Unse­re Lieb­lings­über­set­zun­gen 2022

Ihr seid noch auf Geschenkesuche? Wir stellen euch einige unserer diesjährigen Lieblingsübersetzungen vor, mit denen ihr anderen oder euch selbst eine Freude machen könnt.

Die diesjährigen Lieblingsübersetzungen der TraLaLit-Redaktion. Hintergrundbild: Morgane Le Brenton via Unsplash

Mein Buch des Jah­res 2022 hat mich tat­säch­lich das gan­ze Jahr hin­durch beglei­tet. Anstatt es in gro­ßen Zügen zu ver­schlin­gen, muss­te ich es wochen­wei­se zur Sei­te legen, weil es mich immer wie­der ange­strengt, über­for­dert – ja, auch genervt hat. Ich habe es auch noch nicht durch­ge­le­sen, aber das macht gar nichts, denn ums Durch­ge­le­sen­ha­ben geht es bei die­sem ver­rück­ten Buch eigent­lich auch nicht. Das Ent­schei­den­de ist die Spra­che, die man – zumin­dest im Deut­schen – so durch­ge­knallt und tief­grün­dig zugleich der­zeit wohl nur bei Ulrich Blu­men­bach lesen kann. Und ich bil­de mir ein, mit mei­nem por­ti­ons­wei­sen Lese­ver­hal­ten auch das Pla­cet des Über­set­zers zu haben, der in einem Inter­view zugab, zeit­wei­se Zwei­fel an der Sinn­haf­tig­keit sei­nes Unter­fan­gens ent­wi­ckelt zu haben, „weil ich mir die Leserïn­nen vor­ge­stellt habe, die das Buch ein­fach ent­nervt an die Wand schmei­ßen.“ Auch wenn Blu­men­bach hin­zu­füg­te, er kön­ne das nie­man­dem übel neh­men: So weit bin ich noch nicht. Im Gegen­teil, ich bin froh, dass ich noch lan­ge lesen darf, wie ich noch nie gele­sen habe – Felix Püt­ter

Joshua Cohen/Ulrich Blu­men­bach (aus dem Eng­li­schen): Witz, Schöff­ling & Co. 2022, 912 Sei­ten, 38 Euro.


Dja­mi­la Taís Ribei­ro dos San­tos ist eine bra­si­lia­ni­sche Phi­lo­so­phin und Autorin, die die BBC als eine der 100 ein­fluss­reichs­ten Frau­en der Welt bezeich­net. Sie ist als Akti­vis­tin Teil der Bewe­gung des Schwar­zen Femi­nis­mus. In Wo wir spre­chen. Schwar­ze Dis­kurs­räu­me eröff­net sie neue Per­spek­ti­ven auf die Inter­sek­tio­na­li­tät von Ras­sis­mus, Klas­sis­mus und Sexis­mus. Das Buch  erschien in Bra­si­li­en in der Rei­he „Plu­ra­le Femi­nis­men“ („Femi­nis­mos Plu­rais“), die unter ande­rem struk­tu­rel­len Ras­sis­mus, Weiß­sein, weib­li­che Homo­se­xua­li­tät, Tran­si­den­ti­tä­ten und Männ­lich­kei­ten zum The­ma macht und deren Bei­trä­ge von Schwar­zen und Indi­ge­nen Frau­en sowie Schwar­zen Män­nern ver­fasst werden.

So ist es nur fol­ge­rich­tig, dass die Über­set­zung des Buches ins Deut­sche von Ina­já Cor­reia Witt­kow­ski über­nom­men wur­de, die als Schwar­ze Frau in Bra­si­li­en gebo­ren wur­de und in Deutsch­land auf­ge­wach­sen ist. Witt­kow­ski schreibt zu ihrer Über­set­zung von Wo wir spre­chen: „Eine Über­set­zung ist wie ein tau­send­tei­li­ges Puz­zle, das abhän­gig davon, wann und wie ver­sucht wird, es zu lösen, ein ande­res Bild ergibt. Wir haben die­ses Puz­zle aus unse­rem Raum als Schwar­ze Frau­en in Deutsch­land her­aus­ge­löst und freu­en uns, den Leser:innen in Deutsch­land aus unse­rer Per­spek­ti­ve einen klei­nen Ein­blick in die Wei­ten latein­ame­ri­ka­ni­scher Wis­sens­be­stän­de geben zu dür­fen. Dabei war es uns beson­ders wich­tig, den Text mög­lichst unver­fälscht – und nicht euro­päi­siert – wiederzugeben.“

Ein Buch für alle, die ihren Hori­zont auf dem The­men­feld des glo­ba­len Femi­nis­mus erwei­tern wol­len und sich trau­en, dahin zu schau­en, wo es bei der Refle­xi­on des eige­nen Weiß­seins auch mal unbe­quem wird, ja weh tut. – Dör­te Felsing

Dja­mi­la Ribeiro/Inajá Cor­reia Witt­kow­ski (aus dem Bra­si­lia­ni­schen): Wo wir spre­chen (Lugar de falar), edi­ti­on assem­bla­ge 2022, 128 Sei­ten, 10 Euro.


