„Mein lie­ber Herr Gott: Du bist ein Scheißkerl!“

Ulrich Sonnenberg hat Knut Hamsuns einflussreichen Roman „Hunger“ neu übersetzt – und macht vieles anders als seine Vorgänger. Von

Knut Hamsuns Hunger in der Neuübersetzung von Ulrich Sonnenberg, erschienen bei Manesse. Hintergrundbild: Jason Dent via Unsplash

Was lesen wir eigent­lich, wenn wir Knut Ham­suns Hun­ger in deut­scher Über­set­zung lesen? Rein inhalt­lich ist die­se Fra­ge leicht zu beant­wor­ten: Ham­suns Roman ist ein Künst­ler­ro­man über einen anony­men Ich-Erzäh­ler, einen ver­krach­ten Schrift­stel­ler, der sich in Kris­tia­nia – dem heu­ti­gen Oslo – mehr schlecht als recht mit Feuil­le­tons über Was­ser hält und, wie schon im Titel ange­deu­tet, hun­gern muss. Bekommt er doch ein­mal ein Hono­rar für sei­ne Arbeit, fühlt er sich als voll­wer­ti­ges Mit­glied der Gesell­schaft, aber nur so lan­ge, bis das Geld wie­der aus­ge­ge­ben ist.

Wenn es aber dar­um geht, in wel­cher Fas­sung wir den nor­we­gi­schen Text – und im Zuge des­sen auch sei­ne deut­sche Über­set­zung – denn nun lesen wol­len, wird es schnell kom­pli­ziert. In Nach­schla­ge­wer­ken wie Jürg Glau­sers Skan­di­na­vi­sche Lite­ra­tur­ge­schich­te steht, dass der Roman 1890 ver­öf­fent­licht wur­de; die­se Anga­be ist aller­dings unge­nau. Zwar erschien das Buch zum ers­ten Mal 1890, aber zu Knut Ham­suns Leb­zei­ten gab es noch eini­ge wei­te­re Aus­ga­ben. Neun Jah­re nach der ers­ten, vom Kopen­ha­ge­ner J. G. Phil­ip­sen Ver­lag publi­zier­ten Ver­si­on druck­te der Ver­lag Albert Cam­mer­mey­er die zwei­te. 1916, 36 Jah­re vor sei­nem Tod, ver­öf­fent­lich­te der Autor in einer Werk­aus­ga­be eine Neu­auf­la­ge mit wei­te­ren inhalt­li­chen Ände­run­gen, auf die 1934 eine wei­te­re folg­te, dies­mal aller­dings nur mit ortho­gra­phi­schen Anpas­sun­gen sei­tens des Gyl­dend­al-Ver­lags. Letz­te­re gilt bis heu­te als die Stan­dard-Ver­si­on von Hun­ger. Nach Ham­suns Tod gab es noch zwei neue Edi­tio­nen: Die ers­te, von sei­nen Erben auto­ri­sier­te, kam 1954 auf den Markt, die zwei­te, die auf dem Text von 1934 beruht, 2009 – bei­de mit jeweils an die damals gel­ten­den Regeln ange­gli­che­ner Recht­schrei­bung. Die Tex­te von 1890 und 2009 unter­schei­den sich grund­le­gend von­ein­an­der, denn Ham­sun hat zwi­schen der ers­ten und zwei­ten sowie der drit­ten und vier­ten Aus­ga­be teils erheb­li­che Strei­chun­gen und Bear­bei­tun­gen vor­ge­nom­men, die die Les­art und damit auch die Über­set­zung des Tex­tes beeinflussen.

Obwohl Ham­sun einer der bei­den nor­we­gi­schen Literaturnobelpreisträger:innen ist, gibt es noch immer kei­ne text­kri­ti­sche Aus­ga­be. Und das, obwohl der Lite­ra­tur­wis­sen­schaft­ler Stå­le Ding­stad bereits 1998 in einem Auf­satz mit dem viel­sa­gen­den Titel Über Hun­ger (1890) – sowie wei­te­re Tex­te unter glei­chem Namen frag­te:   

… wie vie­le Ver­sio­nen haben wir, was unter­schei­det sie von­ein­an­der, und wie­so lesen wir aus­ge­rech­net die­se eine? Nicht ein­mal unse­re uni­ver­si­tä­re Aus­bil­dung, die bei einer wis­sen­schaft­li­chen Arbeit die Anga­be der ver­wen­de­ten Aus­ga­be von uns ver­langt, hat uns dazu ver­an­lasst, den Text selbst in Fra­ge zu stel­len. Auch die insti­tu­tio­na­li­sier­te For­de­rung, zum Text selbst zu gehen, sich an ihn zu hal­ten, ihn einer ein­ge­hen­den Lek­tü­re zu unter­zie­hen, hat den Glau­ben, ein kano­ni­scher Text stün­de unum­stöß­lich fest, nicht erschüt­tern kön­nen. Viel­mehr hat die clo­se rea­ding-Stra­te­gie uns in unse­rem Glau­ben bestärkt und das Ihre dazu bei­getra­gen, den Text zu ver­ab­so­lu­tie­ren – als eine Grö­ße, die iden­tisch ist mit sich selbst.

Was dem Lite­ra­tur­wis­sen­schaft­ler Ding­stad Anlass zur Sor­ge berei­tet, muss Übersetzer:innen erst recht beküm­mern. Bei einem kano­ni­sier­ten Text gilt nor­ma­ler­wei­se die Fas­sung als Vor­la­ge, die der Autor als letz­te her­aus­ge­ge­ben hat – es sei denn, es liegt ein Son­der­fall vor, schreibt Hen­rik Peter­sen im Nach­wort zu sei­ner 2016 erschie­ne­nen schwe­di­schen Neu­über­set­zung. Hun­ger ist defi­ni­tiv ein sol­cher Son­der­fall, denn die Unter­schie­de zwi­schen den Tex­ten sind teil­wei­se gra­vie­rend. Die Erst­ver­si­on von 1890 eig­net sich am ehes­ten für eine Über­set­zung, da sie den Roman in sei­ner ursprüng­lichs­ten Gestalt bewahrt.

