Radi­ka­le Randfigur

Sie zählt zu den ambivalentesten Figuren der Weltliteratur: Euripides’ „Medea“ fasziniert seit fast 2500 Jahren − und wurde von Kurt Steinmann für den Manesse Verlag überzeugend neu übersetzt. Von

„Drei­mal lie­ber näm­lich in die Front der Kämp­fer möch­te ich / mich rei­hen, als gebä­ren nur ein ein­zig Mal!“, pro­kla­miert Medea an ihr Publi­kum gewandt, nach­dem sie soeben aus­führ­lichst und gna­den­los das unge­rech­te Los aller Frau­en kri­ti­siert hat. Gleich wird sie fort­fah­ren, die vor­herr­schen­de Unge­rech­tig­keit zwi­schen sich und ihrem Ehe­mann Iason zu the­ma­ti­sie­ren, indem sie auf sei­ne unver­hält­nis­mä­ßi­gen Pri­vi­le­gi­en als Mann und Ein­hei­mi­scher hin­weist. Im Hin­ter­grund stimmt ihr der aus­schließ­lich aus Frau­en bestehen­de Cho­rus zu. Und all das im Jahr 431 vor Christus. 

Seit fast 2500 Jah­ren kön­nen wir nun schon ver­fol­gen, wie Medea auf der Büh­ne gegen Rol­len­bil­der, Ste­reo­ty­pe und vor allem Miso­gy­nie ankämpft. Der Ers­te, der sie rebel­lie­ren ließ, war der grie­chi­sche Tra­gö­di­en­dich­ter Euri­pi­des. Im Lau­fe der ver­gan­ge­nen Jahr­tau­sen­de ist sei­ne Fas­sung des Mythos zwar bei Wei­tem nicht die ein­zi­ge, wohl aber die berühm­tes­te geblie­ben. Im Sep­tem­ber 2022 ist im Manes­se Ver­lag eine pracht­vol­le Neu­aus­ga­be von Euri­pi­des’ Medea erschie­nen, mit einem Nach­wort von Thea Dorn, kunst­vol­len Illus­tra­tio­nen von Bian­ca Regl − und in einer Neu­über­set­zung durch den Schwei­zer Alt­phi­lo­lo­gen Kurt Stein­mann. Sowohl in ihrem Ansatz als auch in der Umset­zung hät­te die Über­set­zung kaum gelun­ge­ner aus­fal­len können.

Da die Stär­ken einer sol­chen Neu­über­set­zung erst wirk­lich zur Gel­tung kom­men kön­nen, wenn der Hin­ter­grund des dra­ma­ti­schen und mytho­lo­gi­schen Stof­fes bekannt ist, zunächst ein kur­zer Exkurs zur Figur der Medea. Seit ihrer euri­pi­dei­schen Geburts­stun­de um 431 v. Chr. hat die anti­ke Hel­din zahl­rei­che Künst­ler in ihren Bann gezo­gen und inspi­riert. Zu ihnen zäh­len der ita­lie­ni­sche Kom­po­nist Lui­gi Che­ru­bi­ni, der däni­sche Film­re­gis­seur Lars von Trier, die deut­sche Schrift­stel­le­rin Chris­ta Wolf… Eine Auf­zäh­lung sämt­li­cher Adap­tio­nen des Mythos könn­te gan­ze Sei­ten fül­len. Medea über­trifft nahe­zu alle ande­ren anti­ken Hel­din­nen an Bekannt­heit und hat, wie Thea Dorn in ihrem Nach­wort anmerkt, sogar ihrem Ehe­mann Iason den Rang abgelaufen.

