Kein Ort ist furchtbarer als ein Schlachthaus. In den Hallen hängt der Tod am Fleischerhaken. Dort herrscht die Diktatur der Stechuhr, die die Ausbeutung der Arbeiter:innen unerbittlich taktet. Den Außenstehenden ist das Innenleben der Fleischfabriken ein Rätsel. Wann erfährt man schon etwas darüber, wie es ist, Rinder, Schweine und Hühner im Akkord zu töten? Höchstens dann, wenn sich Pferdefleisch in die Tiefkühl-Lasagne schmuggelt, Peta-Aktivist:innen in die Ställe einbrechen oder das Coronavirus in den Schlachtereien von Coesfeld und Rheda-Wiedenbrück grassiert.
Auch den Schlachthöfen, in die uns Joseph Ponthus in Am laufenden Band mitnimmt, fehlt jede Romantik. Grelles Licht, eisige Kälte, beißender Gestank. Zwischen den Proletarier:innen schuftet der Held des Versromans. Er ist Bildungsaufsteiger, eigentlich fehl am Platz, träumt von der großen Schriftstellerkarriere und verdingt sich jetzt notgedrungen als Leiharbeiter in zwei namenlosen Schlachtereien. Ponthus erzählt damit seine eigene Geschichte: Er selbst schuftete einige Jahre in den Schlachthöfen der Bretagne, nachdem er seinen Job als Sozialarbeiter verloren hatte. Am laufenden Band ist eine autofiktionale Erzählung.
Diese Erfahrungen ließen Ponthus offenbar kreativ werden: Nach seiner Schicht dokumentierte er die Ausbeutung in den Schlachthöfen. Seine Aufzeichnungen aus der Fabrik, wie der Untertitel des Romans lautet, sind schonungslos, drastisch, kompromisslos. Herausgekommen ist ein Versroman ohne Punkt, Komma, Strich – eine ungewöhnliche und für einige Leser:innen womöglich ungewohnte Literaturform und doch zeitgemäß. Stellenweise erinnert der Roman an Sibylle Bergs Bestseller GRM. Brainfuck, den die Schweizerin als Rap niedergeschrieben hat. Sprachökonomie und Ton ähneln einander: kurze, abgehackte Prosa mit heftigen Inhalten und sarkastisch-humorvollen Beobachtungen.
Während das Original, À la ligne, in Frankreich mit vielen Literaturpreisen bedacht wurde, hat das deutschsprachige Feuilleton das Buch in der Übersetzung von Claudia Hamm und Mira Lina Simon fast komplett ignoriert: Weder die FAZ noch die SZ rezensierten Am laufenden Band, selbst die linke Arbeiter:innen-Zeitung neues deutschland widmete dem Versroman keine einzige Zeile. Zu Unrecht, denn beiden Übersetzerinnen ist es in beeindruckender Weise gelungen, die Sprache von Ponthus ins Deutsche zu übertragen.
Zwar ist Am laufenden Band eine eher handlungsarme Erzählung, da sie einzig und allein den Arbeitsalltag in Fleisch- und Fischfabriken schildert. Allerdings erzeugt Ponthus in seiner teilnehmenden Beobachtung gewaltige Sprachbilder. Viele Worte braucht er dafür nicht:
Nettoyeur de tranchée
Nettoyeur d’abattoir
C’est presque tout pareil
Je me fais l‘effet d’être à la guerre
Les lambeaux les morceaux l’équipment qu’il faut avoir le sang
Le sang le sang le sang
Schlachtfeldreiniger
Schlachthofreiniger
Ist fast das Gleiche
Ich fühl mich wie im Krieg
Die Fetzen die Teile die Ausrüstung die man braucht das Blut
Das Blut das Blut das Blut
In diesem sehr dichten Stil wimmelt es nur von Neologismen: „Cheffitüde“ („cheffitude“), „Freitagitis“ („vendredite“), „Tofutralala“ („chantier de fou de tofu“), „Gemeinschaftsstiefel“ („bottes partagées“), „Wellhornschneckenbandsache“ („cause de la ligne du bulot“). Das sind nur einige der zahlreichen und bereichernden Wortneuschöpfungen, die Claudia Hamm und Mira Lina Simon ihren Leser:innen beibringen.