Marie von Borch, Ham­suns ers­te deut­sche Über­set­ze­rin, muss­te sich noch nicht fra­gen, wel­che Fas­sung sie neh­men soll­te, denn sie über­trug den Roman fast zeit­gleich mit sei­ner Ver­öf­fent­li­chung in Nor­we­gen. Damit griff sie einen Trend auf: Um 1890 war skan­di­na­vi­sche Lite­ra­tur in Deutsch­land in Mode, was nicht zuletzt an Hen­rik Ibsens Gesell­schafts­dra­men lag. Die Popu­la­ri­tät nord­eu­ro­päi­scher Kul­tur kam auch Ham­sun zugu­te, dank des skan­di­na­vi­schen Künst­ler­mi­lieus in Ber­lin wur­de sein Debüt­ro­man auf Deutsch in der Zeit­schrift Freie Büh­ne bespro­chen. Dort erschien auch ein Aus­zug in Marie von Borchs Über­set­zung (ein Umstand, den man auch in nor­we­gi­schen Zei­tun­gen zur Kennt­nis nahm, hat­te von Borch doch bereits Ibsen erst­mals ins Deut­sche gebracht und so im Hei­mat­land der bei­den Dich­ter einen gewis­sen Bekannt­heits­grad erlangt). Die­se Ver­öf­fent­li­chung wie­der­um erreg­te das Inter­es­se des Ver­le­gers Samu­el Fischer. So kam es dazu, dass Hun­ger bereits 1891 ins Pro­gramm des Fischer-Ver­lags auf­ge­nom­men wur­de, der sowie­so schon vie­le skan­di­na­vi­sche Autoren unter Ver­trag hatte.

Ham­sun konn­te zunächst zufrie­den sein, denn die Publi­ka­ti­on gewähr­te ihm Zugang zu einer gro­ßen euro­päi­schen Kul­tur­spra­che. Aller­dings ver­kauf­te sich Hun­ger recht beschei­den und er wur­de zudem beschul­digt, in sei­ner Erzäh­lung Hazard Dos­to­jew­skijs Spie­ler zu pla­gi­ie­ren. So kam es, dass Samu­el Fischer Ham­suns zwei­ten Roman, Mys­te­ri­en, nicht mehr ver­öf­fent­li­chen woll­te. Die Pla­gi­ats­af­fä­re mach­te Ham­sun schwer zu schaf­fen, und so ging er schließ­lich nach Paris, um Fran­zö­sisch zu ler­nen. Dort begeg­ne­te er den Dan­dy Albert Lan­gen, erzähl­te ihm von den Que­re­len um sei­nen zwei­ten Roman und zeig­te ihm das Über­set­zungs­ma­nu­skript der Mys­te­ri­en. Lan­gen war Feu­er und Flam­me und bot Samu­el Fischer an, für die Ver­öf­fent­li­chung die­ses Buches auf­zu­kom­men. Die Sum­me war aller­dings so hoch, dass er einen Rück­zie­her machen muss­te, und er spiel­te mit dem Gedan­ken, eigens für die Mys­te­ri­en selbst einen Ver­lag zu grün­den. Das tat er dann auch.

Wie sich her­aus­stell­te, war das die rich­ti­ge Ent­schei­dung. Auch nach­dem Albert Lan­gen 1909 ver­stor­ben war, ver­öf­fent­lich­te sein Ver­lag Ham­suns Bücher, dar­un­ter eine u. a. von Juli­us Sand­mei­er besorg­te Sam­mel­aus­ga­be, die ab 1921 erschien, ein Jahr, nach­dem der Autor für den Segen der Erde den Lite­ra­tur­no­bel­preis erhal­ten hat­te. Im Impres­sum zu Hun­ger steht aller­dings nicht, wel­chen nor­we­gi­schen Text Sand­mei­er sei­ner Über­set­zung zugrun­de legt. Bei einem inhalt­li­chen Ver­gleich fällt aller­dings auf, dass in Sand­mei­ers Buch meh­re­re Stel­len aus der Ver­si­on von 1890 feh­len. Noch dazu ist bei Sand­mei­er eine Text­stel­le zu fin­den, die Ham­sun erst ab der drit­ten Auf­la­ge hin­zu­ge­fügt hat. Der Über­set­zer hat also frü­hes­tens die Edi­ti­on von 1907 ver­wen­det, wenn nicht sogar die von 1916 Deutsch­spra­chi­gen Leser:innen waren bis zu Sieg­fried Wei­bels 2009 ver­öf­fent­lich­ter Fas­sung, die auf die Aus­ga­be von 1954 rekur­riert, nur also zwei von fünf Text­ver­sio­nen zugäng­lich – näm­lich Sand­mei­ers und Marie von Borchs.

