Wir sind um 11 Uhr im Café Sibylle auf der Berliner Karl-Marx-Allee verabredet. Helmut Ettinger kommt auf die Minute pünktlich und entschuldigt sich noch dafür – eine begeisterte Nachbarin habe ihn mit Fragen zu seiner neuen Übersetzung von Gusel Jachina aufgehalten. Dann schiebt er vorweg, dass er mit Interviews nicht viel Erfahrung habe. Bei seinem Lebenslauf eigentlich kaum zu glauben: Ettinger war jahrelang als Diplomat in Peking, dann Russisch- und Chinesischdolmetscher von Erich Honecker und später außenpolitischer Experte bei der Linken, bevor er sich ganz dem Literaturübersetzen widmete. Unser Treffpunkt ist geradezu symbolisch: Die Panoramafenster des Cafés geben den Blick frei auf die frühere Stalinallee und erste sozialistische Prachtstraße der DDR. Den breiten Boulevard säumen neoklassizistische Gebäude, dahinter ragen Plattenbauten auf. Der richtige Ort, um über ein Leben in der DDR zu sprechen.
Helmut Ettinger wurde 1941 im thüringischen Vogtland geboren. Seine Eltern, Weber aus der Bukowina, waren 1940 Hitlers Ruf „Heim ins Reich“ gefolgt. Ettinger wuchs in einer Siedlung für rumäniendeutsche Facharbeiter am Rande der Textilstadt Greiz auf. Vom Vogtland führte ihn sein Weg als Sprachmittler bis in die höchsten Ebenen der Politik. In den 1980ern dolmetschte er für SED-Generalsekretär Honecker Gespräche mit Politikergrößen wie Michail Gorbatschow und Deng Xiaoping, und im Grunde haben wir Ettinger das berühmte Zitat „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben“ zu verdanken. Gorbatschows Aussage Когда мы опаздываем, жизнь нас наказывает übertrug der russische Dolmetscher nämlich erst recht sperrig mit „Wenn wir zurückbleiben, bestraft uns das Leben sofort“. Ettinger korrigierte das geistesgegenwärtig zu der geflügelten Wendung, die wir heute kennen.
Doch wie wird man Chefdolmetscher von Honecker? Als 1984 ein neuer Russischdolmetscher gesucht wurde, fiel die Wahl aus einem großen Kandidatenkreis auf Ettinger. „Mir ist bis heute nicht klar, warum sie gerade mich genommen haben. Das Entscheidende war wohl, dass ich als einziger einen Hochschulabschluss in beiden Fächern hatte: Sprache und Außenpolitik.“ Honecker brauchte jemanden, der neben der Sprache auch die diplomatischen Hintergründe aus dem Effeff kannte – dafür war Ettinger durch seinen Lebenslauf prädestiniert.
1960 schrieb sich Ettinger an der Karl-Marx-Universität Leipzig für Sinologie ein und lernte dort seine spätere Frau Hilde kennen. Doch da sich die Beziehungen zwischen China und der DDR gerade massiv verschlechterten und der Bedarf an Sinologen in absehbarer Zeit einbrechen würde, lenkte das Hochschulministerium viele Studierende kurzerhand auf andere Fächer um. So wechselten die beiden nach einem Jahr ans Dolmetscherinstitut und belegten die Kombination Russisch/Chinesisch.
Das letzte Studienjahr 1964/65 verbrachte Ettinger am renommierten Maurice Thorez-Institut in Moskau. Dort fiel man ob seiner Sprachkombination aus allen Wolken – denn Chinesisch stand gar nicht auf dem Lehrplan. Also schickte man ihn für die Chinesischkurse an die berühmte Lomonossow-Universität, der aufgrund der angespannten Beziehungen zwischen China und der Sowjetunion die Sinologiestudierenden ausgegangen waren. Helmut Ettinger wurde als einziger Student von gleich drei Chinesischprofessoren ein Jahr lang „sehr intensiv betreut“, wie er sich schmunzelnd erinnert. Überhaupt war Moskau für ihn ein großes Erlebnis. Die materielle Versorgung war zwar in der DDR wesentlich besser, doch gegen die Metropole mit ihrer prächtigen Metro und den wuselnden Menschenmassen aus aller Welt wirkte Leipzig wie ein verschlafenes Dorf. Auch das kulturelle Angebot war überwältigend. Ettinger tauchte Hals über Kopf in die russische Literatur ein und verschlang stapelweise russische Bücher – denn wer bei den studentischen Diskussionen nicht als Banause gelten wollte, musste die zeitgenössischen Werke kennen. Noch heute hilft ihm sein schnelles Lesetempo im Russischen bei Gutachten für Verlage.