Ursprüng­lich ist Medea die Toch­ter des Königs Aie­tes von Kol­chis und noch dazu eine mäch­ti­ge Zau­be­rin. Sie ver­liebt sich in den durch die Argo­nau­ten-Sage bekann­ten Iason und begeht ihm zulie­be meh­re­re Ver­bre­chen. Für ihn ver­rät sie sogar ihre eige­ne Fami­lie und lässt ihr Hei­mat­land zurück. Die bei­den hei­ra­ten und Medea gebärt zwei Kin­der. Bald aber ver­lässt Iason sei­ne Frau, um statt­des­sen die Königs­toch­ter von Korinth zu hei­ra­ten. Medea kann ihm sei­nen Ver­rat nicht ver­zei­hen, sie ist am Boden zer­stört. Euri­pi­des’ Dra­ma zeigt nun, wie sie in ihrer Iso­la­ti­on ver­zwei­felt und all­mäh­lich den Ent­schluss zur Rache fasst: Sie sen­det Iasons neu­er Ver­lob­ter ein tod­brin­gen­des Geschenk und ermor­det ihre gemein­sa­men Kin­der. In einem dra­ma­ti­schen Fina­le erscheint sie in ers­ten Auf­füh­run­gen in einem gött­lich anmu­ten­den Wagen und mit den Lei­chen ihrer Kin­der hoch über der Büh­ne. Die Büh­nen­tech­nik, die hier­für genutzt wur­de, war zu Euri­pi­des’ Zei­ten für gewöhn­lich den unsterb­li­chen Olym­pi­schen Göt­tern vor­be­hal­ten. Dass sie auch für Medea, eine Sterb­li­che, genutzt wur­de, war bemerkenswert. 

Bemer­kens­wert war Euri­pi­des’ Ver­si­on der Medea aller­dings ohne­hin. Zwar hat­te es bereits eini­ge Früh­ver­sio­nen des Mythos gege­ben, erst jetzt aber erhielt die Figur den Grad an Radi­ka­li­tät und Kom­ple­xi­tät, für den sie heut­zu­ta­ge bekannt ist. Euri­pi­des war der Ers­te, der Medea zur Aus­län­de­rin („Bar­ba­rin“) mach­te, und der Ers­te, der sie ihre Kin­der töten ließ. Kurz­um, ihm hat Medea ihre Ambi­va­lenz zu ver­dan­ken, die spä­ter zahl­rei­che Künstler:innen zu ihren eige­nen Inter­pre­ta­tio­nen des Mythos inspi­rie­ren soll­te. Sie ist eine Außen­sei­te­rin und Hei­mat­lo­se, eine Frau und zwei­fach exi­lier­te Aus­län­de­rin. Zurecht wird Medea oft als Rand­fi­gur der Mytho­lo­gie bezeich­net. Was sie jedoch noch inter­es­san­ter macht: Sie gibt sich nicht mit ihrem Schick­sal zufrie­den, son­dern kämpft mit pathos­ge­la­de­nen Reden und schließ­lich radi­ka­len Ver­bre­chen gegen ihren Sta­tus an. Bei ihrem dama­li­gen Publi­kum erfreu­te sich Medea daher auch kei­ner son­der­li­chen Beliebt­heit; die Tra­gö­die wur­de bei den soge­nann­ten Dio­ny­si­en, einem bedeu­ten­den Thea­ter­wett­be­werb des anti­ken Athen, auf den drit­ten und letz­ten Platz gewählt. Euri­pi­des’ Dra­men gal­ten als unge­wöhn­lich, häu­fig wähl­te er weib­li­che Figu­ren als Hel­din­nen und setz­te sich mit ihren psy­cho­lo­gi­schen Abgrün­den aus­ein­an­der. Ob er das mit miso­gy­nen oder phi­lo­gy­nen Absich­ten tat, ist eine viel dis­ku­tier­te Fra­ge, der Thea Dorn in ihrem Nach­wort zur Neu­über­set­zung sehr dif­fe­ren­ziert nachgeht.

Eine der­ar­tig kom­ple­xe, radi­ka­le und berühm­te Figur der Lite­ra­tur­ge­schich­te neu zu über­set­zen, ist eine Her­aus­for­de­rung. Stein­mann hat sie – als Alt­phi­lo­lo­ge und Über­set­zer zahl­rei­cher anti­ker Wer­ke, für die er 2019 den Johann-Hein­rich-Voß-Preis für Über­set­zung erhielt – exzel­lent gemeis­tert. Euri­pi­des’ Spra­che birgt vie­le Tücken: Sie ist nicht ganz so prunk­voll und hoch­tra­bend wie die sei­ner Zeit­ge­nos­sen, ent­hält aber den­noch viel Pathos. Sie ist häu­fig wesent­lich umgangs­sprach­li­cher als die von Sopho­kles und Aris­to­pha­nes, an man­chen Stel­len jedoch wie­der­um über­ra­schend poe­tisch. Außer­dem stellt sich wie bei allen anti­ken Wer­ken die schier unbe­ant­wort­ba­re Fra­ge, wie weit die Über­set­zung an ihre moder­ne Leser­schaft ange­passt wer­den darf. 

Zu die­ser Fra­ge äußert sich Stein­mann in sei­nem Nach­wort zur Über­set­zung, in wel­chem er zwi­schen zwei Ansät­zen unter­schei­det, dem (nach Wolf­gang Scha­de­waldt) „trans­po­nie­ren­den“, bei dem der Text auf die Lesen­den zube­wegt wird, und dem „doku­men­ta­ri­schen“, bei dem die Lesen­den auf den Text zube­wegt wer­den. Stein­mann ent­schei­det sich für den Letz­te­ren, er will nichts weg­las­sen, nichts hin­zu­fü­gen, und das Grie­chi­sche ins Deut­sche über­tra­gen, aller­dings „ohne zu befrem­den und ohne der deut­schen Idio­ma­tik Gewalt anzu­tun“. Sei­ne Über­set­zung soll Prä­zi­si­on in der Ety­mo­lo­gie mit „sti­lis­ti­scher Natür­lich­keit und Sprech­bar­keit“ verbinden.

Dass er die­sen Idea­len treu bleibt, stellt Stein­mann gleich in den ers­ten Zei­len sei­ner Über­set­zung unter Beweis:

Εἴθ‎ʼ ὤφελ‎ʼ Ἀργοῦς μὴ διαπτάσθαι σκάφος‎
Κόλχων ἐσ αἶαν κυανέας Συμπληγάδας,
μηδ‎ʼ ἐν νάπαισι Πηλίου πεσεῖν ποτε‎
τμηθεῖσα πεύκη‎, μηδ‎ʼ ἐρετμῶσαι χέρας‎
ἀνδρῶν ἀρἰστων οἳ τὸ πάγχρυσον δέρος‎
Πελίαι μετῆλθον‎. οὐ γὰρ ἂν δέσποιν‎ʼ ἐμὴ‎
Μήδεια πύργους γῆς ἔπλευσ‎ʼ Ἰωλκίας‎
ἔρωτι θυμὸν ἐκπλαγεῖσ‎ʼ Ἰάσονος‎·

O wäre doch das Schiff – die Argo – nicht geflo­gen hin
zum Land der Kol­cher durch die düs­ter-schwar­zen Sym­ple­ga­den,
und nie gefal­len in des Pel­ion wald­be­stand­nen Schluch­ten
die umge­hau­ne Föh­re, und hätt doch die­se nicht mit Rudern aus­ge­rüs­tet
der bes­ten Män­ner Hän­de, die das Vlies, das ganz aus Gold,
für Peli­as geholt. Nicht wär dann mei­ne Her­rin,
Medea, zu des Iol­ker­lan­des Tür­men hin gese­gelt,
von Lie­bes­lei­den­schaft zu Iason im Gemüt ver­wirrt.
(Med. 1−8)

Hier wünscht sich Mede­as Amme, ihre Her­rin und Iason hät­ten Kol­chis nie­mals erreicht – dann wären sie nie­mals sol­chem Unglück aus­ge­setzt gewe­sen! Gleich die ers­ten zwei Zei­len der Über­set­zung repli­zie­ren den Auf­bau des Ori­gi­nals und damit die von Euri­pi­des fest­ge­leg­te Infor­ma­ti­ons­rei­hen­fol­ge nahe­zu tadel­los. Der berühm­te lamen­tie­ren­de Aus­druck „Εἴθ’ ὤφελ’“, was Stein­mann ele­gant in „O wäre doch“ ver­wan­delt hat, bleibt am Anfang des Sat­zes erhal­ten, gefolgt von der Argo, ihrem Weg nach Kol­chis, und der töd­li­chen Bedro­hung der Sym­ple­ga­den-Fel­sen. Auch in den fol­gen­den Zei­len behält Stein­mann den Auf­bau der grie­chi­schen Sät­ze fast immer bei. 

