Einer meiner Lieblingsfilme ist Und täglich grüßt das Murmeltier, in dem ein von Bill Murray gespielter, egozentrischer Wetteransager in einer Zeitschleife feststeckt und erst nach einer langen Reise der Selbsterkenntnis aus ihr erlöst wird. Ganz ähnlich ergeht es der Hauptfigur in Solvej Balles Roman Über die Berechnung des Rauminhalts I – kein Wunder also, dass es meine diesjährige Lieblingsübersetzung ist.
Die Buchhändlerin Tara Selter ist auf dem Rückweg einer Antiquariatsmesse in Bordeaux, als sie bemerkt, dass sie den Morgen im Hotel schon einmal erlebt hat. Sie versucht zunächst, sich jedes Detail zu merken und weiht ihren Freund Thomas ein, doch am nächsten Tag kann nur sie sich an alles erinnern. Mit jeder Wiederholung des achtzehnten Novembers verblassen auch ihre eigenen Erinnerungen. Aber nicht nur das, auch Verbrennungen werden zu Narben, Gegenstände verschwinden, und Gewohnheiten ändern sich. Durch die Monotonie der Wiederholungen beginnt sie sich von ihren Mitmenschen und vor allem von Thomas zu entfremden und eine Art Doppelleben zu führen.
Im ersten Teil des groß angelegten Romanprojekts gefallen mir besonders die detailreichen Beobachtungen der Umgebung, die beinahe lyrische Sprache und der Rhythmus, der sich am Inhalt der Geschichte orientiert und von Gleichmäßigkeit über kleine Variationen bis zu Beschleunigung wechselt. Es ist Peter Urban-Halle gelungen, diese wichtigen Elemente sehr einfühlend und präzise zu übersetzen. Der zweite Teil erschien im September, Teil drei kommt im Mai 2024 heraus und ich freue mich schon jetzt auf die weiteren Fortsetzungen und hoffe, Tara bleibt noch etwas länger in der Zeitschleife gefangen. – Viktoria Wenker
Solvej Balle/Peter Urban-Halle (aus dem Dänischen): Über die Berechnung des Rauminhalts I, Matthes & Seitz. 2023, 170 Seiten, 22 Euro.
„Die Opfer der Geschichte leben immer im Exil, fern von zuhause, innerlich und äußerlich. Die Kinder der Erinnerung ebenso. Wir leben als Fremde, als Übersetzer,“ heißt es in DMZ Kolonie, dem jüngsten Lyrikband von Don Mee Choi. Übersetzen ist programmatisch für ihr Leben ebenso wie ihr literarisches Werk, ist der Schaffensmodus für ihre „geopolitische Poetik“. Anhand der DMZ, der Trennlinie zwischen Nord- und Südkorea, die nur dem Namen nach eine demilitarisierte Zone ist, erkundet Choi die Geschichte ihres Landes, die verwoben ist mit der ihren.
Geboren in Seoul, floh sie als Kind mit ihrer Familie nach Hongkong und emigrierte schließlich in die USA, wo sie als Lyrikerin und Übersetzerin lebt. Ihr Vater war Kriegsfotograf, einige seiner Fotografien hat sie in ihren Lyrikband eingeflochten. Persönliche Erinnerungen und vermittelte Traumata übersetzt Choi in Poesie, in fiktionalisierte Tagebucheinträge, Collagen, in Zeichnungen und Bilder. Durch die fragmentarische Hybridform hat sie mit DMZ Kolonie ein Werk geschaffen, das schrift- und bildgewordene Resistenz gegen die neokoloniale Sprache Englisch ist, gegen Gewalt und Vergessen. Eine zwingende, soghafte Komposition, die mich weit über die schlanken 143 Seiten in ihren Bann gezogen hat.
DMZ Colony wurde 2020 mit dem National Book Award for Poetry ausgezeichnet und stand Seite an Seite mit seiner deutschen Fassung auf der Shortlist des Internationalen Literaturpreis 2023. Verdient, denn Uljana Wolfs Übersetzung ist absolut brillant. Nicht zuletzt die Jonglage mit terminologischen Feinheiten rund um Benjamin, Deleuze und Kafka gelingt ihr spielerisch, ihre Wortwahl ist stets ebenso präzise wie poetisch. Wolfs Feinfühligkeit macht der filigranen Komplexität des Originals alle Ehre. – Theresa Rüger
Don Mee Choi/Uljana Wolf (aus dem Englischen): DMZ Kolonie, Spector Books 2023, 143 Seiten, 24 Euro.
Der Kaninchenstall ist ein Hochhauskomplex, in dem die unterschiedlichsten Figuren unter einem Dach wohnen – da gibt es zum Beispiel Blandine, die mit drei Jungs in einer WG lebt und von Hildegard von Bingen besessen ist; da wäre eine Frau, die online Nachrufe auf die Richtlinien der Website überprüft und dabei mit dem reichen (und ziemlich schrägen) Erben einer verstorbenen Schauspielerin aneinander gerät, oder ein altes Ehepaar, das mit toten Nagetieren zu kämpfen hat.
Die US-Amerikanerin Tess Gunty führt in ihrem Debütroman, der den National Book Award 2022 gewonnen hat, nicht nur ausgefallene Figuren und Lebensgeschichten auf, sondern nutzt auch verschiedene Textsorten wie Listen, Nachrufe, schwungvolle Dialoge oder philosophische Auseinandersetzungen mit von Bingens Werk, wechselt munter die Erzählperspektive und schreckt auch nicht vor einer Bildergeschichte zurück. Gelungen ist ihr ein unglaublich unterhaltsames Potpourri, das in der deutschen Fassung von Sophie Zeitz auf ganzer Linie überzeugt. Die Übersetzerin überträgt die Charakterzeichnungen liebevoll ins Deutsche, die Dialoge sind pointiert, und mit den verschiedenen Textsorten jongliert sie vollkommen mühelos.
Wer Lust auf eine etwas andere Geschichte hat, die trotz der vielen Figuren und teils wirr anmutenden Erzählstränge einen fesselnden Plot aufweist und gleichzeitig Kritik an den USA des 21. Jahrhunderts übt, ist mit Sophie Zeitz’ eindrucksvoller Übersetzung bestens bedient! – Lisa Mensing
Tess Gunty/Sophie Zeitz (aus dem Englischen): Der Kaninchenstall, Kiepenheuer & Witsch 2023, 416 Seiten, 25 Euro.
2020 ist in einem meiner französischsprachigen Lieblingsverlage ein Romandebüt erschienen, das mich mehr berührt hat als alles, was ich seit langem gelesen hatte: Un jour ça sera vide von Hugo Lindenberg. In dem Roman tauchen wir ein in die Welt eines zehnjährigen Jungen, der den Sommer bei seiner Großmutter in der Normandie verbringt: lange Tage am Strand, Langeweile, stilles Beobachten, eine Begegnung und eine innige, wenn auch ungleiche Freundschaft, die seine Sicht auf die Welt und auf sich selbst verändert.
Die Erzählung entsteht aus szenischen Momentaufnahmen, sie fließt mit großer Leichtigkeit dahin. Doch im Glück des Protagonisten über seinen neuen Freund wird eine Zerbrechlichkeit spürbar, die auch eine Schwere erkennen lässt. Es geht in Hugo Lindenbergs Roman nämlich auch darum, was es bedeutet, in eine traumatisierte Familie geboren zu werden, die im Schweigen über erlittene Grausamkeiten erstarrt; um Verlust und Einsamkeit, um die Angst vor dem Wahnsinn und die Scham angesichts der eigenen Andersartigkeit – und um den Schmerz eines Kindes, das für all das noch keine Worte hat. Diesem Schmerz nähert sich der Roman mit ungeheurer Zärtlichkeit.
Als ich das Buch zu Ende gelesen hatte, fragte ich direkt beim Verlag nach, ob schon eine deutsche Übersetzung in Planung sei. Ja, da war etwas in Planung: Im März 2023 erschien Eines Tages wird es leer sein beim Nautilus Verlag − in der Übersetzung von Lena Müller, die sich Satz für Satz an das Original anschmiegt. Meine zweite Lektüre dieses Romans war bestimmt nicht die letzte. Er ist ein großes Geschenk, „Für alle einsamen Kinder und Verrückten“, wie es in der Widmung heißt, und für alle anderen. – Sula Textor
Hugo Lindenberg/Lena Müller (aus dem Französischen): Eines Tages wird es leer sein, Edition Nautilus 2023, 168 Seiten, 22 Euro.
Als ich Joshua Cohens Die Netanjahus Anfang 2023 las, war noch nicht absehbar, wie sich die Lage im Nahen Osten zum Jahresende hin entwickeln würde. Der Roman spielt nicht dort (obwohl man es bei dem Titel vielleicht denken könnte), sondern in einer kleinen amerikanischen Vorstadt, und handelt von einer vergleichsweise winzigen, semi-fiktiven Episode aus dem Leben der Familie Netanjahu, die Ende der 50er Jahren in die USA zog. Der jetzige israelische Präsident Benjamin Netanjahu taucht lediglich als Kind auf; wesentlich prominenter ist sein Vater Benzion Netanjahu, ein etwas verbohrter Wissenschaftler, der sich mit jüdischer Geschichte in Spaniens goldenem Zeitalter beschäftigt.
Die Familie Netanjahu ist zu Gast bei Ruben Blum, der am Corbin College lehrt und forscht. Als einziger anderer Jude auf dem Campus wird Blum ausgewählt, Netanjahu (der ein Vorstellungsgespräch an der Universität hat) zu beherbergen. Die beiden Familien clashen auf vielen Ebenen, fundamental für die geschickt dargestellten Momente der Reibung sind dabei die unterschiedlichen Ausprägungen jüdischer Identität. Wie die Netanjahus das wohlgeordnete amerikanische Mittelschichtsleben der Blums auf den Kopf stellen, ist urkomisch, bizarr und insgesamt großartige Unterhaltung. Lose basiert die Geschichte ürigens auf einer Anekdote des berühmten amerikanischen Literaturwissenschaftlers Harold Bloom, mit dem Cohen bis zu seinem Tod in regem Austausch stand.
Joshua Cohen erhielt 2022 für den Roman den Pulitzer Preis, sein Übersetzer Ingo Herzke in diesem Jahr den Hamburger Literaturpreis. Manchmal mag einem der Hype um Bücher, die Preise gewinnen und von der Literaturkritik gefeiert werden, täuschen – doch schon als ich die Übersetzung zuklappte, wusste ich, dass die Wahrscheinlichkeit nicht besonders hoch war, dass ich in diesem Jahr noch etwas Besseres lesen würde. Und so kam es: Die Netanjahus ist das beste Buch, das ich in diesem Jahr lesen durfte. Es ist schlicht sehr gute Literatur, die sehr gut übersetzt wurde, und unter jedem Weihnachtsbaum liegen sollte. – Julia Rosche
Joshua Cohen/Ingo Herzke (aus dem Englischen): Die Netanjahus, Schöffling 2023, 288 Seiten, 25 Euro.
„Die Reihenfolge ist: Reim, Rhythmus, Witz, Inhalt“
„Wahrscheinlich ist es dort so ähnlich wie hier“
Große kleine Sprache Samisch
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Übersetzende als Hauptfiguren