Das ändert sich nun, da Ulrich Son­nen­berg für den Manes­se-Ver­lag eine neue Über­set­zung ange­fer­tigt hat, die den nor­we­gi­schen Text von 1890 zur Vor­la­ge nimmt – und zeit­gleich mit einer Neu­auf­la­ge von Juli­us Sand­mei­ers Fas­sung bei Ana­con­da auf den Markt kommt. In sei­nem Nach­wort schreibt Son­nen­berg, wes­halb es so wich­tig ist, die aller­ers­te Aus­ga­be zu über­set­zen: „Als Hun­ger 1890 erschien, war Ham­sun ein drei­ßig Jah­re alter radi­ka­ler Schrift­stel­ler, der das irra­tio­na­le See­len­le­ben schil­der­te und gegen den Rea­lis­mus oppo­nier­te. Die­se Ver­si­on des Autors soll­ten wir heu­te lesen, nicht die des Vierundsiebzigjährigen.“ 

„Ich kann mei­ne Bücher nicht mehr lesen, wenn ich mit der Kor­rek­tur durch bin, sind sie für mich gestor­ben“, schrieb Knut Ham­sun 1926 an den schwe­di­schen Lite­ra­tur­his­to­ri­ker Carl David Mar­cus. Aber Ham­sun, der in sei­nen Selbst­aus­künf­ten so zuver­läs­sig unzu­ver­läs­sig war wie die Erzäh­ler sei­ner Roma­ne, hat sehr wohl in den Text sei­nes Debüt­ro­mans ein­ge­grif­fen. Wie Stå­le Ding­stad und Hen­rik Peter­sen in ihren Kom­men­ta­ren anmer­ken, betrifft das vor allem zwei Sze­nen aus dem drit­ten Teil des Romans: Nach­dem er wie­der ein­mal fest­ge­stellt hat, dass er nach tage­lan­gem Hun­gern nichts mehr bei sich behal­ten kann, ver­liert der Erzäh­ler end­gül­tig die Geduld und bricht in eine blas­phe­mi­sche Tira­de aus. 

Jeg siger dig, jeg vil hel­ler være Lakej i Hel­ve­de end Fri i dine Boli­ger, jeg siger dig, jeg er fuld af liv­sa­lig Foragt for din him­mels­ke Ussel­hed, og jeg væl­ger mig Afgrun­den til evigt Til­hold, hvor Djæ­ve­len, Judas og Farao er stødt ned. Jeg siger dig, din Him­mel er fuld af alle Jor­de­ri­gets mest raaho­ve­de Idio­ter og fat­ti­ge i Aan­den, jeg siger dig, du har fyldt din Him­mel med de fede, sali­ge Horer her­ne­de­f­ra, som ynke­li­gen har bøjet Knæ for dig i sin Døds­stund. […] Jeg siger dig, hele mit Liv, hver Cel­le i min Krop, hver Evne i min Sjæl gis­per efter at haa­ne dig, du naa­deful­de Afs­kum i det høje. Jeg siger dig, jeg vil­de, om jeg kun­de, raa­be det­te høj­lydt ind i din Him­mel og hen, over den hele Jord, jeg vil­de, om jeg kun­de, aan­de det ind i hver ufødt Men­nes­kes­jæl, som engang kom­mer paa Jor­den, hver Blomst, hvert Blad, hver Draa­be i Havet. Jeg siger dig, jeg vil spot­te dig ud paa Dom­mens Dag og ban­de dig Tæn­der­ne ud af min Mund for din Gud­doms endelø­se Ynke­lig­hed.

(Knut Ham­sun, 1890)

Lass dir sagen, lie­ber wäre ich ein Lakai in der Höl­le als ein frei­er Mann in dei­nen Woh­nun­gen; lass dir sagen, ich bin vol­ler glück­se­li­ger Ver­ach­tung dei­ner himm­li­schen Erbärm­lich­keit, und ich erwäh­le mir den Abgrund als ewi­gen Auf­ent­halts­ort, in den der Teu­fel, Judas und Pha­rao hin­ab­ge­sto­ßen wur­den. Lass dir sagen, dein Him­mel ist voll der schwach­köp­figs­ten Idio­ten und Armen im Geis­te, lass dir sagen, du hast dei­nen Him­mel mit fet­ten, seli­gen Huren von hier unten ange­füllt, die in ihrer Todes­stun­de erbärm­lich die Knie für dich gebeugt haben. Lass dir sagen, mein gan­zes Leben, jede Zel­le mei­nes Kör­pers, alle See­len­kräf­te sind begie­rig dar­auf, dich zu ver­höh­nen, du gna­den­vol­ler Abschaum in der Höhe. Lass dir sagen, wenn ich könn­te, wür­de ich all dies laut­stark in dei­nen Him­mel und über die gan­ze Erde schrei­en, wenn ich es könn­te, wür­de ich dies jeder unge­bo­re­nen Men­schen­see­le ein­hau­chen, die irgend­wann ein­mal auf die Welt kommt, jeder Blu­me, jedem Blatt, jedem Trop­fen im Meer. Lass dir sagen, ich will dich am Tag des Jüngs­ten Gerichts ver­spot­ten und mir die Zäh­ne aus dem Mund flu­chen über die gren­zen­lo­se Erbärm­lich­keit dei­ner Gott­heit.

(Ulrich Son­nen­berg, 2023)

Wie Hen­rik Peter­sen im Nach­wort zu sei­ner Über­set­zung erläu­tert, ent­fernt Ham­sun in der Fas­sung von 1899 zwei Pas­sa­gen aus dem got­tes­läs­ter­li­chen Mono­log sei­nes Prot­ago­nis­ten und ersetzt sie durch eine neue, die deut­lich gekürzt ist. Die fol­gen­den Zei­len sind dem­entspre­chend nur bei Sand­mei­er, nicht aber bei Son­nen­berg zu lesen:

Bur­de du ikke vide det? Dan­ned du mit Hjær­te i Søv­ne? Jeg siger dig, hele mit Liv og hver Blods­draa­be i mig glæ­der sig over at haa­ne dig og bes­py­t­te din Naa­de.

(Knut Ham­sun, 1899)

Muss­test du das nicht wis­sen? Hast du mein Herz im Schlaf gebil­det? Ich sage dir: mein gan­zes Herz und jeder Bluts­trop­fen in mir freut sich dar­über, dich zu ver­höh­nen und dei­ne Gna­de zu bespei­en.

