In der Reihe „Mein erstes Mal“ berichten Übersetzer:innen von ihrer ersten literarischen Übersetzung. Sie plaudern aus dem Nähkästchen, berichten von den Leiden des jungen Übersetzer:innenlebens und verraten, in welche Falle man als Anfänger:in bloß nicht tappen sollte. Alle Beiträge der Reihe sind hier nachzulesen.
Meine ersten Idole der niederländischsprachigen Literatur waren Frans Kellendonk und Tom Lanoye: Der Niederländer und „ungläubige Katholik“ Kellendonk (1951–1990), weil er es bei vollem postmodernen Bewusstsein wagte, die großen moralischen „Fragen des Lebens“ zu stellen, ein Anspruch, der bei der jüngeren Schriftstellergeneration der 70er und 80er Jahre alles andere als selbstverständlich war. Der Flame Tom Lanoye (* 1958) begeisterte mich, weil hier ein junger Autor der Punk- und Comic-Generation mit viel Witz und durchaus klassisch zu Herzen gehend damals noch wenig behandelte Themen wie die erwachende homosexuelle Liebe von Teenagern behandelte, aber auch in satirischer Form von modernen gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen im für mich unerhört exotischen Belgien erzählte.
Von beiden Autoren hatte ich schon während des Studiums der Germanistik, Romanistik und Niederlandistik – wobei ich die Romanistik nach dem Grundstudium 1988 aufgab – einige Erzählungen übersetzt, einfach, um zu sehen, ob ich es konnte und ob mir das Ergebnis gefiel. Schließlich meinte ich, mir seit Beginn des Hauptstudiums, spätestens seit meiner Rückkehr von einem Auslandsjahr in Amsterdam von 1989 bis 1990, nun doch überlegen zu müssen, was ich mit meinem Studium einmal anfangen wollte. Eine zweite Option, Deutsch als Fremdsprache – etwa beim Goethe-Institut – und das Organisieren kultureller Veranstaltungen schien irgendwie keine rechte Gestalt annehmen zu wollen, und so verlegte ich mich innerlich mehr und mehr aufs Übersetzen.
Ein großer Glücksfall war dabei für mich die Frankfurter Buchmesse 1993 mit dem Schwerpunktthema „Niederlande und Flandern“ – plötzlich wollten alle deutschen Verlage zumindest einen Titel aus dem niederländischen Sprachgebiet im Portfolio haben und die Nachfrage nach ÜbersetzerInnen war auf einmal größer als das Angebot schon damals angesehener Kolleginnen wie z. B. Maria Csollány, Rosemarie Still oder Helga van Beuningen.
Kurz zuvor hatten wir in einem Niederlandistik-Seminar zudem den Roman Kartonnen Dozen von Tom Lanoye behandelt, der 1991 bei Prometheus in Amsterdam erschienen war, der mich hinriss und in dem ich viel von mir selbst wiedererkannte: Eigentlich braver Junge und Mamakind verliebt sich in Mitschüler unter Bedingungen der 70er und 80er Jahre zwischen Aufbruch und im Alltag noch immer verkrusteten Strukturen, all das im Spannungsfeld zwischen ziemlich intakter Familie (mit gleichwohl starken Persönlichkeiten) und Angst vor Verlust der familiären Geborgenheit, eingebettet in ein ganz normales Schülerleben mit Bildungserlebnissen, skurrilen Lehrern und Klassenfahrten. Dass ich das alles kurzfristig – auch noch für Geld! – würde übersetzen können, daran wagte ich noch nicht mal zu denken. Und so kam der praktische Anstoß, mich ganz frech um die Übersetzung dieses Buchs zu bewerben, von meinem Dozenten Wim Hottentot, der mir Mitte 1992 den Tipp gab, dass die Rechte des Buchs vom deutschen Claassen Verlag (damals in Hildesheim) gekauft worden waren, und der mir Mut machte. Als Referenz konnte ich immerhin die schon genannten Übersetzungen einiger – nun ja: zwei, glaube ich – Geschichten von Tom Lanoye vorlegen, die in Ton und Setting ziemlich nah mit dem Roman verwandt waren. Diese gefielen der damals zuständigen Lektorin, und ich bekam meinen ersten Auftrag aus einer Mischung von Glück, ein bisschen Talent, viel Begeisterung und einem gewissen bereits geleisteten Einsatz.
