
Mit Stadt auf Zeit, erschienen im Verlag die brotsuppe, hat Lydia Dimitrow nun den dritten der mittlerweile vier Romane des Schweizer Autoren Bruno Pellegrino ins Deutsche übersetzt. Die Handlung: Ein junger Mann, gerade mit dem Studium fertig, wird von einer Stiftung beauftragt, das Werk einer Übersetzerin zu sichten. Dafür reist er in die Stadt, in der diese einen großen Teil ihres Lebens verbracht hat, und widmet sich mehrere Monate der Aufgabe, im Haus der Übersetzerin ihre Schriften zu katalogisieren. Dabei lässt der Protagonist das eigene Leben nur allzu gern hinter sich, und je mehr er über Arbeitsproben, Übersetzungsentwürfen und auf Einkaufszettel gekritzelten Notizen brütet, desto tiefer dringt er in die Welt der Übersetzerin ein – oder glaubt dies zumindest. Eine große Rolle spielt dabei auch die ihn umgebende Stadt, deren Besonderheiten und ganz eigene Probleme er nach und nach entdeckt.
Der Name der Stadt fällt im Roman kein einziges Mal, nur durch das dem Text vorangestellte Zitat aus Italo Calvinos Le città invisibili/Die unsichtbaren Städte wird sie als Venedig identifiziert. Das explizite Benennen ist dank Pellegrinos Beschreibungen der Sinneseindrücke, die in der Lagunenstadt auf den Erzähler einprasseln, aber auch fast überflüssig, denn der Detailreichtum, mit dem beispielsweise auf Architektur eingegangen wird, macht die Stadt unverkennbar. Besonders kommt das zur Geltung, wenn die Hauptfigur den Blick auf den Himmel oder das allgegenwärtige Wasser richtet, die ihre Erscheinung in wenigen Augenblicken völlig verändern können.
Le ciel a clignoté sans émettre le moindre grondement. En l’espace de quelques minutes, l’horizon s’est estompé dans une brume bleue. Une pluie de petits oiseaux blancs s’est abattue comme des morceaux de porcelaine. L’embarcadère tanguait de plus en plus fort, je suis ressorti pour attendre sur le quai.
Ohne das leiseste Grollen leuchtete der Himmel auf. Innerhalb von Minuten verschwamm der Horizont in blauem Nebel. Ein Regen aus kleinen weißen Vögeln prasselte nieder wie Scherben aus Porzellan. Die Anlegestelle schwankte, ich ging zurück zum Kai und wartete dort.
An diesem Zitat zeigt sich, dass Pellegrino das Wetter schon fast zu einer eigenen Person macht. Er beschreibt die Veränderungen des Wetters statt mit dem dafür üblichen imparfait mit dem passé composé, das eigentlich Aktionen vorbehalten ist. Pellegrino verzichtet im Roman kategorisch auf die Verwendung des passé simple, der traditionellen Zeitform literarischer Texte im Französischen, wodurch der Text unmittelbarer wird und das Publikum der Hauptfigur und ihren Gedanken näher ist. Der parataktische Stil, mit dem Hauptsätze ohne Konjunktionen aneinandergereiht werden, zieht sich durch den ganzen Text und verleiht ihm eine hastige Dringlichkeit, die die Unruhe des Protagonisten, der sich vor seinen Problemen in die neue Aufgabe flüchtet, fühlbar macht. Während Pellegrino für die Handlungen der Figuren eine schlichte Sprache verwendet, wirken die Naturbeschreibungen durch Metaphern und Vergleiche poetisch. So ensteht zwischen der Ruhelosigkeit der Sprache und der Schönheit der Natur eine Spannung. Dimitrow gelingt es, diese Spannung einzufangen, indem sie ebenfalls auf Konjunktionen, Partikel oder anderen sprachlichen Schmuck verzichtet.
Das Leben von Übersetzenden spielt eine große Rolle im Roman. Einige Stellen, die aus dem Blickwinkel der Übersetzerin selbst erzählt werden, zeigen uns beispielsweise die Freude, endlich genau die richtige Lösung gefunden zu haben, aber auch die Schwierigkeit, diese direkt festhalten zu müssen.