Wie die Beispiele zeigen, haben sich die Übersetzerinnen für freie Formulierungen entschieden, die im Deutschen sehr gut funktionieren: Sie kleben die Wortbestandteile ineinander, statt die Präpositionalwendungen aus dem Französischen zu übernehmen, die übersetzt nur allzu gekünstelt daherkommen würden. Mit dieser mutigen Übersetzungsstrategie gewinnt der Text an Idiomatik, womit Hamm und Simon ihre übersetzerische Feinfühligkeit unter Beweis stellen. Schade hingegen ist es, wenn ihnen bei der Übersetzung des zentralen Verbs „bosser“ an manchen Stellen die Kreativität fehlt. Oft haben Hamm und Simon die Tätigkeit bloß als „arbeiten“ übersetzt, dabei bietet das Originalverb mehr Mündlichkeit: „schuften“, „schaffen“, „malochen“.
Denn die Sprache von Ponthus ist durchgängig mündlich. Sein Versroman ist derartig leichtfüßig geschrieben, dass er das Gefühl erzeugt, als erzähle der Autor den Leser:innen seine Geschichte von Angesicht zu Angesicht:
Clope
Café
Clope
Un
Snickers
Clope
Texto de mon épouse qui pensait à moi à vingt-trois heures
Je souris tendrement
Si elle savait
Mais c‘est l’heure
Une dernière latte de clope histoire de dire
T’as vu l’usine t’as vu le tofu tu n’auras pas ma dernière clope
Mon cul
Je l’écrase bien vite
Kippe
Kaffee
Kippe
Snickers
Kippe
SMS von meiner Frau die um dreiundzwanzig Uhr an mich gedacht hat
Ich lächele
Wenn sie wüsste
Aber die Zeit ist um
Ein letzter Kippenzug zum Zeichen des Widerstands
Haste gesehen Fabrik haste gesehen Tofu meine letzte Kippe kriegste nicht
Schön wärs
Ich drück sie schnell aus
Diese dialogartige Erzählweise zieht Ponthus durch den gesamten Versroman. Der Aufbau folgt seinem Bewusstseinsstrom: Jedes Kapitel behandelt ein Thema, jede Strophe spiegelt einen Gedanken wider. Dadurch hat man beim Lesen ständig das Gefühl, von Ponthus angesprochen zu werden.
Gleichzeitig erzeugt der ökonomische Stil die Musik des Textes: Passend zur oft martialischen und kriegerischen Rhetorik des Textes ahmt Ponthus mit seiner stakkatohaften und verdichteten Syntax die Klänge der Maschinen nach, die die Tierkadaver in den Fleischfabriken in mundgerechte Häppchen zerstückeln:
Nos immense ligne de machine
Ventre de métal où sont
Décongelées
Triées
Cuites
Réfrigérées
Re-triées
Empaquetées
Etiquetées
Re-re-triées les crevettes s’appellent ainsi
Coaxial
Ishida
Multivac
Arbor
Bizerba
Toutes ont une fonction spécifique
Unsere gigantischen Förderbandmaschinen
Metallbäuche in denen die Garnelen
Aufgetaut
Sortiert
Gegart
Wiedertiefgefroren
Wiedersortiert
Verpackt
Etikettiert
Und wiederwiedersortiert werden heißen
Coaxial
Ishida
Multivac
Arbor
Bizerba
Jede hat ihre eigene Funktion
Sowohl den Bewusstseinsstrom als auch die Musik von Am laufenden Band haben Hamm und Simon reibungslos übersetzt. An kaum einer Stelle stockt der Lesefluss, im Gegenteil: Das Lese-Erlebnis ist ebenso geschmeidig wie im Original. Ponthus‘ Stimme haben sie überzeugend eingefangen. So hätte er Am laufenden Band wohl geschrieben, wenn seine Muttersprache deutsch gewesen wäre.
Wäre da nicht eine Eigenart des Textes: Der Roman ist hochgradig intertextuell. Leser:innen, die in Frankreichs Musik- und Literaturszene nicht zu Hause sind, werden einige Passagen nur mit Mühe enträtseln können. Bei der Arbeit gibt der Held des Versromans beispielsweise immer wieder französische Schlager zum Besten oder zitiert aus Klassikern der galloromanischen Literatur – nur wer kann da bitteschön schon mitreden?
