Das Schlacht­hof­pro­le­ta­ri­at

Joseph Ponthus gibt in „Am laufenden Band“ Einblicke in das ausbeuterische System des Fleischerei-Kapitalismus. Claudia Hamm und Mira Lina Simon haben den Versroman nahezu perfekt übersetzt. Von

Cover "Am laufenden Band" von Jospeph Ponthus auf einem blauen Hintergrund mit totem Fisch
Der Protagonist des Romans "Am laufenden Band" arbeitet in Fischfabriken und Schlachthöfen. Hintergrundbild: Michael & Diane Weidner via Unsplash.

Kein Ort ist furcht­ba­rer als ein Schlacht­haus. In den Hal­len hängt der Tod am Flei­scher­ha­ken. Dort herrscht die Dik­ta­tur der Stech­uhr, die die Aus­beu­tung der Arbeiter:innen uner­bitt­lich tak­tet. Den Außen­ste­hen­den ist das Innen­le­ben der Fleisch­fa­bri­ken ein Rät­sel. Wann erfährt man schon etwas dar­über, wie es ist, Rin­der, Schwei­ne und Hüh­ner im Akkord zu töten? Höchs­tens dann, wenn sich Pfer­de­fleisch in die Tief­kühl-Lasa­gne schmug­gelt, Peta-Aktivist:innen in die Stäl­le ein­bre­chen oder das Coro­na­vi­rus in den Schlach­te­rei­en von Coes­feld und Rhe­da-Wie­den­brück grassiert.

Auch den Schlacht­hö­fen, in die uns Joseph Pon­thus in Am lau­fen­den Band mit­nimmt, fehlt jede Roman­tik. Grel­les Licht, eisi­ge Käl­te, bei­ßen­der Gestank. Zwi­schen den Proletarier:innen schuf­tet der Held des Vers­ro­mans. Er ist Bil­dungs­auf­stei­ger, eigent­lich fehl am Platz, träumt von der gro­ßen Schrift­stel­ler­kar­rie­re und ver­dingt sich jetzt not­ge­drun­gen als Leih­ar­bei­ter in zwei namen­lo­sen Schlach­te­rei­en. Pon­thus erzählt damit sei­ne eige­ne Geschich­te: Er selbst schuf­te­te eini­ge Jah­re in den Schlacht­hö­fen der Bre­ta­gne, nach­dem er sei­nen Job als Sozi­al­ar­bei­ter ver­lo­ren hat­te. Am lau­fen­den Band ist eine auto­fik­tio­na­le Erzählung.

Die­se Erfah­run­gen lie­ßen Pon­thus offen­bar krea­tiv wer­den: Nach sei­ner Schicht doku­men­tier­te er die Aus­beu­tung in den Schlacht­hö­fen. Sei­ne Auf­zeich­nun­gen aus der Fabrik, wie der Unter­ti­tel des Romans lau­tet, sind scho­nungs­los, dras­tisch, kom­pro­miss­los. Her­aus­ge­kom­men ist ein Vers­ro­man ohne Punkt, Kom­ma, Strich – eine unge­wöhn­li­che und für eini­ge Leser:innen womög­lich unge­wohn­te Lite­ra­tur­form und doch zeit­ge­mäß. Stel­len­wei­se erin­nert der Roman an Sibyl­le Bergs Best­sel­ler GRM. Brain­fuck, den die Schwei­ze­rin als Rap nie­der­ge­schrie­ben hat. Sprach­öko­no­mie und Ton ähneln ein­an­der: kur­ze, abge­hack­te Pro­sa mit hef­ti­gen Inhal­ten und sar­kas­tisch-humor­vol­len Beobachtungen. 

Wäh­rend das Ori­gi­nal, À la ligne, in Frank­reich mit vie­len Lite­ra­tur­prei­sen bedacht wur­de, hat das deutsch­spra­chi­ge Feuil­le­ton das Buch in der Über­set­zung von Clau­dia Hamm und Mira Lina Simon fast kom­plett igno­riert: Weder die FAZ noch die SZ rezen­sier­ten Am lau­fen­den Band, selbst die lin­ke Arbeiter:innen-Zeitung neu­es deutsch­land wid­me­te dem Vers­ro­man kei­ne ein­zi­ge Zei­le. Zu Unrecht, denn bei­den Über­set­ze­rin­nen ist es in beein­dru­cken­der Wei­se gelun­gen, die Spra­che von Pon­thus ins Deut­sche zu übertragen.