(Juli­us Sand­mei­er, 1921/2023)

Wie­so Ham­sun die­se zwei Pas­sa­gen gestri­chen hat, ist unklar. Zwar schreibt Ding­stad, der Autor habe die Auf­la­ge von 1899 vor der Druck­le­gung noch ein­mal gele­sen, aber er habe sich nicht dazu geäu­ßert, wel­che Ände­run­gen er genau ein­ge­fügt habe, nur, dass er den Roman noch ein­mal durch­ge­gan­gen sei. Viel­leicht hat Ham­sun mit den Strei­chun­gen aber auf nega­ti­ve Rezen­sio­nen reagiert. So schrieb am 16.06.1890 ein Kri­ti­ker im Kopen­ha­ge­ner Dag­bla­det, Ham­sun sei zwar der ers­te Skan­di­na­vi­er, der es mit Dos­to­jew­skij auf­neh­men kön­ne, aller­dings sei Hun­ger eher eine „Mate­ri­al­samm­lung“ als ein Roman: Er sei unsitt­lich, ansons­ten aber pas­se das Buch gut zu aktu­el­len Ten­den­zen im Kul­tur­be­trieb (was nicht als Kom­pli­ment gemeint ist): „Das Bedau­er­lichs­te an dem Buch ist, dass sein Autor ab und an offen­bar in vol­ler Absicht zyni­sche Wor­te und Bil­der ver­wen­det, auch erre­gen die oft­mals blas­phe­mi­schen Anru­fun­gen Got­tes und die bohè­me­haf­te Derb­heit, die etli­che Sei­ten die­ses Buches besu­delt, zwei­fel­los die Abscheu gebil­de­te­rer Leser.“

Auch wenn Hamuns Debüt­ro­man und sei­ne Dar­stel­lung von Hun­ger und Armut vie­ler­orts gut auf­ge­nom­men wur­den, wäre es nicht ver­wun­der­lich, wenn ihn eine der­art mora­lin­saure Kri­tik zur Strei­chung ver­meint­lich blas­phe­mis­ti­scher und por­no­gra­phi­scher Pas­sa­gen ver­an­lasst hät­te. Viel­leicht aber gab Ham­sun auch recht wenig auf Ver­ris­se wie die­sen und er sah sei­nen Text Jah­re nach des­sen Ver­öf­fent­li­chung schlicht­weg mit fri­schem Blick. Ham­sun sag­te ger­ne das eine und tat dann doch das ande­re: wes­we­gen es schwie­rig ist, den genau­en Grund für die Strei­chun­gen zu ermit­teln. Bei einer Prü­fung der gestri­che­nen Pas­sa­gen zeigt sich schnell, wie unter­schied­lich die Fas­sun­gen oft sind – oft auch in ihrer Über­set­zung. Wür­de Sand­mei­ers Ver­si­on einem kri­ti­schen Blick heut­zu­ta­ge über­haupt noch stand­hal­ten? Oder gilt viel­mehr, was oft auf Über­set­zun­gen klas­si­scher Tex­te zutrifft – die Vor­la­ge, ganz gleich, in wie vie­len Fas­sun­gen sie auch exis­tiert, altert nicht, ihre Über­set­zung hin­ge­gen schon? Und was macht Son­nen­berg anders als sein Vor­gän­ger, zumin­dest da, wo ein direk­ter Ver­gleich mög­lich ist?

In der Sua­da, die ab 1899 nicht mehr im Roman steht, wen­det sich der Erzäh­ler in Manier eines Hiob an Gott, der ihn ver­las­sen hat, und lässt ihn hören, wie sehr er ihn dafür ver­ach­tet. Zwar staf­fiert er sei­ne Rede mit Bibel­an­spie­lun­gen aus – z. B. auf „Selig sind die Armen im Geis­te, denn ihrer ist das Him­mel­reich“ aus dem Evan­ge­li­um nach Mat­thä­us –, das aber nur, um Gott ins Lächer­li­che zu keh­ren und ihn auf die Sinn­lo­sig­keit sei­ner teleo­lo­gi­schen Ver­spre­chun­gen hin­zu­wei­sen. Sei­nem Elend zum Trotz meint der Erzäh­ler aller­dings, er sei Gott über­le­gen: Auch am Tag des Jüngs­ten Gerichts möch­te er das Urteil des Herrn ver­spot­ten. Sol­che irra­tio­na­len, auch wider­sprüch­li­chen Aus­fäl­le sind ganz typisch für Ham­suns Roman, denn der Hun­ger lässt sei­nen Prot­ago­nis­ten nicht nur im meta­pho­ri­schen Sinn irre wer­den. Kein Grund also, die Beschimp­fung irgend­wie abzu­schwä­chen. Son­nen­berg behält in sei­ner Über­set­zung den schar­fen Ton bei: Im Him­mel­reich sind nur „schwach­köp­fi­ge Idio­ten“ („raaho­ve­de Idio­ter“) und „fet­te, seli­ge Huren“ („fede, sali­ge Horer“) anzu­tref­fen. Bei Sand­mei­er, dem nur die über­ar­bei­te­te Fas­sung vor­lag, klin­gen die Vor­wür­fe an Gott nicht halb so bis­sig. In der deut­schen Über­set­zung von 1921 kün­digt der Erzäh­ler nur an, er wer­de Gott ver­höh­nen und des­sen Gna­de „bespei­en“.