Der Fluch des Hechts war für mich ein abso­lu­tes Wohl­fühl­buch – ein Buch, das einen von der ers­ten Sei­te an umarmt und bis zur letz­ten Sei­te (oder län­ger) nicht mehr los­lässt. Der fin­ni­sche Autor Juha­ni Kari­la hat mit die­sem Buch sein Roman­de­büt vor­ge­legt, das in sei­nem Hei­mat­land gleich drei Prei­se abge­räumt hat und des­sen deut­sche Über­set­zung von Maxi­mi­li­an Mur­mann für den Inter­na­tio­na­len Lite­ra­tur­preis nomi­niert war.

Im – dem Roman zufol­ge – sagen­um­wo­be­nen und mys­ti­schen Lapp­land ver­sucht Eli­na, in einem halb aus­ge­trock­ne­ten Tüm­pel einen Hecht zu fan­gen. Sie ver­folgt die­se Ange­le­gen­heit mit einer der­ar­ti­gen Ver­bis­sen­heit, dass schon bald deut­lich wird: Hier geht es um Leben und Tod. Und tat­säch­lich traut sich kurz dar­auf eine Poli­zis­tin aus der Groß­stadt in die Pro­vinz, um Eli­na auf­zu­spü­ren – doch nicht nur der Hecht tanzt aus der Rei­he, son­dern auch eini­ge skur­ri­le Dorf­be­woh­ner und Fabel­we­sen. Der Fluch des Hechts ist eine Mischung aus Kri­mi, Sage und fan­tas­ti­scher Lite­ra­tur. Im Zen­trum der Erzäh­lung steht eine Lie­bes­ge­schich­te, die Maxi­mi­li­an Mur­mann ganz wun­der­bar mit all ihrem Facet­ten­reich­tum ins Deut­sche über­tra­gen hat. Der Über­set­zer hat die sym­pa­thi­schen Marot­ten der Figu­ren bes­tens ein­ge­fan­gen und über­zeu­gen­de deut­sche Ent­spre­chun­gen gefun­den. Wer auf der Suche nach einem unter­halt­sa­men, lus­ti­gen, fan­tas­ti­schen und abge­dreh­ten Roman ist, soll­te zu Der Fluch des Hechts grei­fen. Viel Spaß mit den Näcks, Pejoo­nis und Hat­ta­ras!
- Lisa Mensing

Juha­ni Karila/Maximilian Mur­mann (aus dem Fin­ni­schen): Der Fluch des Hechts (Pie­nen hau­en pyy­dy­stys), homun­cu­lus 2022, 304 Sei­ten, 24 Euro.


Geor­ge Sand, oder auch Aman­ti­ne Auro­re Luci­le Dupin de Fran­cu­eil, galt schon zu Leb­zei­ten als eine abso­lu­te Aus­nah­me­ge­stalt. Die eigen­wil­li­ge fran­zö­si­sche Schrift­stel­le­rin war dank des Erfolgs ihrer Tex­te nicht nur finan­zi­ell unab­hän­gig, son­dern auch äußerst gut ver­netzt, poli­tisch enga­giert und unheim­lich pro­duk­tiv – über 60 Roma­ne, Essays, Kri­ti­ken, Thea­ter­stü­cke und nicht zuletzt Dut­zen­de von Brie­fen stam­men aus ihrer Feder. Ins Deut­sche über­setzt ist davon bei Wei­tem noch nicht alles. 

Im Früh­jahr erschien ihr Dia­log­ro­man Gabri­el von 1839 erst­mals in deut­scher Über­set­zung durch Els­beth Ran­ke. Der Text, der von Sand sowohl als klas­si­sches Lese­stück als auch für die Büh­ne kon­zi­piert wur­de, han­delt von dem jun­gen Gabri­el. Die­ser fin­det her­aus, dass sein Groß­va­ter ihn auf­grund der damals typi­schen männ­li­chen Erb­fol­ge als Jun­gen groß­ge­zo­gen hat, obwohl er eigent­lich als Mäd­chen gebo­ren wur­de. Wenig über­ra­schend ver­ur­sacht die­ses Wis­sen Ver­wir­run­gen, wei­te­re Täu­schun­gen und viel Leid. Die Tra­gik, aber auch die Komik, die mit dem Ver­wechs­lungs­spiel ein­her­geht, schim­mert in Ran­kes zugäng­li­cher Über­set­zung in jeder Zei­le durch. Sands Kol­le­ge Hono­ré de Bal­zac soll nach der Lek­tü­re des Stü­ckes geschrie­ben haben: „Es ist ein Stück von Shake­speare!“. Man kann daher nur hof­fen, dass deutsch­spra­chi­ge Leser:innen nach der Lek­tü­re ähn­li­che Schlüs­se zie­hen. Der Aus­ruf soll­te aber lau­ten: „Es ist ein Stück von Sand und Ran­ke!“
- Julia Rosche

Geor­ge Sand/Elsbeth Ran­ke (aus dem Fran­zö­si­schen): Gabri­el, Reclam 2022, 176 Sei­ten, 18 Euro.