Une phrase est venue la tirer du sommeil au milieu de la nuit. Elle a ouvert les yeux et immédiatement elle a su comment faire, mais le temps qu’elle allume sa lampe de chevet, qu’elle enfile un peignoir et que démarre son vieil ordinateur, sa solution s’était dissipée. Il aurait suffi de la noter à la main. Les mots étaient si nets, si puissants dans son esprit, elle ne s’est pas doutée de leur volatilité.
In der Nacht riss sie ein Satz aus dem Schlaf. Sie schlug die Augen auf und wusste sofort, wie sie es angehen musste, aber bis sie ihre Nachttischlampe eingeschaltet, den Bademantel übergezogen und ihren alten Computer hochgefahren hatte, war ihr die Lösung wieder entglitten. Sie hätte sie sich auch handschriftlich notieren können. Die Worte waren ihr so klar und deutlich im Kopf erschienen, sie hatte ihre Flüchtigkeit nicht mit einberechnet.
Mithilfe der von ihr verwendeten Verben gelingt es Dimitrow hier wunderbar, einerseits die Dringlichkeit, die die Übersetzerin packt, und andererseits die Flüchtigkeit der Übersetzungslösung zu kommunizieren. Wo im Französischen die Adjektive „net“ und „puissant“ prädikativ verwendet werden, ergänzt sie im Deutschen „erschienen“, was den Satz mit einer zusätzlichen visuellen Ebene schön abrundet.
Es werden aber auch negative Aspekte des Übersetzerdaseins beleuchtet. Die Übersetzerin im Roman ist erfolgreich, ihre Übersetzungen werden mit Preisen ausgezeichnet und verkaufen sich gut, und trotzdem führt sie ein Schattendasein, ohne dass sie für ihre Arbeit breite Anerkennung der Öffentlichkeit erfährt. Eine Internetrecherche der Hauptfigur zur Übersetzerin erweist sich als wenig ergiebig:
On ne trouvait sur elle, en ligne, que de rares photographies. Deux ou trois dépêches d’agence circulaient, toujours les mêmes, avec de légers changements qui introduisaient parfois des contradictions. Sa biographie était réduite au minimum – naissance, études, liste d’œuvres, distinctions.
Im Internet fand man von ihr nur ein paar seltene Fotografien. Es waren zwei, drei Pressemeldungen im Umlauf, immer leicht abgewandelt, was hier und da zu Widersprüchen führte. Ihre Vita blieb auf das Nötigste reduziert – Geburtsjahr, Studium, Bibliografie, Auszeichnungen.
Hier bleibt Dimitrow bei der Übersetzung von „que de rares photographies“ zu nah am französischen Original, was auf zwei Ebenen zu Problemen führt. Zum einen kommt es zu einer leichten Sinnverschiebung, da sich „nur ein paar seltene Fotografien“ so liest, als ob diese Raritäten wären. Dabei ist „rares photographies“ hier nicht qualitativ, sondern quantitativ zu verstehen: Die Hauptfigur erhält bei ihrer Internetrecherche nur wenige Ergebnisse. Zum anderen ist das Register von „Fotografien“ hier etwas zu hoch. Die deutlich häufigeren und alltagssprachlichen „Fotos“ oder „Bilder“ hätten im Kontext der Suchmaschinenergebnisse sicher besser gepasst.
Erfreulicherweise wird Übersetzenden nicht nur in der Romanhandlung, sondern auch bei der Buchgestaltung viel Platz eingeräumt. Lydia Dimitrow wird auf dem Einband als Übersetzerin genannt und Pellegrino erwähnt sie in seiner Danksagung. Auch bei Calvinos Eingangszitat werden die jeweiligen Übersetzenden ins Französische bzw. Deutsche angegeben, was eine angenehme Überraschung darstellt und ein Zeichen der Wertschätzung ist, die der unabhängige Verlag die brotsuppe seinen Übersetzenden entgegenbringt.