Das damals gezahlte Honorar von 27,00 DM pro Normseite war aus heutiger Sicht sogar ganz anständig, ergibt dies inflationsbereinigt im Jahr 2021 doch ca. 22 Euro und liegt damit kaum unter dem, was ich und die meisten eingesessenen KollegInnen inzwischen als eigenen Normtarif durchsetzen können (22–24 Euro). Reich oder auch nur wohlsituiert bin ich vom Übersetzen trotz einiger angesehener Autoren wie Arnon Grünberg und Dimitri Verhulst jedenfalls nicht geworden. Aber zurück zu meinem ersten Auftrag: Zeitlich kollidierte der mit meiner Magisterarbeit, so dass ich lange Arbeitstage hatte, um zunächst die einigermaßen fertig zu bekommen, bevor ich ca. zwei Monate an der Übersetzung des Romans (ungefähr 200 Normseiten) arbeitete, um mich dann – mit kleinen Unterbrechungen – wieder dem Abschluss meines Studiums widmen zu können.
Während des Übersetzens machte ich natürlich viele Anfängerfehler, etwa, indem ich dachte, wenn ich alle Teile eines Originalsatzes in einen irgendwie stimmigen Satz auf Deutsch gebracht hatte, sei meine Aufgabe erledigt. Wie stolz war ich, an einem einzigen Tag volle 10 Seiten übersetzt zu haben, und wie enttäuscht, wenn ich das Ergebnis am nächsten Tag noch einmal durchlas! Erst bei späteren Büchern lernte ich nach und nach, dass die Übersetzung eines Satzes, Absatzes, einer Seite usw. eigentlich nie gleich von Anfang an fertig ist, dass 5 Seiten pro Arbeitstag von 8–10 Stunden schon eine gute Leistung sind und dass man immer mit mehreren Korrekturrunden rechnen muss, ohne zu verzweifeln oder sich gleich unfähig zu fühlen.
Ein weiteres Problem meiner ersten Versuche war sicher auch falsche Wörtlichkeit bzw. die „Genievermutung“, dass ein bestimmter Ausdruck eine besonders originelle Wendung des Autors sein sollte, die ich nur allzu häufig entsprechend wörtlich übersetzte, ohne einfach mal im Wörterbuch nachzusehen und dabei ggf. zu entdecken, dass es sich bei der Wendung um einen ganz alltäglichen Ausdruck oder ein Wort handelte, die entsprechend ebenso unauffällig übersetzt werden sollten. (Später habe ich aus dieser Erfahrung die von mir so genannte „Normalitätshypothese“ entwickelt: Im Zweifelsfall, wenn sich keine Originalität nachweisen und zudem die Funktion einer normabweichenden Ausdrucksweise erklären lässt, wollen auch literarische AutorInnen sich so ausdrücken, dass beim betreffenden Ausdruck nicht um die Ecke gedacht werden muss.)
Um ein Beispiel für diese falsche Wörtlichkeit nebst Genievermutung zu geben, muss ich kurz eine bestimmte Situation im Buch schildern1: Die Klasse des Ich-Erzählers Tom befindet sich auf der für Schüler eines humanistischen Gymnasiums obligatorischen Klassenfahrt nach Griechenland, vom Lehrer tagsüber ganz in die Welt der griechischen Helden hineinversetzt. Am Abend nun sitzen die jungen Helden in einem griechischen Restaurant in etwas, das im niederländischsprachigen Original „gelagzaal“ heißt. Witzig natürlich, dass sie sich bei Gyros, Zaziki und Orangenlimonade gleich in einem antiken Gelage wähnen, vielleicht aber auch ein sarkastischer Kommentar auf das sonst als reichlich abscheulich beschriebene Essen in solchen Touristenfallen. Wie auch immer, ich übersetzte den „gelagzaal“ meiner Meinung nach ganz stimmig als „Gelagesaal“ und freute mich darüber, dass ich – noch dazu mit so einfachen Mitteln – die gleiche Ironie wie das Original auch auf Deutsch rüberbringen konnte. Wie groß aber meine Enttäuschung und Verlegenheit, als ich lange nach Erscheinen der Übersetzung entdeckte, dass das niederländische „gelagzaal“ auf Deutsch ganz normal „Gastraum“ oder „Speisesaal“ bedeutet. Ein Blick ins Wörterbuch hätte mich schon damals vor dem Fehler bewahren können, aber ich war ja so sicher, dass ich alles verstand und dem Autor auch in die verzwicktesten Windungen seiner sublimen Ironie folgen konnte! Höchst witzig waren die Restaurantbeschreibungen ja trotzdem, etwa gleich am Anfang der Klassenfahrt: „Langsam begriff ich, warum es in griechischen Restaurants Sitte geworden war, die Teller zu zerschlagen. Weniger begriff ich dagegen, warum man damit wartete, bis die Teller leer waren.“