Zwar ist Am lau­fen­den Band eine eher hand­lungs­ar­me Erzäh­lung, da sie ein­zig und allein den Arbeits­all­tag in Fleisch- und Fisch­fa­bri­ken schil­dert. Aller­dings erzeugt Pon­thus in sei­ner teil­neh­men­den Beob­ach­tung gewal­ti­ge Sprach­bil­der. Vie­le Wor­te braucht er dafür nicht:

Net­to­y­eur de tran­chée
Net­to­y­eur d’abattoir
C’est pres­que tout pareil
Je me fais l‘effet d’être à la guer­re
Les lam­beaux les morceaux l’équipment qu’il faut avoir le sang
Le sang le sang le sang

Schlacht­feld­rei­ni­ger
Schlacht­hofrei­ni­ger
Ist fast das Glei­che
Ich fühl mich wie im Krieg
Die Fet­zen die Tei­le die Aus­rüs­tung die man braucht das Blut
Das Blut das Blut das Blut

In die­sem sehr dich­ten Stil wim­melt es nur von Neo­lo­gis­men: „Chef­fi­tü­de“ („chef­fi­tu­de“), „Frei­tagi­tis“ („vendre­di­te“), „Tofu­tra­la­la“ („chan­tier de fou de tofu“), „Gemein­schafts­stie­fel“ („bot­tes par­ta­gées“), „Well­horn­schne­cken­band­sa­che“ („cau­se de la ligne du bulot“). Das sind nur eini­ge der zahl­rei­chen und berei­chern­den Wort­neu­schöp­fun­gen, die Clau­dia Hamm und Mira Lina Simon ihren Leser:innen beibringen.

Wie die Bei­spie­le zei­gen, haben sich die Über­set­ze­rin­nen für freie For­mu­lie­run­gen ent­schie­den, die im Deut­schen sehr gut funk­tio­nie­ren: Sie kle­ben die Wort­be­stand­tei­le inein­an­der, statt die Prä­po­si­tio­nal­wen­dun­gen aus dem Fran­zö­si­schen zu über­neh­men, die über­setzt nur all­zu geküns­telt daher­kom­men wür­den. Mit die­ser muti­gen Über­set­zungs­stra­te­gie gewinnt der Text an Idio­ma­tik, womit Hamm und Simon ihre über­set­ze­ri­sche Fein­füh­lig­keit unter Beweis stel­len. Scha­de hin­ge­gen ist es, wenn ihnen bei der Über­set­zung des zen­tra­len Verbs „bos­ser“ an man­chen Stel­len die Krea­ti­vi­tät fehlt. Oft haben Hamm und Simon die Tätig­keit bloß als „arbei­ten“ über­setzt, dabei bie­tet das Ori­gi­nal­verb mehr Münd­lich­keit: „schuf­ten“, „schaf­fen“, „malo­chen“.

Denn die Spra­che von Pon­thus ist durch­gän­gig münd­lich. Sein Vers­ro­man ist der­ar­tig leicht­fü­ßig geschrie­ben, dass er das Gefühl erzeugt, als erzäh­le der Autor den Leser:innen sei­ne Geschich­te von Ange­sicht zu Angesicht:

Clo­pe
Café
Clo­pe
Un
Sni­ckers
Clo­pe
Tex­to de mon épou­se qui pen­sait à moi à vingt-trois heu­res
Je sou­ris tendre­ment
Si elle savait
Mais c‘est l’heure
Une der­niè­re lat­te de clo­pe his­toire de dire
T’as vu l’usine t’as vu le tofu tu n’auras pas ma der­niè­re clo­pe
Mon cul
Je l’écrase bien vite

Kip­pe
Kaf­fee
Kip­pe
Sni­ckers
Kip­pe
SMS von mei­ner Frau die um drei­und­zwan­zig Uhr an mich gedacht hat
Ich läche­le
Wenn sie wüss­te
Aber die Zeit ist um
Ein letz­ter Kip­pen­zug zum Zei­chen des Wider­stands
Has­te gese­hen Fabrik has­te gese­hen Tofu mei­ne letz­te Kip­pe kriegs­te nicht
Schön wärs
Ich drück sie schnell aus

Die­se dia­log­ar­ti­ge Erzähl­wei­se zieht Pon­thus durch den gesam­ten Vers­ro­man. Der Auf­bau folgt sei­nem Bewusst­seins­strom: Jedes Kapi­tel behan­delt ein The­ma, jede Stro­phe spie­gelt einen Gedan­ken wider. Dadurch hat man beim Lesen stän­dig das Gefühl, von Pon­thus ange­spro­chen zu werden.