Ein weiteres wichtiges Thema im Roman ist der Verlust. Nach und nach stellt sich heraus, dass sich der Erzähler in seine Arbeit flüchtet, um der Demenzerkrankung seiner Großmutter zu entkommen. Dies wird dadurch erschwert, dass auch die Übersetzerin, mit deren Leben er sich intensiv auseinandersetzt, an einem ähnlichen Leiden erkrankt ist. Damit wirft der Roman die Frage auf, wie viel von einem Menschen bleibt und wie man ihn in Erinnerung behalten kann. Der Erzähler versucht, sich ein Bild der Übersetzerin anhand der Gegenstände in ihrem Haus zu machen. Dass solche Bilder letzten Endes höchst subjektiv sind und oft wenig mit der Realität zu tun haben, bemerkt auch der Protagonist immer wieder, zum Beispiel als er ein Radiointerview mit der Übersetzerin findet und es erschrocken abschaltet, als er merkt, dass ihre tatsächliche Stimme gar nicht seinen auf ihrem Schreiben beruhenden Vorstellungen entspricht.
Die Erkrankung und der damit einhergehende Verlust spiegelt sich überall in der Stadt. Das allgegenwärtige Wasser nagt an Venedigs Substanz, und durch Überschwemmungen, Schimmel und Erosion droht kontinuierlich das Verschwinden der Stadt. Pellegrino verfällt aber nicht in Untergangsromantik, sondern schlägt den Bogen zur realen Klimakrise.
Tout un imaginaire apocalyptique m’aidait à me figurer l’engloutissement, les places ensablées, les objets transformés en coraux, les balcons ornés de varech, les familles d’hippocampes établies dans les clochers. J’étais ici depuis quelques semaines, et je voyais les rues se fissurer. Je voyais les bâtiments s’enfoncer dans la vase, les églises pencher, toutes les surfaces se déformer. Il faudrait peut-être bientôt condamner les rez-de-chaussée, mais je ne croyais plus que la ville coulerait. Elle ne ferait que croupir dans quelques centimètres, peut‑être un mètre, d’une eau saumâtre qui ne refluerait jamais, comme un corps dans son propre jus. Elle deviendrait tout simplement insalubre, inhabitable. Les gens s’en iraient.
Ein Fundus von Endzeitbildern half dabei, mir die Überflutung auszumalen, sandbedeckte Plätze, zu Korallen versteinerte Gegenstände, mit Tang verzierte Balkone, in Kirchtürmen heimisch gewordene Seepferdchenfamilien. Ich war seit ein paar Wochen hier und sah, wie die Straßen rissig wurden. Ich sah, wie die Gebäude im Schlamm absackten, Kirchen sich zur Seite neigten, Oberflächen sich verformten. Vielleicht dauerte es nicht mehr lang, bis man das Erdgeschoss aufgeben müsste, aber ich glaubte nicht mehr daran, dass die Stadt untergehen würde. Sie würde einfach nur ein paar Zentimeter, vielleicht einen Meter tief in brackigem Wasser, das nirgendwohin mehr abflösse, vor sich hin modern, wie ein Körper im eigenen Saft. Sie würde schlicht verkommen, unbewohnbar werden. Die Menschen würden sie verlassen.
Pellegrino zeigt hier, dass die Klimakrise nicht zu einer Art Waterworld à la Kevin Costner führt, sondern Orte auf tragische und glanzlose Weise für Menschen unbewohnbar macht. Er geht noch einen Schritt weiter, indem er feststellt, dass diese Gedanken bezüglich der Zukunft Venedigs an anderen Orten wie Lagos oder Jakarta bereits jetzt Wirklichkeit sind – Orte, die nicht über die finanziellen Mittel verfügen, um sich gegen die Auswirkungen des Klimawandels zu schützen. Dimitrows Übersetzung glänzt hier vor allem bei den Beschreibungen der fantastischen Unterwasserwelt. Bei der Übersetzung von „objets transformés en coraux“ findet sie für das generelle „transformés“ mit „zu Korallen versteinerte Gegenstände“ eine Übersetzung, die das angestrebte Bild noch griffiger macht. Störend ist allerdings die Übersetzung von „refluerait“ mit „abflösse“. Der sehr gehobene Konjunktiv II wirkt fehl am Platz, und es wäre vielleicht besser gewesen, auf die Bildung mit würde und Infinitiv zurückzugreifen, wie in den vorherigen und nachfolgenden Sätzen.