Der bri­ti­sche Rei­se­schrift­stel­ler Patrick Leigh Fer­mor sucht in den 1950ern nach einem „ruhi­gen, bil­li­gen Ort“ zum Schrei­ben – und fin­det sich unver­hofft in der beflü­geln­den Abge­schie­den­heit des fran­zö­si­schen Fran­zis­ka­ner­klos­ters St. Wandril­le wie­der. Die Stil­le und Ein­tö­nig­keit des mön­chi­schen All­tags wir­ken auf ihn zunächst beängs­ti­gend und dann inspi­rie­rend. Hier hat er Zeit, inne­hal­ten und über das Leben inner- und außer­halb der Klos­ter­mau­ern nach­zu­sin­nen. Fer­mors unauf­ge­reg­te, kon­tem­pla­ti­ve Spra­che zeigt sich auch in der Über­set­zung von Dirk van Guns­te­ren, in der ein­fach jedes Wort sitzt. Ein Buch, das man sich am bes­ten sel­ber schenkt, um für ein Weil­chen dem Fei­er­tags­tru­bel zu ent­kom­men und zwi­schen den Jah­ren wie­der zu sich selbst zu fin­den. – Han­ne Wiesner

Patrick Leigh Fermor/Dirk van Guns­te­ren (aus dem Eng­li­schen): Eine Zeit der Stil­le (A Time to Keep Silence), Dör­le­mann 2022, 144 Sei­ten, 18 Euro.


Als Abdul­razak Gur­nah 2021 den Nobel­preis für Lite­ra­tur erhielt, stand der deut­sche Buch­markt unter Schock: Zwar waren eini­ge Roma­ne des tan­sa­nisch-bri­ti­schen Schrift­stel­lers über­setzt wor­den, doch die Bücher waren selbst anti­qua­risch kaum mehr erhält­lich und die Über­set­zungs­rech­te längst wie­der frei. Mitt­ler­wei­le hat Pen­gu­in glück­li­cher­wei­se eini­ge der alten Über­set­zun­gen neu auf­ge­legt und auch Gur­nahs neu­es­ter Roman, Nach­le­ben, erschien die­ses Jahr dort, ins Deut­sche gebracht von Eva Bonné.

Nach­le­ben erzählt von vier Men­schen, deren Lebens­we­ge sich Anfang des 20. Jahr­hun­derts in einer Küs­ten­stadt im ehe­ma­li­gen Deutsch-Ost­afri­ka kreu­zen: Ham­za kehrt in den Küs­ten­ort zurück, nach­dem er als Aska­ri der Schutz­trup­pe den Ers­ten Welt­krieg nur knapp über­lebt hat. Durch Glück fin­det er trotz sei­ner Kriegs­ver­let­zun­gen nicht nur schnell eine Arbeit, son­dern auch eine Unter­kunft bei sei­nem grum­me­li­gen, aber im Her­zen gut­mü­ti­gen Kol­le­gen Kha­li­fa. In Kha­li­fas Haus begeg­net Ham­za auch des­sen Zieh­toch­ter Afi­ya, die um ihren Bru­der Ily­as trau­ert, der eben­falls in den Krieg gezo­gen, aber nicht mehr zurück­ge­kehrt ist. 

Gur­nah zeigt auf, wie Kolo­ni­al­ge­schich­te, Welt­ge­sche­hen, aber auch die bis nach Indi­en rei­chen­den Han­dels­be­zie­hun­gen der Regi­on die Lebens­we­ge der Protagonist*innen beein­flus­sen. Sei­ne erzäh­le­ri­sche Stär­ke liegt dar­in, dass er die Gescheh­nis­se detail­liert und facet­ten­reich beschreibt, ohne zuzu­spit­zen oder zu über­zeich­nen. So ist ihm ein Roman gelun­gen, in den man beim Lesen völ­lig ein­tau­chen kann – und es ist Eva Bon­né zu ver­dan­ken, dass dies in der deut­schen Über­set­zung eben­so leicht gelingt. Wer ein­mal von der Ost­küs­te Afri­kas aus auf die Welt(geschichte) bli­cken will, der*dem sei Nach­le­ben wärms­tens emp­foh­len. – Anna Pia Jordan-Bertinelli

Abdul­razak Gurnah/Eva Bon­né (aus dem Eng­li­schen): Nach­le­ben (After­li­ves), Pen­gu­in Ran­dom House 2022, 384 Sei­ten, 26 Euro.



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