Gleich­zei­tig erzeugt der öko­no­mi­sche Stil die Musik des Tex­tes: Pas­send zur oft mar­tia­li­schen und krie­ge­ri­schen Rhe­to­rik des Tex­tes ahmt Pon­thus mit sei­ner stak­ka­to­haf­ten und ver­dich­te­ten Syn­tax die Klän­ge der Maschi­nen nach, die die Tier­ka­da­ver in den Fleisch­fa­bri­ken in mund­ge­rech­te Häpp­chen zerstückeln:

Nos immense ligne de machi­ne
Vent­re de métal où sont
Décon­gelées
Triées
Cui­tes
Réf­ri­gé­rées
Re-triées
Empa­que­tées
Eti­que­tées
Re-re-triées les cre­vet­tes s’appellent ain­si
Coaxi­al
Ishi­da
Mul­ti­vac
Arbor
Bizer­ba
Tou­tes ont une fon­c­tion spécifique

Unse­re gigan­ti­schen För­der­band­ma­schi­nen
Metall­bäu­che in denen die Gar­ne­len
Auf­ge­taut
Sor­tiert
Gegart
Wie­der­tief­ge­fro­ren
Wie­der­sor­tiert
Ver­packt
Eti­ket­tiert
Und wie­der­wie­der­sor­tiert wer­den hei­ßen
Coaxi­al
Ishi­da
Mul­ti­vac
Arbor
Bizer­ba
Jede hat ihre eige­ne Funktion

Sowohl den Bewusst­seins­strom als auch die Musik von Am lau­fen­den Band haben Hamm und Simon rei­bungs­los über­setzt. An kaum einer Stel­le stockt der Lese­fluss, im Gegen­teil: Das Lese-Erleb­nis ist eben­so geschmei­dig wie im Ori­gi­nal. Pon­thus‘ Stim­me haben sie über­zeu­gend ein­ge­fan­gen. So hät­te er Am lau­fen­den Band wohl geschrie­ben, wenn sei­ne Mut­ter­spra­che deutsch gewe­sen wäre.

Wäre da nicht eine Eigen­art des Tex­tes: Der Roman ist hoch­gra­dig inter­tex­tu­ell. Leser:innen, die in Frank­reichs Musik- und Lite­ra­tur­sze­ne nicht zu Hau­se sind, wer­den eini­ge Pas­sa­gen nur mit Mühe ent­rät­seln kön­nen. Bei der Arbeit gibt der Held des Vers­ro­mans bei­spiels­wei­se immer wie­der fran­zö­si­sche Schla­ger zum Bes­ten oder zitiert aus Klas­si­kern der gal­lo­ro­ma­ni­schen Lite­ra­tur – nur wer kann da bit­te­schön schon mitreden?

»On me dit que le temps qui glis­se est un sal­aud
Que de nos chag­rins il s’en fait des man­teaux«
J’en suis à fre­don­ner du Car­la Bruni alors que je rêver­ais d’être en grève

»Man hat mir gesagt die Zeit ist ein Schuft
Aus unse­rem Leid näht sie ihre Kluft«
Sum­me ich Car­la Bruni und woll­te doch so gern streiken

Il y a ce poè­me d’Apollinaire aux tran­chées qui m’obsède par sa beau­té et sa justesse

Es gibt die­ses Gedicht von Apol­lin­aire im Schüt­zen­gra­ben
das mich mit sei­ner Schön­heit und Wahr­heit verfolgt

In zwei­er­lei Hin­sicht ist Hamms und Simons Umgang mit die­sem Über­set­zungs­pro­blem löb­lich: Sie haben sich die Mühe gemacht, alle Zita­te für das deut­sche Publi­kum noch ein­mal zu über­set­zen, damit sie sich stim­mig in die über­setz­te Erzäh­lung ein­fü­gen, und auf irri­tie­ren­de Fuß­no­ten mit Quel­len­an­ga­ben oder Erläu­te­run­gen ver­zich­tet. Trotz­dem blei­ben oft Fra­gen zurück: Was bedeu­tet die­se Infor­ma­ti­on genau, wie muss man sie im Kon­text der gesam­ten Geschich­te deu­ten? Lei­der fehlt ein erläu­tern­des Nach­wort, in dem die Über­set­ze­rin­nen den Raum bekä­men, den sie für eine idea­le Adap­ti­on bräuch­ten. Was aller­dings nicht ihnen, son­dern viel­mehr dem Ver­lag anzu­krei­den ist.

Ein kur­zer Blick auf die Quer­ver­wei­se genügt aller­dings, um eines zu ver­ste­hen: Der Held von Am lau­fen­den Band ist ein lesen­der Arbei­ter – also einer, an dem sämt­li­che Theoretiker:innen des Kom­mu­nis­mus ihre Freu­de gehabt hät­ten. Als gebil­de­ter Malo­cher reflek­tiert er sei­ne Rol­le im Uhr­werk des Kapi­ta­lis­mus mit mes­ser­schar­fen Ana­ly­sen und Empa­thie für das Schick­sal sei­ner Mit-Proletarier:innen.