Wenig hilfreich – weil es mich angesichts all dieser Probleme noch mehr durcheinander brachte – waren übrigens Anrufe wie die eines Verlagsmitarbeiters, der mich fragte: „Es soll in dem Buch ja auch um eine Liebesgeschichte zwischen zwei Jungen gehen – aber das steht doch nicht im Vordergrund, oder?“ (Doch!) Das gab mir erste Zweifel ein, ob die Verlage immer wissen, was für ein Buch sie da eigentlich eingekauft haben. Nicht immer, würde ich heute sagen, ein Gespräch mit dem Lektorat VOR Beginn der Übersetzung ist da meiner Erfahrung nach stets zu empfehlen. Was die Pappschachteln angeht (so der vom Lektorat ausgedachte Titel des Buchs), war es für den guten Mann nun aber zu spät, das Buch noch abzusagen und ggf. ein anderes zu finden, und es spielte beim späteren Lektorieren durch andere MitarbeiterInnen glücklicherweise auch keine Rolle, mein erster Auftrag war also gerettet: Manchmal versuchen Lektorate, die ein Schweineohr à la Charles Bukowski eingekauft haben, dies beim Redigieren in ein Seidentäschchen à la (können die Lesenden dieses Beitrags sich bestimmt selbst vorstellen) zu verwandeln, etwa, indem sie harte Ausdrücke abschwächen oder aus einer neutralen Mitteilung eine witzige Formulierung machen möchten. Dies war beim launig moussierenden Stil Tom Lanoyes in diesem Roman aber auch gar nicht nötig. Wenigstens der Stil des Originals erfüllte offenbar voll die Erwartungen des Verlags. Übrigens ein kurzes Wort noch zum Titel: PappKARTONS (wie „Schuhkartons“), also genau die Art „Schachteln“, in denen man Fotos und Erinnerungen aufbewahrt, um die es im Roman geht, hätte ich eigentlich die viel bessere Lösung gefunden, aber das Recht der Titelfindung liegt nun mal vertraglich in der Regel beim Lektorat, besser findet man/frau als ÜbersetzerIn sich gleich damit ab, macht einen sinnvollen Vorschlag und überlässt den Rest dem Verlag.
Viel, wenn auch nicht alles (siehe oben) lernte ich einige Monate vor dem Feedback des Lektorats bei einem von Tom Lanoye organisierten Treffen in Antwerpen: Ich zahlte die Fahrt – für mich als Lokführerkind damals gar kein Problem –, Tom sorgte für die Unterkunft in seiner alten Wohnung in der Schildersstraat, wo wir zusammen mit Luc van Doorslaer (damals Lehrer an einer örtlichen Übersetzerschule und im Gegensatz zum Autor guter Kenner des Deutschen) einige Tage lang intensiv die komplette Übersetzung durchsahen. Einige von mir gefundene Lösungen konnte ich schon damals gut verteidigen, an vielen Stellen aber fanden wir nach Vergleich der jeweiligen Originalbedeutung einer Wendung und der zugehörigen Absicht des Autors mit der deutschen Übersetzung eine neue, treffendere Lösung. Auch durch die zeitliche Distanz zu meiner ursprünglichen Version gelang es mir so, dem Verlag kurz darauf eine stark verbesserte und berichtigte Fassung der Übersetzung zu schicken. Dieser Gratis-Crashkurs in genauem Übersetzen und im Stil Lanoyes ist wohl das größte Geschenk, das ich als Übersetzer je bekommen habe …
Manchmal bin ich aber auch ganz froh, dass ich in der ersten Übersetzungsrunde z. T. überhaupt nicht wusste, was ich da alles übersehen hatte. Hätte ich es sofort erfahren, hätte mich das wahrscheinlich so frustriert, dass ich das Übersetzen gleich wieder aufgegeben hätte. Naiv hangelte ich mich mit umso größerem Enthusiasmus und Liebe zum Buch letztlich über allerlei Probleme hinweg. Die Fehler ließen sich ja später verbessern – ein großer Dank nochmal an den Autor, Luc van Doorslaer, und das deutsche Lektorat von Elmar Kreihe und seiner Kollegin, deren Name mir leider entfallen ist. Die Liebe merkt man der Übersetzung heute noch an, jedenfalls ist es bei allen Anfängerfehlern eine der Übersetzungen, auf die ich auch heute noch stolz bin.