
Louis Cha Leung-yung (1924–2018), bekannt unter dem Pseudonym Jin Yong, ist einer der berühmtesten und wichtigsten chinesischen Autoren der Neuzeit. 1955 begann er, seine eigene Wuxia-Welt zu prägen. Wuxia, ein zentraler Begriff in der chinesischen Kultur, setzt sich aus den Bestandteilen Wu und Xia zusammen. Wu kann man normalerweise direkt als Kung Fu verstehen, Xia hingegen bezeichnet jemanden, der mutig, ehrlich und hilfsbereit ist, unabhängig von Beruf, Reichtum oder sozialem Status. Deshalb bezieht sich Wuxia auf die Geschichten und den Geist eines Xia, der Kung Fu beherrscht. Insgesamt schrieb Jin Yong 15 Wuxia-Romane, die in viele Sprachen übersetzt und weltweit verkauft wurden. Sein bekanntestes Werk ist die Romanserie《射雕英雄传》, die auch oft als „chinesischer Herr der Ringe“ bezeichnet wird. Sie wurde mehrmals verfilmt und 2018 ins Englische übersetzt. 2020 erschien Band 1 zum ersten Mal auch auf Deutsch, übersetzt von Karin Betz unter dem Titel Die Legende der Adlerkrieger (Heyne).
Karin Betz, Jahrgang 1969, hat in Frankfurt am Main, Chengdu und Tokio Sinologie, Philosophie und Politikwissenschaften studiert. Seit 2008 übersetzt sie chinesische Literatur, hauptsächlich von den Bestsellerautoren Liu Cixin, Liao Yiwu und Mo Yan. Die Adlerkrieger halten übersetzungstechnisch viele Herausforderungen bereit, für die Karin Betz wunderbare Lösungen gefunden hat (und die sie im TOLEDO-Journal Über die Kinetik von Namen, Körpern und Kulturen so eingehend wie unterhaltsam kommentiert). Dank ihrer Übersetzung können nun auch deutsche Leserinnen und Leser in den Genuss dieses spannenden Wuxia-Klassikers aus China kommen.
Im Roman geht es um einen gewöhnlichen Jungen, der zu einem echten Xia heranwächst. Insgesamt umfasst der Roman 40 Kapitel, und das Original mit 1383 Seiten wurde in vier Bänden veröffentlicht. Analog besteht auch die deutsche Übersetzung des ersten Bandes aus 10 Kapiteln, von denen insbesondere die ersten beiden hier besprochen werden.
Kapitel 1, Ein folgenreicher Schneesturm, gliedert sich in drei Hauptteile. Zuerst werden die historischen Hintergründe (die konkurrierenden Reiche der Song und Jin) und Hauptfiguren (die Ehepaare Guo und Yang) kurz vorgestellt, dann tritt der Daoist Qiu auf. Das Kennenlernen und die Freundschaft zwischen Qiu und den beiden Ehepaaren, die Konflikte zwischen Qiu und Soldaten der Jin-Regierung deuten die folgende Tragödie bereits an. Einige Monate, nachdem Qiu sich von den beiden Ehepaaren verabschiedet und seine eigene Reise fortgesetzt hat, werden Guo und Yang von Soldaten der Song-Regierung verhaftet. In der Verwirrung werden die beiden Männer getötet. Guos Frau wird vermisst, während Yangs Frau von einem Prinzen des Jin-Reichs gerettet wird.
Im Vergleich zu Kapitel 1 ist die Handlung des zweiten Kapitels klar und geradlinig. Es besteht hauptsächlich aus zwei Kampfszenen – eine in einem Gasthaus und eine in einem Tempel – und beschreibt die Missverständnisse zwischen dem Daoisten Qiu und sieben Kung Fu-Meistern, die in den folgenden Kapiteln noch eine wichtige Rolle spielen, in der Stadt Lin’an.
Das Original wurde in den Jahren 1957 bis 1959 verfasst. Deshalb unterscheidet sich der Stil von manchen anderen modernen chinesischen Romanen, die in den letzten 40 Jahren veröffentlicht wurden. Denn seit der Reform- und Öffnungspolitik in den 1980er Jahren entwickelte sich bei chinesischen Romanen der Trend, einerseits immer vielfältigere Themen zu behandeln und andererseits eine immer einfachere Formulierungsweise zu verwenden, um ein größeres Publikum zu erreichen. Ein stilistisches Merkmal von Jin Yongs Original ist die große Menge chinesischer Kulturspezifika und traditioneller Sitten, wie z. B. bei der Begrüßung. Im alten China ist 抱拳 ein üblicher traditioneller Gruß. In der Übersetzung wird diese Sitte zu Recht viel genauer und konkreter als im Original beschrieben. Wortwörtlich bedeuten diese zwei Schriftzeichen nur, die Faust einer Hand vor der Brust in die andere Handfläche zu legen. Im Vergleich dazu expliziert die Übersetzung die Rolle jeder Hand, denn die chinesische Grußform ist für deutsche Leserinnen und Leser relativ fremd. Außerdem würde eine falsche Grußform (wenn man die linke statt der rechten Faust verwendet) eine Provokation bedeuten.