Die­ses Sujet ist eines, das kaum bes­ser in die­se Zeit pas­sen könn­te. Jetzt, wo der Neo­li­be­ra­lis­mus sein End­sta­di­um betritt, sind die Buch­hand­lun­gen voll­ge­stopft mit Lite­ra­tur, die dem Bildungsbürger:innentum die Eigen­hei­ten der Unter­schicht zu erklä­ren ver­sucht. Offen­bar scheint die Arbeiter:innenklasse ihnen ein Mys­te­ri­um zu sein: Leu­te, die wider bes­se­ren Wis­sens noch immer rau­chen, flu­chen und Fleisch ver­zeh­ren – auf sie bli­cken selbst­er­nann­te Lin­ke hin­ter vor­ge­hal­te­ner Hand nur all­zu ger­ne herab.

Gera­de ihnen sei Am lau­fen­den Band ans Herz gelegt. Ein halb­fik­tio­na­ler Sozi­al­be­richt, der – nicht zuletzt dank bril­lan­ter Über­set­zung – authen­tisch zeigt, was es heißt, hart zu arbei­ten. Der ers­te gro­ße Roman aus der Feder von Pon­thus macht Appe­tit auf mehr Kapi­ta­lis­mus­kri­tik, doch die­ser Hun­ger wird nie mehr gestillt: Am 24. Febru­ar 2021 starb Joseph Pon­thus im Alter von 42 Jah­ren. Dass À la ligne wohl sein ein­zi­ges Ver­mächt­nis im Klas­sen­kampf blei­ben wird, deu­tet er bereits in sei­nen Ver­sen an:

La nou­vel­le offi­ci­el­le est tom­bée hier
Tom­bée
Com­me tu ris­que de tom­ber si tu ne prends pas gar­de
À l’anémie
Aux glo­bu­les blancs
Aux frac­tures des ver­tèbres qui te dézin­guent depuis des mois
Et sur tout ca
Nous pou­vons enfin mett­re un mot
Myé­lo­me
Can­cer de la moel­le osseu­se
[…] À l’école de can­cer
On n’est pas préparé

Die Nach­richt traf uns ges­tern wie ein Schlag Geschla­gen
Wirst du dich auch geben müs­sen wenn du nicht auf
Die Anämie
Die wei­ßen Blut­kör­per­chen
Die Wir­bel­brü­che auf­passt
Die dich schon seit Mona­ten umnie­ten
Und für all das
Gibt es ab jetzt ein Wort
Mul­ti­ples Mye­lom
Kno­chen­mark­krebs
[…] Auf die Schu­le des Kreb­ses
Ist man nicht vorbereitet


Joseph Pon­thus | Mira Lina Simon und Clau­dia Hamm

Am lau­fen­den Band. Auf­zeich­nun­gen aus der Fabrik.

Im fran­zö­si­schen Ori­gi­nal: À la ligne

Matthes & Seitz Ber­lin 2021 ⋅ 239 Sei­ten ⋅ 22 Euro


Die Peri­phe­rie im Zentrum

In Geo­va­ni Mar­tins’ Roman „Via Ápia“, über­setzt aus dem bra­si­lia­ni­schen Por­tu­gie­sisch von Nico­lai von Schweder-Schreiner,… 

Ein klu­ger Vogel erzählt

Zwi­schen hin­du­is­ti­schem Mythos und Bou­le­vard­ko­mö­die: „Das Papa­gei­en­buch“ ist eine Samm­lung indi­scher, auf Sans­krit ver­fass­ter Märchen.… 

6 Bücher aus Rumä­ni­en und Moldau

Auf der Suche nach außer­ge­wöhn­li­chem Lese­stoff? Hier wer­det ihr fün­dig: eine lite­ra­ri­sche Ent­de­ckungs­rei­se durch Rumänien… 

1 Comment

Add Yours
  1. 1
    Irina

    Sol­che Bücher kom­men anschei­nend häu­fig aus Frankreich.
    Ich den­ke da an Anna Sam: Die Lei­den einer jun­gen Kas­sie­re­rin, Über­set­zung von Eli­sa­beth Liebl, 2009 (https://www.perlentaucher.de/buch/anna-sam/die-leiden-einer-jungen-kassiererin.html) und an Flo­rence Aubenas: Put­ze. Mein Leben im Dreck, Über­set­zung von Gaby Wurs­ter, 2010 (https://www.perlentaucher.de/buch/florence-aubenas/putze.html)
    Frau Sam war gezwun­gen, den Job anzu­neh­men, Frau Aubenas hat sich zu Recher­che­zwe­cken arbeits­los gemel­det und ver­mit­teln lassen.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert