In ihrem Roman Mein Herz ist eine Krähe lässt Lina Nordquist zwei sehr verschiedene Frauen zu Wort kommen. Abwechselnd erzählen Unni und Kåra: Die eine ist stark, mutig, voller Liebe, trotzt allen Widrigkeiten, die ihr das Leben beschert, und wächst dabei über sich hinaus. Die andere wird seit ihrer Kindheit von Angstzuständen geplagt, ist zutiefst unglücklich und über Jahrzehnte nicht in der Lage, ihre Lebenssituation nach ihren Vorstellungen zu gestalten.
Die beiden trennen 70 Jahre. Und doch verbindet sie mehr, als es zunächst den Anschein hat: das Haus, in dem sie leben, die Liebe zu Roar, dem Sohn der einen und Schwiegervater der anderen. Und beide finden erst Frieden, als sie das Haus, in dem sie Jahrzehnte verbracht haben, für immer verlassen.
Mein Herz ist eine Krähe, in Schweden 2022 vom größten Buchclub des Landes zum Buch des Jahres gekürt, ist aber nicht nur eine Erzählung von zwei Frauenschicksalen. Vielmehr geht es um ein Leben abhängig von den Launen der Natur, um Themen wie Armut, mangelnde Gesundheitsversorgung, sexuellen Missbrauch, psychische Erkrankungen und Tod. Schwere Kost, die Lina Nordquist mit einer bildhaften und naturverbundenen Sprache und einer emotionalen Familiengeschichte aufbereitet. Dem Übersetzer Stefan Pluschkat ist es gelungen, den Stil der Autorin ins Deutsche zu übertragen und dabei die Intensität der Erzählung zu bewahren.
Historischer Stoff auf zwei Ebenen
Unnis Erzählung beginnt um das Jahr 1900, als sie mit ihrem unehelichen Sohn Roar ihrer Heimat Norwegen den Rücken kehren muss, um einer ungerechtfertigten Einweisung in eine Nervenheilanstalt zu entgehen. Mit ihrem Freund Armod, der Roar wie einen eigenen Sohn annimmt, flieht sie in die schwedischen Wälder. Gemeinsam lassen sie sich in Hälsingland in einer alten Kate nieder, die ihnen ein Bauer aus der Gegend zur Verfügung stellt. Geld für einen Kauf haben sie nicht, deshalb soll Armod sie zehn Jahre lang mit schwerer körperlicher Arbeit abbezahlen. „Frieden“ nennen sie ihr neues Zuhause. Doch ihr Dasein ist alles andere als friedlich. Der Hunger ist ihnen ein ständiger Begleiter, weil ihnen das raue Klima, die Hitze und die Kälte die Bevorratung von Lebensmitteln erschweren. Das Leben in den schwedischen Wäldern zu dieser Zeit ist hart.
Unni muss viele Schicksalsschläge bewältigen, jeder für sich schwer genug, um einen Menschen zu brechen: den Tod ihres Mannes Armod, den Tod ihrer ersten Tochter und schließlich die Tatsache, dass sie ihre zweite Tochter in die Obhut einer fremden Familie geben muss, weil sie sie nicht ernähren kann. All das übersteht sie dank des starken Zusammenhalts zwischen den verbleibenden Familienmitgliedern und ihrer unerschütterlichen Liebe zu ihren Kindern. Diese Liebe ist es auch, die sie Jahre später, als ihr Sohn Roar schon erwachsen ist und selbst eine Familie gründet, dazu bringt, „Frieden“ für immer zu verlassen und nach Norwegen zurückzukehren.
Kåras Erzählung ist Ende der Sechzigerjahre angesiedelt. Aus der Kate ist ein Haus geworden, in dem Roar mit seiner Frau Bricken sowie seinem Sohn Dag und dessen Familie lebt. Nun ist er im Alter von siebzig Jahren gestorben, und Bricken und seine Schwiegertochter Kåra bleiben allein im Haus zurück. Kåra berichtet mal über die Zeit nach Roars Tod, mal aus den Jahren, die sie hier als Dags Frau verbracht hat.
Jahrzehntelang haben Land- und Waldarbeit den Alltag der Bewohner von „Frieden“ geprägt. Kåra passt nicht in diese Welt, sie fühlt sich gefesselt an das Haus, in dem ihr Mann und ihr Sohn leben. Seit ihrer Kindheit hat sie mit Angstzuständen zu kämpfen, Tabletten zur Beruhigung sind ihr ein vertrauter Begleiter. Ihren Mann Dag empfindet sie als schwach und einfältig. Liebe findet sie nur bei ihrem Schwiegervater Roar. Es scheint die einzige Beziehung in ihrem Leben zu sein, in der sie zu tieferen Gefühlen fähig ist. Erst als auch ihre Schwiegermutter auf dem Sterbebett liegt, kann Kåra das Haus verlassen und findet, nach all den Jahren innerer Unruhe und Verzweiflung, endlich Frieden.