Aber das ist nicht die ein­zi­ge Pas­sa­ge, in der er reli­giö­se Gefüh­le mit Füßen tritt: „Jeg skal sige dig et, min kære Her­re Gud: du er en Noksagt! Og jeg nik­ker rasen­de, med sam­men­bidte Tæn­der op mod Sky­erne: Du er Fan ta mig en Noksagt!“, heißt es in den Fas­sun­gen von 1890 und 1916, als der Erzäh­ler wie­der ein­mal an den Unwäg­bar­kei­ten schei­tert. Ulrich Son­nen­berg über­setzt das Schimpf­wort „noksagt“ kon­se­quent so: „‚Eines will ich dir sagen, mein lie­ber Herr Gott: Du bist ein Scheiß­kerl!‘ Wütend und mit zusam­men­ge­bis­se­nen Zäh­nen nicke ich hin­auf zu den Wol­ken: ‚Zum Teu­fel noch mal, du bist ein Scheiß­kerl!‘“ Sand­mei­er hin­ge­gen scheint die gro­be Spra­che Pro­ble­me zu berei­ten: „Eines will ich dir sagen, mein lie­ber Herr und Gott: du bist ein – na kurz und gut! Und ich nicke wütend mit zusam­men­ge­bis­se­nen Zäh­nen zu den Wol­ken hin­auf: Du bist, der Teu­fel hol‘ mich, ein –“ Bei Sand­mei­er gehen außer­dem ent­schei­den­de Nuan­cen ver­lo­ren. Die Anre­de „min kære Her­re Gud“ klingt auch schon im Nor­we­gi­schen schräg, Son­nen­bergs über­setzt fol­ge­rich­tig mit „Herr Gott“. Sand­mei­ers „mein lie­ber Herr und Gott“ ist zu schwach, denn der Erzäh­ler akzep­tiert Gott eben nicht als sei­nen Herrn, son­dern spricht ihn an wie einen gewöhn­li­chen Mann von der Straße. 

Auch die ero­ti­sche Begeg­nung mit der Frau namens Yla­ja­li hat Ham­sun einer kräf­ti­gen Über­ar­bei­tung unter­zo­gen – hier streicht er nicht nur, son­dern fügt auch hin­zu, so lässt es sich an einem Ver­gleich zwi­schen der Fas­sung von 1907 und Sand­mei­ers Text able­sen.  Mit zuneh­men­dem Alter scheint der Autor prü­der gewor­den zu sein. So lau­tet die betref­fen­de Pas­sa­ge 1890 und 1899 noch folgendermaßen: 

»For­søg at faa fat på mig!« sag­de hun.
Og under megen Lat­ter for­søg­te jeg at faa fat på hen­de. Mens hun sprang omkring, løs­te hun Slø­ret op og tog Hat­ten af; hen­des spil­len­de Øjne hang frem­de­les ved mig og vog­ted paa mine Bevæ­gel­ser.

(Ham­sun, 1890/1899)

«Ver­su­chen Sie, mich zu fan­gen!», for­der­te sie mich auf. Und unter gro­ßem Geläch­ter ver­such­te ich, sie zu fan­gen. Wäh­rend sie umher­sprang, lös­te sie den Schlei­er und nahm den Hut ab; ihre leb­haf­ten Augen hin­gen noch immer an mir und taxie­ren mei­ne Bewe­gun­gen.

(Son­nen­berg 2023)

Die­se Pas­sa­ge wird laut Ding­stad ab 1907 abge­än­dert in:

Saa begynd­te hun at løse Slø­ret op og tog Hat­ten af; imens hang hen­des spil­len­de Øjne ved mig og vog­ted paa mine Bevæ­gel­ser saa jeg ikke skul­de faa fat i hen­de. 

(Ham­sun 1907)

Dann lös­te sie den Schlei­er und nahm den Hut ab; wäh­rend­des­sen hin­gen ihre fun­keln­den Augen an mir und wach­ten auf mei­ne Bewe­gun­gen, damit ich sie nicht fas­sen könn­te.

(Sand­mei­er 1921/2023)

Wenn Ham­sun nur die Hand­lung wie­der­gibt, aber auf die Dia­log­zei­le ver­zich­tet, wirkt die Pas­sa­ge weni­ger unmit­tel­bar. Aber das hin­dert ihn nicht dar­an, die Tem­pe­ra­tur an einer ande­ren Stel­le wie­der hoch­zu­schrau­ben: „Hvil­ken vid­under­lig Nydel­se!“, denkt der Erzäh­ler in den ers­ten bei­den Fas­sun­gen noch über Yla­ja­li (Son­nen­berg: „Welch wun­der­ba­rer Genuss!“). Ab 1907 steht da: „Hvil­ken vid­under­lig Nydel­se at sid­de i en Men­nes­ke­bo­lig igen og høre en Klok­ke tik­ke og snak­ke med en ung, leven­de Pige isteden­for med mig selv“ (Sand­mei­er: „Welch ein wun­der­ba­rer Genuss, wie­der in einer mensch­li­chen Woh­nung sit­zen und eine Uhr ticken zu hören, und anstatt mit mir selbst mit einem jun­gen, leben­di­gen Mäd­chen zu reden!“). Und wo den Erzäh­ler in den Aus­ga­ben von 1890 und 1899 jedes von Yla­ja­lis Wor­ten noch trifft wie „Wein­trop­fen mit­ten ins Herz“, ist ab 1907 fol­gen­der Zusatz zu lesen: „skønt hun vist var en svært almin­de­lig Kris­tia­nia­pi­ge med Jar­gon og smaa Kæk­he­der og Prat“ (Sand­mei­er: „obwohl sie gewiss­lich ein höchst durch­schnitt­li­ches Kris­tia­nia­mäd­chen war, mit Jar­gon und klei­nen Keck­hei­ten und Geschwätz“). Wie Peter­sen in sei­nem Nach­wort schreibt, führt die­se Kon­kre­ti­sie­rung zu einem sti­lis­ti­schen Wider­spruch, weil der Erzäh­ler hier einen Kom­men­tar zu „Yla­ja­lis“ gesell­schaft­li­cher Stel­lung abgibt und damit – obwohl er doch eigent­lich der anony­me Mensch aus der Mas­se ist – plötz­lich die Fra­ge nach sei­ner eige­nen Klas­sen­zu­ge­hö­rig­keit aufwirft. 