Im Deut­schen erge­ben sich dar­aus teil­wei­se etwas alter­tüm­li­che oder gar befremd­li­che Kon­struk­tio­nen. Wel­cher gegen­wär­ti­ge Autor wür­de schon „wäre doch das Schiff nicht geflo­gen hin“ in genau die­ser Wort­fol­ge schrei­ben? Ein „trans­po­nie­ren­der“ Über­set­zer hät­te hier bei­spiels­wei­se die Rei­hen­fol­ge der Wör­ter ver­än­dert. Tat­säch­lich haben vor­he­ri­ge Über­set­zer, wie Ernst Busch­or (1972), auch genau das getan, und eine der­ar­ti­ge Ent­schei­dung hat auf­grund der damit ein­her­ge­hen­den erhöh­ten Leser­freund­lich­keit genau­so ihre Berech­ti­gung. Stein­mann aber, als „doku­men­ta­ri­scher“ Über­set­zer, ver­zich­tet auf gra­vie­ren­de Anpas­sun­gen der Syn­tax, ohne dass dabei im Deut­schen der Sinn der Zei­len ver­lo­ren geht. So weit wie Paul Drä­ger (2016), der die Rei­hen­fol­ge der Wör­ter tat­säch­lich exakt ein­ge­hal­ten hat, geht Stein­mann aller­dings auch nicht. Die Argo („Ἀργοῦς“), „das Schiff“ („ϲκάφος“) und ein Teil des Verbs müs­sen auch in sei­ner „doku­men­ta­ri­schen“ Über­set­zung Plät­ze tauschen. 

Ein wei­te­res auf­fäl­li­ges und bewun­derns­wer­tes Cha­rak­te­ris­ti­kum von Stein­manns Über­set­zung ist sei­ne kon­se­quen­te Ein­hal­tung des Metrums. Euri­pi­des’ Tra­gö­die ist in jam­bi­schen Tri­me­tern ver­fasst, und auch Stein­manns Über­set­zung behält das jam­bi­sche Sche­ma bei, wenn­gleich er zuguns­ten einer bes­se­ren Les­bar­keit in der Sil­ben­an­zahl ein wenig vari­iert. Wei­ter­hin ent­spricht eine Zei­le im Grie­chi­schen fast immer auch einer Zei­le im Deut­schen. Eine der­ar­ti­ge Syn­chro­ni­tät des Gespro­che­nen zu erzie­len, ist ein wah­res Meis­ter­werk. Nur in den Pas­sa­gen des Cho­rus hat sich Stein­mann dazu ent­schie­den, auf die teils sehr kom­ple­xen Metren zuguns­ten von frei­en Rei­men zu verzichten. 

Wodurch sich Stein­manns Über­set­zung eben­falls aus­zeich­net, ist ihre Wert­schät­zung und Bewah­rung der Ety­mo­lo­gie ein­zel­ner Wör­ter. Das lässt sich bei­spiels­wei­se weni­ge Zei­len spä­ter in der Eröff­nungs­re­de der Amme feststellen:

νῦν δ‎ʼ ἐχθρὰ πάντα καὶ νοσεῖ τὰ φίλτατα‎.
προδοὺς γὰρ αὑτοῦ τέκνα δεσπότιν τ‎ʼ ἐμὴν
γάμοις Ἰάσων βασιλικοῖς εὐνάζεται‎,
γήμας Κρέοντος παῖδ‎ʼ, ὃς αἰσυμνᾶι χθονός‎.
Μήδεια δ‎ʼ ἡ δύστηνος ἠτιμασμένη‎
βοᾶι μὲν ὅρκους‎, ἀνακαλεῖ δὲ δεξιᾶς‎
πίστιν μεγίστην‎, καὶ θεοὺϲ μαρτύρεται‎ οἵας
ἀμοιβῆς ἐξ Ἰάσονοϲ κυρεῖ‎.

