft, um Angst und Schmerz zu dokumentieren.
Die Übersetzung
Jennie Seitz übersetzt seit vielen Jahren für das preisgekrönte Informationsportal Dekoder und ist damit prädestiniert als Vermittlerin von Gordeevas nachdenklichen Reportagen. Auch auf Deutsch lesen sich die Kriegsberichte mit großer Eindringlichkeit, trotz der sachlichen Beschreibungen spürt man auf jeder Seite die persönliche Betroffenheit und Hilflosigkeit der Autorin, wie beim Treffen mit einer Überlebenden aus Butscha:
Я знаю, что Ирина из Бучи. Я готовилась к этому разговору, но не придумала, как начать.
Спросить: как вы это пережили?
Спросить: как вам удалось вывести собаку?
Спросить: много ли дорогих вам людей осталось в Буче?
Спросить: что должго случиться, чтобы вы туда вернулись?
Спросить: вы вообще вернетесь?
Спросить: может, все это вообще неправда? (…)
Нет ни одного вопроса, с которого в действительности можно было бы начать этот разговор.
Ich weiß, dass Iryna aus Butscha kommt, aber während der Vorbereitung auf das Interview ist mir keine Frage eingefallen, mit der ich das Gespräch beginnen könnte.
Soll ich vielleicht fragen: Wie haben Sie das überlebt?
Oder: Wie haben Sie es geschafft, Ihren Hund mitzunehmen?
Oder: Sind noch viele von Ihren Angehörigen in Butscha?
Oder: Was müsste passieren, damit Sie dorthin zurückkehren?
Oder: Kehren Sie überhaupt jemals zurück?
Oder: Ist das überhaupt alles wahr? (…)
Es gibt keine Frage, mit der man dieses Gespräch richtig beginnen könnte.
Besonders erbittert sind die Menschen angesichts der absurden Zufälligkeit des Todes. Als die Russischlehrerin Raja mit ihrer Familie auf der Flucht vor Bomben das Haus verlässt, liegen auf einmal ihr Mann und ihre Tochter, von einem russischen Geschoss getroffen, schwarz verkohlt neben ihr auf der Straße.
Понимаете, это ведь не в нас стреляли, вы понимаете меня? Это ведь случайность. Там мог быть кто угодно. Что это, скажите, за война, когда может быть кто угодно, за что нам это? За что вы с нами это все сделали?
Verstehen Sie, sie haben nicht auf uns geschossen, ist Ihnen das klar? Es war Zufall. Es hätte jeden treffen können. Was ist das für ein Krieg, wenn es jeden treffen kann? Womit haben wir das verdient? Warum habt ihr uns das alles angetan?
Wie soll man solche Erfahrungen jemals verkraften? Wie kann man sich wieder ein normales Leben aufbauen, nachdem man alles verloren hat? Und warum hat Russland sein Nachbarland überhaupt angegriffen? Fragen, auf die Gordeeva keine Antwort hat. Nur eins wird klar: die furchtbare Sinnlosigkeit des Krieges.
Manchmal ist die Übersetzung glatter als das Original. In einem russischen Aufnahmelager trifft Gordeeva auf Yulia mit dem Bombensplitter, die ihre Vergangenheit hinter sich lassen will, um wenigstens ihrem kleinen Sohn eine Zukunft zu sichern. Auf die Frage, warum sie ausgerechnet ins Aggressorland geflüchtet ist, antwortet sie, dass sie in Europa ohne Fremdsprachenkenntnisse aufgeschmissen wäre: а я там ни бе ни ме (wörtlich „da kann ich weder Bäh noch Mäh“, sinngemäß „keinen Pieps verstehen“). Die Übersetzung „Dort bin ich stumm wie ein Fisch“ ist inhaltlich korrekt, hebt die Replik jedoch sprachlich leicht an. Dasselbe gilt für Yulias derbes а херушки, das zum braven „Das könnte euch so passen“ wird. Überzeugender wirkt die Figurenrede, wenn sich die Übersetzung dem teils umgangssprachlichen Duktus des Originals annähert. Dann kommt auch bei Yulia der ohnmächtige Zorn durch, der sich unter der Maske der abgebrühten Kämpferin verbirgt:
Мне насрать, кто прав, кто виноват, что там вообще случилось. (…)
А какая правда? Что будет, если я ее скажу? Мы войну с тобой остановим? Всех плохих накажем, а хорошие домой вернутся, если они живые? Никому не нужна твоя правда. Нам надо жить. И все.