Ein Spiel mit Gegensätzen
Nordquists Roman lebt von Kontrasten. Der offensichtlichste ist der zwischen den beiden Frauen Unni und Kåra. Die eine gewinnt und bewegt die Herzen der Leser:innen, weckt Mitgefühl, rührt mit ihrem Mut und ihrer unerschütterlichen Mutterliebe zu Tränen. Wie ein Gegengewicht dazu formt sich die Figur Kåras, die keine Mutterliebe zu schenken vermag. Die mit ihrem Leben hadert, aber nicht in der Lage zu sein scheint, es zu ändern. Als Leser:in hält man Distanz zu ihr, weil die frühe Andeutung eines Geheimnisses ihre Moral schon auf den ersten Seiten infrage stellt. Doch wäre es zu einfach, sie als gefühlskalt zu charakterisieren. Denn im Grunde ist sie wie Unni auch ein Mensch, der vom System im Stich gelassen wird.
Die auf allen Ebenen wichtige Verbindung der Figuren mit der Natur erzeugt Nordquist unter anderem, indem sie Gegenständliches und Abstraktes personifiziert und zu einer Art Teil von Unnis Familie macht.
Den där första snön hade lagt sin mjuka arm om oss alla med sina flingor, men vintern var inte längre mjuk och mild – bara tjäle, tomma bärbuskar och döda fält.
[…]
Snösmältningen sköljde bort den sista tveksamheten och gav rum för vresig beslutsamhet i oss båda. Sälgens vinterknoppar mötte oss från bar kvist. Hon blommade först av alla, knoppfjällen sökte sig mot solen. Väck de andra träden, lilla videung!
[…]
Majvind. Spröd värme äntligen. Huset bytte skepnad, luktade torra brädor och solvarm kåda.
Der erste Schnee hatte uns noch sanft umarmt, doch jetzt hatte der Winter nichts Weiches und Mildes mehr an sich ‒ nur Bodenfrost, kahle Beerensträucher, tote Felder.
[…]
Die Schneeschmelze spülte die letzten Zweifel fort und schuf Platz in Armod und mir für rohe Entschlossenheit. An den Zweigen der Salweide zeigten sich die ersten Triebe. Sie machte den Anfang auf unserem Hof, und ihre schuppigen Winterknospen wandten sich der Sonne zu. Weck die anderen Bäume, kleine Weide!
[…]
Maiwind, endlich milde Wärme. Das Haus bekam ein neues Gesicht, roch jetzt nach trockenem Holz und sonnenwarmem Harz.
Dem Übersetzer Stefan Pluschkat gelingt es grundsätzlich gut, die dem Ausgangstext eigene Tonalität ins Deutsche zu übertragen. Insgesamt fällt auf, dass er sehr auf Rhythmus und Klang seiner Formulierungen achtet. Das zeigt auch die hier zitierte Textstelle. So dürfte beispielsweise der Verzicht auf die Konjunktion „und“ im letzten Satz des ersten Absatzes auf solche Überlegungen zurückzuführen sein. Und es finden sich zahlreiche weitere Belege dafür, noch recht am Anfang heißt es beispielsweise: „Trauer fragt nicht nach Richtig oder Falsch, Glück nicht nach Moral“. Zeugmaartig verbindet Pluschkat zwei Sätze, wo Nordquist im Original zwei vollständige Hauptsätze mit zwei verschiedenen Verben verwendet („Sorg mäter inte rätt och fel. Lycka behöver ingen moral.“).
Hier wird der Erzählstil der Autorin aber auch geglättet. Im Original ist er etwas weniger flüssig als in der Übersetzung und manchmal wie von einem externen Beobachter verfasst wirkt. Das liegt auch daran, dass Nordquist sparsam mit Füll- und Bindewörtern umgeht. In ihren Naturschilderungen reihen sich Sätze oft unverbunden aneinander. Die Übersetzung von Stefan Pluschkat bedient sich häufiger einiger Füll- und Bindewörter (im vorliegenden Textbeispiel sei das Adverb „jetzt“ im ersten und letzten Absatz genannt) oder verbindet sie durch eine Veränderung der Syntax (wie in „Maiwind, endlich milde Wärme). Das auch schon mal über Absätze hinweg:
[…] en kväll, bara några veckor innan du fyllde elva år, fick jag mina färger tillbaka.
Det såg illa ut först.
Ein paar Wochen vor deinem elften Geburtstag bekam ich binnen eines Abends meine Farben zurück.
Dabei sah es schlecht aus für uns.
Eine Herausforderung bei einer Übersetzung aus dem Schwedischen sind die häufig verwendeten Nominalkomposita, die sich nicht immer 1:1 ins Deutsche übertragen lassen. Stefan Pluschkat weiß solche Stellen durch umschreibende Formulierungen gut zu lösen, wie oben im ersten Beispiel „knoppfjäll“. Die deutsche Entsprechung „Knospenschuppen“ wäre zwar botanisch korrekt, würde aber fremd klingen und dadurch den Fluss stören. Leider verliert der deutsche Text dadurch ein wenig von der Schlichtheit, die das Original an dieser Stelle bereithält.