Ding­stad zitiert noch eine wei­te­re Pas­sa­ge von 1899, die 1907 ver­schwun­den und durch einen neu­en Abschnitt ersetzt wor­den ist:

»Ja, lad mig faa kys­se Dem paa Brys­tet først, saa.«
»Er De gal? Saa, begynd nu!«
»Nej, kære, lad mig nu faa Lov til det først!« »Hm. Nej, ikke først .… Siden kans­ke … Jeg vil høre, hvad De er for et Men­nes­ke.… Aa, jeg er sik­ker paa, det er for­fær­de­ligt!«
Det pin­te mig ogsaa, at hun skul­de tro det værs­te om mig, jeg var ban­ge for at stø­de hen­de helt bort, og jeg holdt ikke ud den Mistan­ke, hun hav­de om mit Lev­net. Jeg vil­de ren­se mig i hen­des Øjne, gøre mig vær­dig til hen­de, vise hen­de, at hun sad ved en paa det nær­mes­te eng­le­ren Per­sons Side. Herre­gud, jeg kun­de jo tæl­le paa Fin­ger­ne mine Fald til Dato.
Jeg for­tal­te, jeg

(Ham­sun 1890/1899)

«Ja, aber las­sen Sie mich erst Ihre Brust küs­sen, dann.»
«Sind Sie ver­rückt? Los, fan­gen Sie an!»
«Nein, Liebs­te, erlau­ben Sie es mir zuerst!» «Hm. Nein, nicht zuerst … Spä­ter viel­leicht … Ich will hören, was für ein Mensch Sie sind … Oh, ich bin sicher, es ist ent­setz­lich!»
Es quäl­te mich, dass sie das Schlimms­te von mir glaub­te, ich hat­te Angst, sie ganz von mir fort­zu­sto­ßen, und ertrug den Ver­dacht nicht, den sie hin­sicht­lich mei­ner Lebens­wei­se heg­te. Ich woll­te mich in ihren Augen rein­wa­schen, ich woll­te mich ihrer wür­dig erwei­sen, ihr zei­gen, dass sie neben einer nahe­zu engels­rei­nen Per­son saß. Herr­gott, ich konn­te mei­ne Ver­ge­hen bis heu­te doch an einer Hand abzäh­len.
Ich erzähl­te, ich

(Son­nen­berg 2023)

Ab 1907 steht da nur noch:

Aa hvor jeg blev træt! Hvor gær­ne jeg hel­ler vil­de have sid­det stil­le og set paa hen­de end ska­be mig til og mase med all dis­se For­søg. Jeg due­de til intet, jeg var ble­ven en Klud.

Begynd nu! sa hun. Jeg greb Lej­lig­he­den og

(Ham­sun 1907)

Ach wie müde ich gewor­den war! Wie ger­ne wäre ich lie­ber still geses­sen und hät­te sie ange­se­hen, als mich hier auf­zu­spie­len und mich mit all die­sen Ver­su­chen zu quä­len. Ich taug­te zu nichts, ich war ein Fet­zen gewor­den.

Fan­gen Sie an!, sag­te sie. Ich ergriff die Gele­gen­heit und

(Sand­mei­er 1921/2023)

Zwar sind sich der Erzäh­ler und „Yla­ja­li“ in der Pas­sa­ge von 1890 sym­pa­thisch, aber der Erzäh­ler schämt sich für sei­ne Armut, auch bei „Yla­ja­li“ sieht es nicht viel bes­ser aus – obwohl es sie nicht ganz so schlimm getrof­fen hat wie ihn. Auch wenn die Sache nicht gut aus­geht, ist nicht alles düs­ter, und die Sze­ne ist geprägt von einer ero­ti­schen Vita­li­tät. Ganz anders in der Fas­sung von 1907: Der Kuss auf die Brust fehlt, der Dia­log zwi­schen Yla­ja­li und dem Erzäh­ler ist gestri­chen. So blei­ben dem Erzäh­ler nur noch Selbst­kas­tei­ung und Desillusion. 

Die­se weni­gen Bei­spie­le zei­gen schon, wie sehr die Deu­tung – und damit auch die Über­set­zung – eines Klas­si­kers von der jeweils gewähl­ten Vor­la­ge abhängt. Wie ist Hun­ger also zu lesen? Der Text von 1890 ist uner­bitt­li­cher, etwa, wenn es um die Fra­ge geht, wie­so Gott das Leid des Erzäh­lers zulässt, aber auch zärt­li­cher, denn dass sich die Figur trotz ihrer zahl­rei­chen Pro­ble­me über­haupt auf „Yla­ja­li“ ein­las­sen mag, setzt eine gewis­se Bereit­schaft zur Ver­letz­lich­keit vor­aus. Das ändert sich in den spä­te­ren Fas­sun­gen. Zum einen wer­den die wüten­den Tira­den gegen Gott abge­schwächt, zum ande­ren macht die Leb­haf­tig­keit, die dem Erzäh­ler aller wid­ri­gen Umstän­de zum Trotz zu eigen ist, einer grö­ße­ren Ernüch­te­rung Platz. Wel­che Ver­si­on ist also die bes­se­re? Das hängt vor allem davon ab, wie gut oder schlecht die Über­set­zun­gen ihre jewei­li­ge Vor­la­ge wiedergeben. 