Nach dem Studium gingen Helmut und Hilde Ettinger an die DDR-Botschaft in Peking. Dort dolmetschten sie alles, was anfiel, und zwar in beide Richtungen: Chinesisch für die einheimischen Partner, Russisch für alle anderen. Denn in den 1960er Jahren war die Volksrepublik China – außer von den sozialistischen Ländern – international noch nicht anerkannt, und das Diplomatische Korps in Peking rekrutierte sich hauptsächlich aus Absolventen der Moskauer Kaderschmiede MGIMO, bei denen Russisch die lingua franca war.
Während ihrer Zeit in Peking von 1966 bis 1969 gerieten sie mitten in die wildeste Phase der chinesischen Kulturrevolution. Um die eigene Macht zu sichern, hatte Mao Zedong eine beispiellose Hetzkampagne gegen den alten Parteiapparat entfesselt. „Revisionistische“ Parteifunktionäre und Intellektuelle wurden von fanatischen jungen Rotgardisten öffentlich gedemütigt, gefoltert, inhaftiert oder umgebracht. Ettinger hat sich die Kulturrevolution als „tiefer Schock“ ins Gedächtnis gegraben. Die DDR-Botschaft lag nur zwei Kilometer Luftlinie vom Tian’anmen-Platz entfernt, wo die größten Kundgebungen mit Mao Zedong und Millionen von Teilnehmern stattfanden. Zum Glück glich das große Gelände mit seiner hohen Mauer im Diplomatenviertel der Kaiserzeit einer Festung, und die benachbarten Botschaften halfen sich gegenseitig, etwa als die Vertretung der Mongolei verwüstet wurde oder die indische Botschaft wochenlang eingeschlossen war. Ettinger war jeden Tag in den Straßen unterwegs, um die handgeschriebenen Wandzeitungen abzufotografieren und zu entziffern. „Das war wie ägyptische Hieroglyphentafeln“, erinnert er sich. Trotz aller Schrecken war die Station in Peking eine intensive Lehrzeit. „Dort habe ich übersetzen gelernt, und zwar viel und schnell.“
Zurück in Deutschland, sattelte Helmut Ettinger ein Zusatzstudium Internationale Beziehungen in Potsdam-Babelsberg obendrauf, lernte in einem Intensivkurs für angehende Diplomaten Englisch und Französisch und promovierte an der Humboldt-Universität Berlin. 1976 wurden er und seine Frau erneut für drei Jahre nach China geschickt, diesmal als Diplomaten. Anschließend analysierte er für das Zentralkomitee der SED die internationalen Beziehungen der DDR zur Sowjetunion und China und übersetzte politische Texte – bis Honecker ihn als Dolmetscher holte. Zunächst hielt sich Ettingers Begeisterung in Grenzen: Die analytische Arbeit gefiel ihm gut, und aus Erfahrung wusste er, dass Dolmetscher trotz ihrer Qualifikationen oftmals wie „bessere Dienstboten“ behandelt wurden. Doch sein Dienstantritt fiel mit der Perestroika zusammen, und dieser „Glücksumstand“ versöhnte ihn mit dem neuen Job.
Das Dolmetschen für Honecker war angenehm, denn dieser formulierte verständlich und sprach in überschaubaren Absätzen, wenn auch ziemlich leise. Er hatte als junger Kommunist einige Zeit in Moskau verbracht und verstand daher Russisch. Das bekam Ettinger zu spüren, als er bei einer langen Aufzählung der neuesten Wirtschaftsdaten der DDR einen Fehler machte und Honecker ihn auf Russisch korrigierte. Aber für gewöhnlich sprach er in Ettingers Gegenwart kein Russisch und redete ihm auch nicht in seine Übersetzungen hinein.
Als Chefdolmetscher erlebte Ettinger die Perestroika hautnah mit und erhielt einzigartige Einblicke hinter die politischen Kulissen. „Damit war Ende 1989 schlagartig Schluss.“ Mit dem Ende der DDR standen Helmut Ettinger und seine Frau plötzlich ohne Job da. Das Auswärtige Amt übernahm nur Jungdiplomaten, die frisch von der Akademie kamen, alle anderen wurden fristlos entlassen. Und wer vorher für Honecker gedolmetscht hatte, galt nach der Wiedervereinigung ohnehin als persona non grata. „Da haben wir uns auf unser Handwerk besonnen“ – das Übersetzen.
Los ging es mit politisch-historischen Sachbüchern und Biographien. Der anfängliche Versuch, zusammen zu übersetzen, scheiterte, denn „wir haben ständig über alles diskutiert“. Nach und nach etablierte sich eine bewährte Arbeitsteilung: Hilde übernimmt die Vorrecherche, Helmut diktiert die Rohübersetzung auf Band, sie tippt den Text ab und redigiert ihn zugleich, dann diskutieren beide über logische Anschlüsse, unterschiedliche Interpretationen usw. Ein Gemeinschaftswerk also, auch wenn in den Büchern nur Helmut Ettinger als Übersetzer steht.