Auch die folgende Textstelle zeigt den Gegensatz von Schönheit und Grausamkeit, der in Nordquists Formulierungen allgegenwärtig ist. Wir befinden uns in einer Zeit, in der Roar zum Jugendlichen heranwächst. Nach dem Tod von Armod muss Unni immer wieder sexuelle Übergriffe seitens des Besitzers der Kate über sich ergehen lassen, als „Kompensation“ für die nun fehlende Arbeitsleistung Armods. Als einer dieser Übergriffe zu eskalieren droht, greift Roar ein, mit schwerwiegenden Folgen.
Kanske var det sex timmar kvar till sommarskymningen. Vi gick ut en stund och lät stugdörren stå öppen för att släppa in livet och vädra ut döden. Utomhus var en vanlig dag. Fjärilar i gräset. Rost på spannen vid väggen. Jag spottade bitar av mina tänder bland blommorna utanför stugdörren und kisade mot solljuset som om jag stigit ut ur en mörk grotta.
Bis zur Dämmerung waren es gut sechs Stunden. Wir gingen hinaus und sperrten die Tür weit auf, um den Tod auszulüften und das Leben hereinzulassen. Draußen war der Tag wie jeder andere. Schmetterlinge über der Wiese. Rostflecken auf den Eimern an der Hauswand. Ich spuckte meine Zahnsplitter zwischen die Blumen neben dem Eingang und blinzelte in die Sonne, als käme ich aus einer stockfinsteren Höhle.
Es fällt auf, dass Pluschkat hier im letzten Satz eine auf den ersten Blick schwächere Formulierung gewählt hat als, sie vom Original vorgegeben wird: „stigit ut ur en mörk grotta“ impliziert eine aktivere, bewusstere Handlung, eine befreiende Bewegung im Sinne von „ins Freie treten“ oder im übertragenen Sinne auch „sich befreien“, die das deutsche Wort „kommen“ nicht in gleicher Intensität abbildet. Allerdings ist denkbar, dass diese Abschwächung zugunsten der Schlichtheit des Stils bewusst erfolgt ist. Das Bild bleibt auch mit einem neutraleren Verb sehr stark.
Abschließend sei aber noch eine Stelle erwähnt, an der dann doch zu sehr in den Text eingegriffen wurde:
Så jag viskar mina minnen till dig, Roar ‒ jag gör det tyst så att du inte ska höra. Jag låter orden stiga upp mot grässtråets gröne, mot himlen ovanför oss. Jag berättar allt för dig och hoppas att du aldrig, aldrig får veta. Allt vackert önskar jag dig. Jag har älskat, och det är det största.
Deshalb flüstere ich dir meine Erinnerungen zu, Roar ‒ so leise, dass du sie nicht hören wirst. Ich lasse die Erinnerungen zum Grün des Grashalms emporschweben und weiter zum Himmel über uns. Ich erzähle dir alles und hoffe, du wirst es nie, nie erfahren.
Hier sind die beiden letzten Sätze des schwedischen Originals im Deutschen komplett gestrichen worden (durch den Übersetzer? das Lektorat?). Gerade durch die bekommt Unnis Aussage aber eine andere Emotion: Während der deutsche Text mit Unnis Zwiespalt endet, sich einerseits endlich alles von der Seele reden und andererseits Roar vor der Wahrheit über seine Familie schützen zu wollen, schließt der schwedische Text versöhnlicher: Sie wünscht ihrem Sohn alles Schöne und sieht es voller Dankbarkeit als größtes Geschenk, dass sie lieben durfte.
Warum diese beiden Sätze entfallen sind, erschließt sich aus dem Kontext nicht, sodass ein so starker, sinnverändernder Eingriff in den Text nicht gerechtfertigt scheint.
Eine innige Verbindung zur Heimat
Dass Lina Nordquist die Landschaft, die einen zentraler Bestandteil ihrer Erzählung ausmacht, so intensiv zu beschreiben vermag, ist nicht verwunderlich, wenn man weiß, wo sie aufgewachsen ist. In einem Interview erzählt sie „Die Umgebung ergab sich ganz natürlich, weil ich selbst aus der Region Hälsingland stamme, und weil es die Umgebung ist, die ich am besten kenne und am liebsten mag. Und weil sie so schön ist, wirkt die Erzählung noch brutaler.“
Eben dieser Gegensatz zwischen der fein beschreibenden Sprache und den schweren Schicksalen der beiden Hauptfiguren macht Mein Herz ist eine Krähe lesenswert. Nordquists Schilderungen strahlen zugleich Intensität und Sensibilität aus, und dem Übersetzer Stefan Pluschkat gelingt es gut, diesen Ton einzufangen und auf Deutsch wiederzugeben. Hin und wieder glättet er die eine oder andere Eigenheit des Ausgangstextes, und es lässt sich darüber streiten, ob er sich damit vielleicht schon zu weit vom Ausgangstext entfernt. Im direkten Vergleich der beiden Texte fallen diese Stellen auf; bei der einsprachigen Lektüre bleibt davon aber lediglich der Eindruck eines mühelosen, angenehmen und sanft bewegenden Leseerlebnisses.