Aber jetzt ist alles voll von Hass, es krankt, was tiefs­te Lie­be war.
Denn Iason hat ver­ra­ten mei­ne Her­rin und die eig­nen Kin­der
und nis­tet sich in könig­li­cher Ehe ein
ver­mählt der Toch­ter Kre­ons, der das Land beherrscht.
Medea aber, die der Ehr beraub­te Unglücks­frau,
schreit sei­ne Eide laut her­aus, ruft in Erin­ne­rung
das stärks­te Treue­p­fand der rech­ten Hand und nimmt die Göt­ter sich zu Zeu­gen,
welch üblen Lohn von Iason sie emp­fängt.
(Med. 16−23)

Lesen­de mögen zurecht über die Mit­te des ers­ten Sat­zes stol­pern. Der Aus­druck »kran­ken« ist nicht gera­de weit ver­brei­tet, ins­be­son­de­re ohne die ergän­zen­de Spe­zi­fi­ka­ti­on, um wel­che Art von Krank­heit es sich han­delt. Im Ori­gi­nal aber steht „νοϲεῖ“ geschrie­ben, und Stein­mann hat sich ent­schie­den, die Ety­mo­lo­gie die­ses Wor­tes auch im Deut­schen bei­zu­be­hal­ten. Eben­so gut hät­te er ein Syn­onym wäh­len kön­nen, hät­te dafür jedoch die Asso­zia­ti­on des Wor­tes mit Krank­heit ein­bü­ßen müs­sen. Ein Pro­blem bleibt aller­dings bestehen: Im Grie­chi­schen hat das Verb auch die meta­pho­ri­sche Bedeu­tung „ver­rückt sein“, die lei­der im Deut­schen unwei­ger­lich ver­lo­ren gehen muss, wenn man sich für die wört­li­che Über­set­zung „es krankt“ ent­schei­det – was Stein­mann gemäß sei­nem doku­men­ta­ri­schen Anspruch selbst­ver­ständ­lich tut. 

Eine Ana­ly­se von Stein­manns Über­set­zung wäre nicht kom­plett, ohne zumin­dest ein­mal kurz Medea selbst spre­chen zu las­sen. Am bes­ten eig­net sich dafür ihre wohl berühm­tes­te Rede, in der deut­li­che femi­nis­ti­sche Töne mit­schwin­gen, und die laut Stein­mann bereits Goe­thes Ein­gangs­mo­no­log in Iphi­ge­nie inspi­riert hat. 

πάντων δ‎ʼ ὅσ‎ʼ ἔστ‎ʼ ἔμψυχα καὶ γνώμην ἔχει‎
γυναῖκές ἐσμεν ἀθλιώτατον φυτόν‎·
(…)
ἡμῖν δ‎ʼ ἀνάγκη πρὸς μίαν ψυχὴν βλέπειν‎.
λέγουσι δ‎ʼ ἡμᾶς ὡς ἀκίνδυνον βίον‎
ζῶμεν κατ‎ʼ οἴκους‎, οἱ δὲ μάρνανται δορί‎,
κακῶς φρονοῦντες‎· ὡς τρὶς ἂν παρ‎ʼ ἀσπίδα‎
στῆναι θέλοιμ‎ʼ ἂν μᾶλλον ἢ τεκεῖν ἅπαξ‎.