»On me dit que le temps qui glisse est un salaud
Que de nos chagrins il s’en fait des manteaux«
J’en suis à fredonner du Carla Bruni alors que je rêverais d’être en grève
»Man hat mir gesagt die Zeit ist ein Schuft
Aus unserem Leid näht sie ihre Kluft«
Summe ich Carla Bruni und wollte doch so gern streiken
Il y a ce poème d’Apollinaire aux tranchées qui m’obsède par sa beauté et sa justesse
Es gibt dieses Gedicht von Apollinaire im Schützengraben
das mich mit seiner Schönheit und Wahrheit verfolgt
In zweierlei Hinsicht ist Hamms und Simons Umgang mit diesem Übersetzungsproblem löblich: Sie haben sich die Mühe gemacht, alle Zitate für das deutsche Publikum noch einmal zu übersetzen, damit sie sich stimmig in die übersetzte Erzählung einfügen, und auf irritierende Fußnoten mit Quellenangaben oder Erläuterungen verzichtet. Trotzdem bleiben oft Fragen zurück: Was bedeutet diese Information genau, wie muss man sie im Kontext der gesamten Geschichte deuten? Leider fehlt ein erläuterndes Nachwort, in dem die Übersetzerinnen den Raum bekämen, den sie für eine ideale Adaption bräuchten. Was allerdings nicht ihnen, sondern vielmehr dem Verlag anzukreiden ist.
Ein kurzer Blick auf die Querverweise genügt allerdings, um eines zu verstehen: Der Held von Am laufenden Band ist ein lesender Arbeiter – also einer, an dem sämtliche Theoretiker:innen des Kommunismus ihre Freude gehabt hätten. Als gebildeter Malocher reflektiert er seine Rolle im Uhrwerk des Kapitalismus mit messerscharfen Analysen und Empathie für das Schicksal seiner Mit-Proletarier:innen.
Dieses Sujet ist eines, das kaum besser in diese Zeit passen könnte. Jetzt, wo der Neoliberalismus sein Endstadium betritt, sind die Buchhandlungen vollgestopft mit Literatur, die dem Bildungsbürger:innentum die Eigenheiten der Unterschicht zu erklären versucht. Offenbar scheint die Arbeiter:innenklasse ihnen ein Mysterium zu sein: Leute, die wider besseren Wissens noch immer rauchen, fluchen und Fleisch verzehren – auf sie blicken selbsternannte Linke hinter vorgehaltener Hand nur allzu gerne herab.
Gerade ihnen sei Am laufenden Band ans Herz gelegt. Ein halbfiktionaler Sozialbericht, der – nicht zuletzt dank brillanter Übersetzung – authentisch zeigt, was es heißt, hart zu arbeiten. Der erste große Roman aus der Feder von Ponthus macht Appetit auf mehr Kapitalismuskritik, doch dieser Hunger wird nie mehr gestillt: Am 24. Februar 2021 starb Joseph Ponthus im Alter von 42 Jahren. Dass À la ligne wohl sein einziges Vermächtnis im Klassenkampf bleiben wird, deutet er bereits in seinen Versen an:
La nouvelle officielle est tombée hier
Tombée
Comme tu risque de tomber si tu ne prends pas garde
À l’anémie
Aux globules blancs
Aux fractures des vertèbres qui te dézinguent depuis des mois
Et sur tout ca
Nous pouvons enfin mettre un mot
Myélome
Cancer de la moelle osseuse
[…] À l’école de cancer
On n’est pas préparé
Die Nachricht traf uns gestern wie ein Schlag Geschlagen
Wirst du dich auch geben müssen wenn du nicht auf
Die Anämie
Die weißen Blutkörperchen
Die Wirbelbrüche aufpasst
Die dich schon seit Monaten umnieten
Und für all das
Gibt es ab jetzt ein Wort
Multiples Myelom
Knochenmarkkrebs
[…] Auf die Schule des Krebses
Ist man nicht vorbereitet