郭啸天抱拳
Guo grüßt höflich, indem er die Faust der rechten Hand vor der Brust in die linke Handfläche legte.
Neben solchen Kulturspezifika, bei denen Karin Betz nach eigenen Worten „ständig auf der Suche nach der richtigen Balance zwischen willkommener und störender Fremdheit“ ist, hält auch die (klassischen chinesischen Romanen ähnelnde) Formulierungsweise des Originals Übersetzungsprobleme bereit. Einerseits werden viele altertümliche Wörter und Formulierungen verwendet, wie z. B. 宝刹, eine obsolete Formulierung für Tempel oder Kloster. Andererseits ist es auch eine typische Besonderheit chinesischer Klassiker, dass die Formulierungen viel kürzer (das heißt, mit weniger Schriftzeichen) als in modernen Werken ausfallen. Karin Betz erweitert und erklärt die kurzen Sätze und macht dadurch die Übersetzung leichter verständlich:
丘处机举起左手为礼,说道:“适才贫道到宝刹奉访,寺里师父言道,大师邀贫道来醉仙楼相会。贫道心下琢磨,大师定是请下好朋友来了,果然如此。久闻江南七侠威名,今日有幸相见,足慰平生之愿。”
Respektvoll hob Qiu Chuji die freie Hand zum Gruß. „Meine Wenigkeit war zuerst beim Kloster, wo man mir berichtete, Abt Jiaomu erwartet mich im Garten der trunkenen Unsterblichen. Ich nahm an, dass Ihr nicht allein mit mir trinken wolltet, ehrenwerter Bruder. Und ich sehe, dass ich recht hatte. Euer Ruhm eilt Euch voraus, verehrte Helden des Südens. Ich schätze mich glücklich, Euch persönlich kennenzulernen. Für mich geht ein lang gehegter Wunsch in Erfüllung.”
Zwar geht für die Leserinnen und Leser dadurch ein wesentlicher Aspekt des Originalstils verloren, doch zugleich hilft die Übersetzung allen, die sich nicht oder nur wenig mit chinesischen Wuxia-Romanen auskennen, die Handlung besser zu verstehen.
Im Original drückt der Autor bestimmte Handlungen oder Gefühle bevorzugt in sehr kompakter Form mit Gedichten aus, die zu einem wichtigen Teil der Handlung werden:
小桃无主自开花,(hua)
烟草茫茫带晚鸦。(ya)
几处败垣围故井,(jing)
向来一一是人家。(jia)
Die Pfirsichbäume, besitzerlos, öffnen ihre Blüten.
Die Tabakfelder, brach und weit, locken die Krähen.
Am alten Brunnen inmitten verfall’ner Mauern,
Sah man einst Familien zusammenstehen.
Das Gedicht, das aus vier Versen und 28 Schriftzeichen besteht und typisch für die klassische chinesische Literatur ist, beschreibt, wie negativ das Leben der einfachen Leute durch die Kriege beeinflusst wurde. Die Übersetzung ist der Übersetzerin gut gelungen. Zum einen behält sie die Form von vier Versen bei und drückt die Bedeutung des Originals aus, zum anderen berücksichtigt sie auch die Reime am Ende jedes Verses.
阴世新添枉死鬼
阳间不见少年人
花容月貌无双女
惆怅芳魂赴九泉。
Das Jenseits empfängt eine arme Seele, das Diesseits ist eines jungen Menschen beraubt.
Schön wie die Blumen und das Mondlicht, wanderte die untröstliche Seele hinter die neun Quellen.
Dieses Gedicht erzählt davon, wie ein Soldat der Jin-Regierung ein Han-Mädchen kaltblütig tötet. Leider hat die Übersetzung dieses Gedichts gewisse Mängel. Die Wendung 九泉 (die neun Quellen) bedeutet im Chinesischen „Hölle und Tod“. Es wäre vielleicht besser gewesen, eine Fußnote zu ergänzen anstatt diese Bedeutung von 九泉 nur in den Anmerkungen am Ende der Übersetzung zu erwähnen. Ein anderer Nachteil liegt darin, dass in der Übersetzung des Gedichts der lyrische Aspekt verloren geht.