Der knappe Roman teilt sich in kurze Textabschnitte und Szenen, die meist nicht länger als zwei Seiten umfassen. Dieses Format verleiht dem Text eine neblige Atmosphäre, in der vieles ungesagt und schemenhaft bleibt. Einerseits passt das sehr gut zu der introspektiven, nachdenklichen Stimmung, denn man fühlt sich ähnlich verloren wie der Erzähler. Andererseits bleibt vieles nur angedeutet und wird nicht weiter ausgeführt, auch wenn man vielleicht noch gerne mehr erfahren hätte. Die spärliche Handlung bietet da eher den Rahmen, um über die genannten Themen zu meditieren und um Raum für die Naturbeschreibungen zu schaffen.
Über zwei Stellen bin ich beim Lesen der Übersetzung gestolpert:
Au dernier coup de frein du train, la pluie a rayé la vitre de stries verticales. Sur le quai, relents lacustres – canard, algues tièdes, neige –, quelque chose de chimique aussi, chlore ou détergent, une odeur de piscine. Les grands escaliers devant la gare ressemblaient à l‘image que je m’en étais faite.
Als der Zug zum letzten Mal bremste, zog es den Regen in senkrechten Streifen über die Scheibe. Auf dem Kai ein Geruch nach Tümpel – Ente, lauwarme Algen, Schnee –, auch etwas Chemisches, Chlor oder Reinigungsmittel, wie im Schwimmbad. Die große Treppe vor dem Bahnhof sah aus, wie ich sie mir vorgestellt hatte.
Hier verwundert die wörtliche Übersetzung von „sur le quai“ als „auf dem Kai“. Natürlich kann das polyseme quai ebenfalls Kai bedeuten, was im Kontext von Venedig auch naheliegt. Allerdings verlässt der Protagonist hier den Zug und spricht danach von Bahnhofstreppen, weswegen es sich bei diesem quai wohl eher um einen Bahnsteig handelt. Eine Kleinigkeit, die die Lektüre nicht weiter stört, aber gerade aufgrund der großen Sorgfalt, mit der sonst übersetzt wurde, heraussticht.
Am Ende des Romans lässt der Erzähler ein Kleid der Übersetzerin, das ihn völlig in seinen Bann gezogen hat, nach einem Sturm im überschwemmten Haus ins Wasser gleiten und schaut dann zu, wie es umhertreibt:
La robe ne coulait pas, elle se mouvait très lentement juste sous la surface. Sereine et silencieuse, elle évoluait dans la cuisine comme un grand poisson jamais répertorié.
Das Kleid ging nicht unter, es trieb nur langsam direkt unter der Oberfläche. Friedlich und still schwamm es durch die Küche wie ein großer, noch unentdeckter Fisch.
Das Verb répertorier bedeutet „in ein Verzeichnis aufnehmen“ oder „inventarisieren“, also ein klarer Verweis auf die Tätigkeit des Protagonisten, der seine Zeit damit zubringt, die Schriften der Übersetzerin zu katalogisieren. Für mich war die Bezeichnung des Kleides als „grand poisson jamais répertorié“ eine Art Eingeständnis der Unerfüllbarkeit der eigenen Aufgabe: Trotz seiner Mühen bleibt ihm die Übersetzerin eine Unbekannte; es gelingt ihm nicht, ihr Wesen durch das Inventarisieren ihrer Dokumente zu fassen. Diese Bedeutung geht im Deutschen verloren. Auch die Übersetzung von „jamais“ als „noch“ verschiebt die Frage, ob diese Aufgabe überhaupt zu erfüllen ist, eher ins Zeitliche und bejaht damit ihre prinzipielle Möglichkeit, was für mich im Gegensatz zur Textaussage steht. Hier macht die Übersetzung den Interpretationsspielraum ein wenig kleiner.
Stadt auf Zeit ist eine kurzweilige Lektüre, die ihr Publikum nach Venedig und in das Innenleben ihres Protagonisten entführt. Der Text besticht mit seinen poetischen Naturbeschreibungen, der Dringlichkeit seiner Sprache und dem gekonnten Verweben von Themen wie Verlust, Verfall und Wandel. Dass Pellegrino manchmal nicht tiefer auf die sehr interessanten Ideen eingeht, ist ein kleines Manko, ebenso dass Dimitrows Übersetzung an einigen wenigen Stellen nicht komplett rund ist. Insgesamt ist es der Übersetzerin aber gelungen, einen empfehlenswerten Roman für deutschsprachige Leser:innen zugänglich zu machen.
Noch mehr zur Übersetzung könnt ihr im TOLEDO-Journal der Übersetzerin erfahren.