Ich scheiß drauf, wer recht hat und wer schuld ist, was dort überhaupt passiert ist. (…)
Was ist schon die Wahrheit? Was ändert das, wenn ich sie sage? Werden wir beide den Krieg aufhalten? Alle Bösen bestrafen, und die Guten kommen nach Hause, wenn sie überhaupt noch leben? Niemand braucht deine Wahrheit. Wir müssen leben. Punkt.
Ganz nebenbei zeigen die Gespräche die historischen und kulturellen Gemeinsamkeiten, die Russland und die Ukraine verbinden. Beide Länder sind von ihrer sowjetischen Geschichte geprägt, in so mancher organisatorischen Bezeichnung finden sich noch sowjetische Relikte. Bis vor Kurzem waren beiderseits der Grenze dieselben Filme und Fernsehsendungen populär, und die legendäre Comedy-Show KVN kennt im russischen Sprachraum jedes Kind. Seitz löst die Abkürzung geschmeidig mit „lustige Sketche“ auf und macht aus dem für deutsche Ohren viel zu offiziösen „sie war für die kulturelle Massenarbeit zuständig“ das neutrale „Kulturveranstaltungen organisieren“:
Она в школе завучем работала, за культмассовый сектор отвечала: концерты, мероприятия, она детям шутки в квн придумывала.
Sie war stellvertretende Schulleiterin, hat Kulturveranstaltungen organisiert. Konzerte, Veranstaltungen, hat für die Kinder lustige Sketche geschrieben.
Der souveräne Umgang mit solchen Kulturspezifika verlangt gründliche Recherche und ein breites Hintergrundwissen. Das braucht Seitz auch für die knappen Erklärungen, die sie bei Bedarf hinzufügt – etwa um die bittere Ironie anklingen zu lassen, dass der Name Raja vom Wort für „Paradies“ abgeleitet ist und ihre Eltern sie so genannt haben, weil sie ein paradiesisches Leben haben sollte.
An manchen Stellen strafft Jennie Seitz den Text rigoros. Das ist nachvollziehbar, wenn es um die Bedeutungsverschiebung eines russischen Wortes oder lexikalische Ähnlichkeiten im ukrainisch-russischen Grenzgebiet geht – solche Erklärungen wären nur umständlich wiederzugeben und hätten im Deutschen wenig Mehrwert. Auffällig ist jedoch, dass auch Wortwiederholungen gekürzt bzw. variiert und zuweilen sogar ganze Absätze gestrichen werden. Im Deutschen endet die Geschichte von Tanja aus Mariupol mit den Worten: „Ich weiß nicht, warum ich lebe, wozu ich überlebt habe und wie ich weiterleben soll. Wenn Sie wollen, können Sie meine Geschichte für Ihr Buch nehmen.“ Auf Russisch geht die Geschichte noch weiter und erzählt davon, dass Tanja aus Deutschland nach England emigriert ist und nun dort versucht, die Vergangenheit hinter sich zu lassen. Der Gesamtwirkung tun diese Kürzungen jedoch keinen Abbruch – im Gegenteil, der deutsche Text gewinnt durch die Variationen und Kondensierungen an Eindringlichkeit.
Die Menschen in diesem Buch sind nicht nur „Heldinnen und Helden“ im literarischen Sinne, sondern auch im wahren Leben. Sie alle bringen tagtäglich die Kraft auf weiterzumachen, obwohl ihnen jede Normalität, die Heimat und oft auch die Familie genommen wurden. Die Stärke von Gordeevas Text liegt darin, dass sie den Schmerz auf beiden Seiten zeigt, ohne die Schuld zu relativieren. Jennie Seitz nimmt diesen Schmerz behutsam auf und lässt ihn auch im Deutschen spürbar werden. Nicht damit wir den Krieg besser verstehen, aber zumindest das Leid, das er verursacht.
Lieblingsstelle
Die Tränen einer Mutter sind überall salzig. Bei uns wie bei ihnen. Niemand hat sein Kind zur Welt gebracht, damit es in den Tod geschickt wird. Niemand, glaub mir. Niemand.