Obwohl Marie von Borch Hun­ger als ers­te ins Deut­sche gebracht hat­te, lässt sich Juli­us Sand­mei­ers Ein­fluss auf die deut­sche Rezep­ti­on von Ham­suns Debüt kaum abstrei­ten. „Sand­mei­er, ein her­vor­ra­gen­der Über­set­zer, hat jetzt … den Auf­trag erhal­ten, Ham­suns gesam­mel­te Wer­ke zu über­set­zen“, stand 1921 in einer Notiz der Zei­tung Har­stad Tid­ende zu lesen. Seit 1921 ist sei­ne Fas­sung immer wie­der erschie­nen, nicht nur bei Albert Lan­gen, son­dern auch bei List, Suhr­kamp oder dtv. 

Bei einer nähe­ren Lek­tü­re fällt zunächst ein­mal auf, wie wört­lich Sand­mei­er oft über­setzt. Als der Erzäh­ler ver­sucht, sich als Feu­er­wehr­mann zu bewer­ben, war­tet er mit zahl­rei­chen Kon­kur­ren­ten auf den Bescheid: „Vi stod halv­hund­re­de Mand i For­hal­len“, steht bei Ham­sun. Son­nen­berg schreibt: „Wir stan­den zu fünf­zig Mann in der Vor­hal­le“. Und Sand­mei­er: „Wir stan­den ein hal­bes Hun­dert Mann in der Vor­hal­le“. Zwar ist auch schon das Nor­we­gi­sche schräg, aber wenn ein­fach so über­nom­men wird, was im Text steht, klingt es auch im Deut­schen ver­kehrt. Son­nen­berg ent­schei­det sich für die ein­zig nach­voll­zieh­ba­re Lösung, wäh­rend Sand­mei­er skla­visch an der Vor­la­ge kle­ben bleibt. Als der Erzäh­ler sich aus­denkt, wie eine weib­li­che Zufalls­be­kannt­schaft hei­ßen soll („Yla­ja­li“), ver­passt er ihr damit „einen Namen mit einem geschmei­di­gen, ner­vö­sen Laut“ (Son­nen­berg), der bei Sand­mei­er zu einem Namen mit einem „glei­ten­den, ner­vö­sen Laut“ wird. Zwar gibt Sand­mei­er Ham­suns „gli­den­de“ lexi­ka­lisch kor­rekt wie­der, aber Son­nen­bergs Lösung ist um eini­ges bes­ser, weil sie am tref­fends­ten die tak­ti­le, gera­de­zu ero­ti­sche Qua­li­tät der Spra­che trans­por­tiert, die ein wich­ti­ges Ele­ment von Ham­suns vita­lis­ti­scher Poe­tik ist. 

Wäh­rend sich der Prot­ago­nist bei Son­nen­berg ledig­lich „einen Ruck“ gibt, „strammt“ er sich bei Sand­mei­er „auf“ – eine Über­set­zung, durch die der nor­we­gi­sche Text her­aus­dröhnt, denn bei Ham­sun heißt es: „jeg stram­met mig op“. Aber nicht nur das, manch­mal über­setzt Sand­mei­er so wört­lich, dass nicht klar wird, was eigent­lich gemeint ist. „Natur­lig­vis ville jeg hil­se dypt på hen­ne“, schreibt Ham­sun an einer Stel­le. Sand­mei­er macht hier­aus: „Natür­lich wür­de ich sie tief begrü­ßen“ – womit, wie Son­nen­berg kor­rekt wie­der­gibt, ledig­lich eine „tie­fe Ver­beu­gung“ gemeint ist. In einer wei­te­ren Pas­sa­ge gibt sich der Erzäh­ler beim Spa­zie­ren sei­nen Gedan­ken hin und beob­ach­tet wäh­rend­des­sen ande­re Men­schen, die, zumin­dest bei Sand­mei­er, „jung und vor kur­zem erschlos­sen“ wor­den sind. Die­se Stel­le ergibt erst bei Son­nen­berg Sinn, der Ham­suns „utsprun­gen“ zutref­fend mit „erblüht“ übersetzt. 

Eben­so ist Sand­mei­ers Über­set­zung an vie­len Stel­len inkon­se­quent, unfrei­wil­lig komisch oder falsch. Zei­tungs­na­men tau­chen bei ihm mal auf Deutsch („Mor­gen­blatt“), mal auf Nor­we­gisch („Aften­pos­ten“) auf, das Son­der­zei­chen „æ“ wird mit „ae“ wie­der­ge­ge­ben (z. B. die Orts­be­zeich­nung „Grænd­sen“, die Sand­mei­er falsch schreibt: „Graen­sen“). Sol­che Ver­se­hen hät­ten sich in einer Neu­auf­la­ge durch­aus kor­ri­gie­ren las­sen. Wegen sei­ner Ver­wahr­lo­sung hat der Erzäh­ler Angst, er gel­te als jemand, der „klei­ne Mäd­chen auf­ga­beln“ geht (Son­nen­berg; Ham­sun: „kapred Smaa­pi­ger“). Bei Sand­mei­er wer­den die Mäd­chen „geka­pert“ (viel­leicht hät­te „ent­führt“ bes­ser gepasst, „auf­ga­beln“ ist ein wenig zu schwach for­mu­liert, immer­hin geht es hier um ein Ver­bre­chen). Er bezeich­net läs­ti­ge Kin­der, die bei Ham­sun bloß „Tyve­tø­ser“ hei­ßen, gleich als „Dir­nen“, wäh­rend Son­nen­berg das Schimpf­wort rich­tig mit „klei­ne Rotz­gö­ren“ über­setzt – hier ist nicht von Pro­sti­tu­ier­ten die Rede („tøs“ ist nicht nur ein älte­res Wort für ein klei­nes Mäd­chen, son­dern auch für eine Sex­ar­bei­te­rin, dann aber eher in der Ver­bin­dung „Gade­tøs“, „Stra­ßen­mäd­chen“). 