Doch vom Literaturübersetzen allein können bekanntlich die wenigsten leben. Nach einigen Monaten beruflicher Ungewissheit wurde Ettinger von der PDS übernommen und war später Außenpolitikexperte in der Bundesgeschäftsstelle der Linken. Bis zur Rente 2006 übersetzte er nur nebenberuflich Literatur und staunt heute selbst, wie er das neben dem anspruchsvollen Job mit den ständigen Dienstreisen geschafft hat. 100 Bücher haben Ettingers bis heute aus dem Russischen und Englischen übersetzt. Viele Texte bekommt Ettinger erst zur Begutachtung und dann den Übersetzungsauftrag, auf die Auswahl der Bücher hat er allerdings keinen Einfluss.
Wirkt sich die aktuelle Situation auf die Nachfrage nach russischen Büchern aus? Ettinger antwortet diplomatisch: Das Interesse der Buchbranche hänge eng mit dem politischen Image eines Landes zusammen, bei Russland schwanke das eben – mal sei es hoch wie Mitte der 90er Jahre während der postsowjetischen Transformationsprozesse, dann wieder niedrig.
Neben Sachbüchern hat er etliche Kriminalromane übersetzt, darunter Darja Donzowa und Polina Daschkowa für den Aufbau Verlag. Erst habe er die Krimis als Trivialliteratur abgetan, dann aber gemerkt, wie viel man daran lernen kann: Zum einen wäre es fatal, irgendeine der eingestreuten Spuren – richtige oder falsche – zu übersehen, zum anderen müssen die Dialoge lebendig und „mit Pfiff“ geschrieben sein.
Ein Meilenstein auf seinem literarischen Weg war Antony Beevor. Ettinger schätzt an dem britischen Militärhistoriker, wie gekonnt er fundierte Informationen über das Geschehen auf dem Schlachtfeld mit dem Agieren von Diplomatie und Geheimdiensten sowie der Schilderung der Leiden in der Zivilbevölkerung verbindet. Mittlerweile hat er acht Bücher von Beevor übersetzt – besonders eindrucksvoll war Ein Schriftsteller im Krieg: Wassili Grossman und die Rote Armee 1941–1945. Darin veröffentlichte und kommentierte Beevor erstmals große Auszüge aus den Tagebüchern es sowjetischen Autors Wassili Grossman, in denen dieser die erschütternden Erlebnisse als Frontkorrespondent vom belagerten Stalingrad über die Befreiung des Vernichtungslagers Treblinka bis hin zur Eroberung Berlins festhält.
Ebenso beeindruckt hat ihn die Reisereportage Das eingeschossige Amerika. Mitte der 30er Jahre bereiste das sowjetische Satirikerduo Ilf und Petrow die USA. Als Dolmetscher engagierten sie einen Ingenieur, der in der Sowjetunion gearbeitet hatte und sich mit seinen trockenen Kommentaren zum amerikanischen Lebensstil als „absolute Ulknudel“ herausstellte. So entstand laut Ettinger eine „sowjetische antikapitalistische Kritik vermischt mit Bewunderung für die amerikanische Technik, die freundlichen Menschen, den Service in den Hotels und Gaststätten und die Versorgungslage“.
Bisheriger Höhepunkt seiner Übersetzertätigkeit sind die Romane von Gusel Jachina. Seit ihrem Debüt Suleika öffnet die Augen ist er ein Fan der russisch-tatarischen Autorin (hier das ausführliche Interview). Besonders fasziniert ihn, wie sie Schwarz und Weiß, Gut und Böse dialektisch miteinander verwebt und sich einer eindeutigen Interpretation entzieht, denn: „Literatur, die geradlinig ist, interessiert mich nicht.“ Für ihren zweiten Roman Wolgakinder erhielten Autorin und Übersetzer 2020 zusammen den Georg Dehio-Buchpreis.
Helmut Ettinger ist ein wandelndes Geschichtsbuch, und wenn man mit ihm über seine Bücher spricht, merkt man ihm die Begeisterung für jedes einzelne der von ihm übersetzten Werke an. Enthusiastisch stürzt er sich in Entstehungsgeschichte, Inhalt und stilistische Besonderheiten, ich werde mitten hineingezogen in den Übersetzungsprozess und könnte ihm noch stundenlang zuhören. Aber leider ist auch das interessanteste Gespräch einmal zu Ende, und er muss los – zum Mittagessen, und dann hoffentlich auf zum nächsten Buch, das seine Frau und er mithilfe ihrer geballten Sprachkenntnisse und Lebenserfahrung ins Deutsche bringen werden.