Von allem, was beseelt ist und Ver­stand besitzt,
sind doch wir Frau­en die bekla­gens­wer­tes­ten Geschöp­fe;
(…)
Da sagt man, dass gefahr­los wir zu Hau­se
das Leben führ­ten, sie dage­gen kämpf­ten mit dem Speer −
gedan­ken­lo­se Schwät­zer: Drei­mal lie­ber näm­lich in die Front der Kämp­fer möch­te ich
mich rei­hen, als gebä­ren nur ein ein­zig Mal!
(Med. 230−31, 248−51)

Zwar beklagt Medea in die­sen Zei­len vor allem das Los der korin­thi­schen Frau­en, eini­ge Tei­le ihrer Aus­sa­gen las­sen sich jedoch auch auf das Schick­sal von Frau­en in spä­te­ren Jahr­hun­der­ten anwen­den. Ihre Spra­che ist über­ra­schend modern und femi­nis­tisch, sie rebel­liert gegen die von Frau­en erwar­te­te Unter­wür­fig­keit. Das gan­ze Dra­ma über zeigt Medea abwech­selnd Eigen­schaf­ten, die in Euri­pi­des’ Zei­ten gewöhn­lich Män­nern zuge­ord­net wur­den, und sol­che, die man mit Frau­en asso­zi­ier­te. Mal ist sie kühl, mutig und uner­schro­cken, mal ver­zwei­felt und schwach. Sie oszil­liert zwi­schen „männ­li­chem“ Hero­is­mus und „weib­li­cher“ Müt­ter­lich­keit. Damit sagt sie sämt­li­chen geschlechts­spe­zi­fi­schen Ste­reo­ty­pen den Kampf an, und genau davon wer­den Lesen­de in der oben zitier­ten Pas­sa­ge Zeugen. 

Die­se ist nicht nur eine von Mede­as berühm­tes­ten, son­dern vor allem auch cha­rak­te­ris­tischs­ten Reden, und Stein­manns Über­set­zung erlaubt es uns, sie in all ihrer Authen­ti­zi­tät zu erle­ben. Das jam­bi­sche Metrum ist erhal­ten geblie­ben, eben­so Syn­tax und Wort­stel­lung, ins­be­son­de­re in Mede­as iko­ni­schem Satz am Ende. Anstatt das Adjek­tiv „ἔμψυχα“ ledig­lich als »leben­dig« zu über­set­zen, hat Stein­mann sich für „beseelt“ ent­schie­den, und damit die ursprüng­li­che Ety­mo­lo­gie des Wor­tes, wel­ches das grie­chi­sche „ψυχή“, „See­le“, beinhal­tet, bei­be­hal­ten. Auf die­se Wei­se muss Mede­as Aus­sa­ge weder an Pathos noch an Aus­sa­ge­kraft einbüßen. 

Mit sei­nem über­set­ze­ri­schen Ansatz, sei­ner tie­fen Kennt­nis des Ori­gi­nals, und sei­nem aus­ge­präg­ten Sprach­ge­fühl hat Stein­mann eine Neu­über­set­zung von Euri­pi­des’ Medea erar­bei­tet, die fast sämt­li­che Cha­rak­te­ris­ti­ka des grie­chi­schen Ori­gi­nals auch im Deut­schen ver­mit­telt. Medea bleibt authen­tisch und in ihrer gan­zen Kom­ple­xi­tät und Radi­ka­li­tät erhal­ten. Teil­wei­se mag sie gar fremd­ar­tig schei­nen oder ihre Spra­che etwas alter­tüm­lich wir­ken – was jedoch nur von Vor­teil ist. Denn der Kon­trast, der zwi­schen Mede­as antik anmu­ten­den For­mu­lie­run­gen und dem radi­ka­len, moder­nen Inhalt ihrer Aus­sa­gen ent­steht, führt uns nur noch mehr vor Augen, wie weit Medea ihrer Zeit vor­aus und wie unge­wöhn­lich das Dra­ma des Euri­pi­des für sein zeit­ge­nös­si­sches Publi­kum gewe­sen sein muss. Euri­pi­des’ Tra­gö­die ist zeit­los und auch nach über zwei­ein­halb Jahr­tau­sen­den noch aktu­ell. Medea selbst altert nicht, und mit sei­ner Neu­über­set­zung ihrer Geschich­te hat Kurt Stein­mann einen wei­te­ren Bei­trag zur Unsterb­lich­keit die­ser Hel­din geleistet.

Buchcover
Euri­pi­des | Kurt Stein­mann

Medea



Manes­se 2022 ⋅ 240 Sei­ten ⋅ 60 Euro


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