Aber Sand­mei­ers Über­set­zung macht nicht nur auf der lexi­ka­li­schen, son­dern auch auf der syn­tak­ti­schen Ebe­ne Pro­ble­me. „Sogar nach­dem ich eine Bank gefun­den und mich nie­der­ge­setzt hat­te, fuhr die­se Fra­ge fort, mich zu beschäf­ti­gen und mich zu hin­dern, an ande­re Din­ge zu den­ken“, steht bei Sand­mei­er im ers­ten Teil des Romans. Son­nen­berg macht dar­aus: „Auch nach­dem ich eine Bank gefun­den und mich gesetzt hat­te, beschäf­tig­te mich die­se Fra­ge noch und hin­der­te mich dar­an, an ande­re Din­ge zu den­ken.“ Ein Blick in die nor­we­gi­schen Vor­la­gen macht klar, wie­so Son­nen­bergs Vor­schlag gelun­ge­ner ist (hier zitiert in der Fas­sung von 1890, der Text bleibt 1917 inhalt­lich unver­än­dert ste­hen): „Endog efte­r­at jeg hav­de fun­det mig en Bænk og sat mig ned, ved­blev det­te Spørgs­m­aal at sys­selsæt­te mig og hind­re mig fra at tæn­ke paa and­re Ting.“ Sand­mei­ers Infi­ni­tiv­kon­struk­ti­on („fuhr fort zu … und mich zu …“) liest sich zu schwer­fäl­lig, er han­gelt sich mecha­nisch an Ham­suns Text ent­lang. Hier wer­den zwei Tätig­kei­ten fort­ge­setzt: Der Erzäh­ler stellt sich nicht nur die glei­che Fra­ge mehr­mals hin­ter­ein­an­der, sie hält ihn auch noch von ande­ren, viel­leicht ertrag­rei­che­ren Über­le­gun­gen ab. Son­nen­berg über­setzt Ham­suns „ved­blev det­te Spørgs­m­aal at sys­selsæt­te mig“ sehr ele­gant mit „beschäf­tig­te mich die­se Fra­ge noch“ und umgeht dadurch den lei­di­gen Infi­ni­tiv. Da er aller­dings zu einem Verb mit Prä­po­si­ti­on greift (jeman­den an etwas hin­dern), wirkt auch sei­ne Vari­an­te etwas unbe­hol­fen: „… beschäf­tig­te mich die­se Fra­ge noch und hielt mich von wei­te­ren Gedan­ken ab“ wäre viel­leicht eine bes­ser les­ba­re Lösung. 

Da Knut Ham­suns Werk 2023 gemein­frei wird, ist es kei­ne Über­ra­schung, dass eine alte und eine neue deut­sche Fas­sung von Hun­ger in den Han­del kom­men, aber hier­an lässt sich able­sen, wie kurz die Halb­wert­zeit einer Über­set­zung manch­mal ist. Zwar hat sich Sand­mei­ers Text immer­hin bis zu Wei­bels Fas­sung von 2009 gehal­ten, aber im direk­ten Ver­gleich mit Son­nen­bergs Ver­si­on fällt nicht nur auf, wie ver­al­tet er ist, son­dern auch, wie groß die Unter­schie­de zwi­schen dem nor­we­gi­schen Aus­gangs­text von 1890 und 1916 sind. Außer­dem sticht her­aus, wie eng sich Sand­mei­er an die Vor­la­ge klam­mert. Ins­ge­samt fin­det Son­nen­berg pas­sen­de­re Lösun­gen, etwa auf der Satz­ebe­ne, aber durch behut­sa­me Archai­sie­run­gen macht er den zeit­li­chen Abstand zwi­schen Aus­gangs- und Ziel­text klar: Zum Bei­spiel über­setzt er Ham­suns „naar Lykken var god“ mit „wenn das Glück mir gewo­gen war“, moder­ni­siert aber auch dort, wo es nötig ist: Der „Rausch von Inspi­ra­ti­on …“, der bei Sand­mei­er noch „eines wun­der­ba­ren Him­mels Tat“ am Geist des Erzäh­lers war, wird bei Son­nen­berg zur „Tat des wun­der­vol­len Him­mels“. Zwar mögen Geni­tiv­in­ver­sio­nen für einen Text von 1921 noch gera­de so in Ord­nung sein, 2023 wären sie aber mehr als alt­ba­cken. Nur manch­mal ist nicht nach­voll­zieh­bar, wie­so Son­nen­berg Gedan­ken des Erzäh­lers in Anfüh­rungs­zei­chen setzt, wo doch im Nor­we­gi­schen kei­ne stehen.

Aber das sind bloß Klei­nig­kei­ten. Wer Hun­ger oder das Werk des nor­we­gi­schen Lite­ra­tur­no­bel­preis­trä­gers über­haupt ken­nen­ler­nen will, ist mit Son­nen­berg bes­tens bedient. Anders sieht das bei Sand­mei­er aus. Sei­ne Über­set­zung ist völ­lig aus der Mode gekom­men und höchs­tens noch für die­je­ni­gen von Belang, die sich mit Ham­suns Rezep­ti­on in Deutsch­land ver­traut machen wol­len und dafür eine Refe­renz­aus­ga­be benö­ti­gen. Das dürf­ten aller­dings die wenigs­ten sein. Dar­über hin­aus ist frag­lich, wie­so der Ana­con­da-Ver­lag eine Über­set­zung neu auf den Markt bringt, die ganz leicht online zu fin­den und noch dazu nicht unbe­dingt die gelun­gens­te ist. Son­nen­berg, der an den Anfang zurück­geht und den Text in sei­ner ursprüng­li­chen, wil­de­ren Form ins Deut­sche holt, dürf­te der deutsch­spra­chi­gen Ham­sun-Rezep­ti­on eini­ge neue Facet­ten hin­zu­fü­gen, eine Neu­auf­la­ge von Sand­mei­ers Fas­sung eher nicht.


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