Die anschauliche Schilderung komplizierter Kampfszenen sind ein weiteres typisches Merkmal des Buchs. Eine Stärke des Autors ist, Schritt für Schritt durch genaue Beschreibungen die aufregende Kampfszene zu visualisieren. Die Übersetzung beschreibt alle wichtigen Bewegungen der Figuren im Kampf und vermittelt auch den schnellen Rhythmus des Originals. Dadurch kann man sich beim Lesen hervorragend in die angespannte Atmosphäre und das Verhältnis der beiden Figuren einfühlen.
那道人见一瞬间枪尖已到面门,叫声:“好枪法!”双掌合拢,啪的一声,已把枪尖夹在双掌之间。杨铁心猛力挺枪往前疾送,竟纹丝不动,不由得大惊,奋起平生之力往里回夺,枪尖却如已铸在一座铁山之中,那里更拉得回来?他胀红了脸连夺三下,枪尖始终脱不出对方双掌挟持。那道人哈哈大笑,忽然提起右掌,快如闪电般在枪身中间一击,格的一声,杨铁心只觉虎口剧痛,急忙撒手,铁枪已摔落雪地。
„Ausgezeichnet!“, spottete der Daoist und schlug die Hände so schnell zusammen, dass er die Speerspitze dazwischen einklemmte, bevor sie ihn erreichte. Yang Tiexin stieß mit aller Kraft zu, doch der Speer bewegte sich keinen Deut. Entsetzt versuchte er, den Speer zurückzuziehen, doch auch das gelang ihm nicht. Der Speer schien festzustecken wie unter einem Berg. Mit hochrotem Kopf zerrte Yang Tiexin an der Waffe, doch sie wollte den Händen des Daoisten nicht entgleiten. Der lachte schallend, dann sauste blitzschnell seine rechte Hand auf den Griff des Speers und die Stelle zwischen Yang Tiexins Daumen und Zeigefinger wurde sofort taub. Der Speer fiel ihm aus der Hand in den Schnee.
Auch Namen spielen eine zentrale Rolle, denn, so Karin Betz im TOLEDO-Journal: „Namen sind in diesem Roman an keiner Stelle Schall und Rauch, sie sprechen für sich, erzählen von Biographien, Beziehungen oder Fähigkeiten. (…) Abgesehen von endlosen Recherchen und kreativer Namensfindung stellt sich immer wieder neu die Frage: Übersetzen oder nicht?“ Bei den Spitznamen der Figuren, die für deutsche Leserinnen und Leser fremd und schwer verständlich sind, hat die Übersetzerin gute Lösungen gefunden, indem sie die wörtliche Übersetzung der Beinamen mit den Berufen und Identitäten der Figuren kombiniert:
飞天蝙蝠 柯镇恶
妙手书生 朱让
马王神 韩宝驹
南山樵子 南希仁
笑弥陀 张阿生
闹市侠隐 全金发
越女剑 韩小莹
Ke Zhen’e, der Bezwinger allen Übels, genannt Fliegende Fledermaus
Zhu Cong, der Gelehrte, genannt Wunderhand
Han Baoju, der Reiterkönig, genannt Hüter der Ställe
Nan Xiren, der Holzhacker, genannt Holzfäller der südlichen Berge
Zhang Ahsheng, der Metzger, genannt Lachender Buddha
Quan Jinfa, der Herrliche, genannt Heimlicher Held des Marktplatzes
Han Xiaoying, die Fischerin, genannt Meisterin des Yue-Schwerts
Es ist keine leichte Aufgabe, einen chinesischen Wuxia-Roman mit klassischen Stilelementen ins Deutsche zu übersetzen. Karin Betz hat diese Herausforderung souverän bewältigt. Auch ihre Anmerkungen am Ende der Übersetzung leisten einen Beitrag dazu, dass die Leserinnen und Leser die Romanhandlung und die Kulturspezifika aus dem alten China besser verstehen können. Mithilfe der schönen Übersetzung der Kampfszenen kann man die Faszination von Wuxia-Romanen und Kungfu wahrhaft genießen. Es ist nicht zu vermeiden, dass der klassische Stil des Originals nicht völlig ins Deutsche transportiert werden kann. Aber mit dieser ersten deutschen Übersetzung von Jin Yongs Wuxia-Klassiker hat Karin Betz eine Pionierleistung vollbracht, die als wunderbares Vorbild für weitere Übersetzungen in diesem Genre dienen kann.
Vor kurzem ist mit Der Schwur der Adlerkrieger auch der zweite Band erschienen, dessen Entstehungsgeschichte man ebenfalls in einem eigenen TOLEDO-Journal nachlesen kann.