Um die Jahrhundertwende gab es in Schweden eine intensive Debatte über Bildung und Erziehung. Die Reformpädagogin Ellen Key bemängelte 1898 in einem Artikel, das Lesebuch der schwedischen Grundschule übertreffe die schlimmsten Befürchtungen. Die Geschichten, die darin zu finden seien, hätten größtenteils „keinerlei Bezug zur Fantasie, zum Gefühlsleben und zu den Erfahrungen eines Kindes“.
Als Gegenbeispiel zog Key die Fibel der norwegischen Grundschule heran, die den Schulstoff „zeitgemäß, lebendig, persönlich, mit einem Bezug zur Gegenwart“ darstelle. Mit ihrer Kritik war Key mitnichten allein, auch die schwedischen Lehrer:innen monierten ihre fade Unterrichtsvorlage. Man überlegte, wie dieses Problem zu lösen sei, und hatte die zündende Idee, mit einer Schriftstellerin zusammenzuarbeiten, die schwedischen Kindern die Kultur und die Geschichte ihres Landes auf spielerische Art und Weise nahebringen sollte.
So kam es, dass 1901 Selma Lagerlöf – schon damals eine Berühmtheit und selbst Lehrerin – angefragt wurde. Sie war sofort Feuer und Flamme für dieses Projekt, das sich jedoch verzögerte. Nicht nur, weil sie noch andere Aufträge zu erledigen hatte, sondern auch, weil sie zunächst nicht so recht wusste, wie sie die Sache anzugehen habe. Ideen gab es allerdings etliche. Lagerlöf reiste zur Recherche mit der Bahn nach Lappland, außerdem erhielt sie zahlreiche Zuschriften von Lehrer:innen, die ihre Region in ihrem Werk repräsentiert sehen wollten. Der Plan war, ein Buch über Schwedens Geografie zu schreiben, in dem Land und Leute sowie Flora und Fauna vorgestellt würden.
Das kam zur richtigen Zeit, denn 1905 wurde die Union mit Norwegen aufgelöst. Es gab eine nationale Identitätskrise. Eine neue, gemeinsame Erzählung musste also her. Aber die Arbeiten zogen sich über mehrere Jahre hin. Und erst nach der Lektüre von Rudyard Kiplings Dschungelbuch kam Lagerlöf der rettende Einfall, einen Jungen mit einer Schar Wildgänse durch das Land ziehen zu lassen. 1906 erschien der erste Band, 1907 der zweite. Beide Bücher wurden zu einem durchschlagenden Erfolg, was nicht nur daran lag, dass jedes Kind die mehreren hundert Seiten lesen musste, sondern auch an dem Plot selbst, der Schüler:innen wie Lehrer:innen gleichermaßen zahlreiche Identitätsangebote lieferte – und damit die so dringend benötigte gemeinsame Geschichte.
In vielerlei Hinsicht ist Nils Holgersson damit die ideale Ausformung dessen, was Ellen Key in ihrem Artikel fordert. Zwar ist die Hauptfigur schon vierzehn Jahre alt (und damit deutlich älter als die ursprünglich anvisierte neunjährige Zielgruppe des Romans), allerdings nimmt sie auf viele damalige gesellschaftliche Debatten und Entwicklungen Bezug und das Publikum lernt, wie Schweden zu dem Land wurde, das es damals war.
So erfährt man einiges über Menschen, die in den Bergwerken von den Direktoren großer Firmen ausgebeutet werden, und über die Tuberkulose, die zu Lagerlöfs Zeit viele das Leben kostete. Andere wanderten in die Vereinigten Staaten aus, weil es ihnen in Schweden an Perspektiven mangelte. Lagerlöf wollte nicht nur die Herausforderungen, sondern auch die Vorzüge ihres Landes schildern, damit die Leute es eben nicht verließen. Doch das alleine wäre für Kinder vermutlich zu langweilig, weswegen Nils Holgersson mit der überaus originellen Entwicklungsgeschichte seiner Hauptfigur noch eine zweite, märchenhafte Ebene besitzt.
Einmal in einen Däumling verwandelt, kann der Junge verstehen, was die Tiere zueinander sagen, und erkennt, wie ihr eigener Bezug zur Welt von den Menschen beeinflusst wird – und das, während sich die Menschen alles Getier untertan machen wollen, das über die Erde kriecht. Eine Fabrik nach der anderen schießt aus dem Boden, ganze Ökosysteme geraten ins Wanken. Hier nimmt der Roman heutige Erkenntnisse über die Verheerungen der Umwelt durch den Kapitalismus vorweg – und lässt sich als frühes Beispiel einer Ökofiktion lesen, die nicht zuletzt seit Maja Lundes Klimaquartett äußerst prominent in der skandinavischen Literatur vertreten ist. Auch die märchenhafte Welt, durch die sich Nils bewegt, kommt also nicht ohne Bezug zur Wirklichkeit aus. Sie formt seinen Blick und führt ihm die Konsequenzen seines Tuns vor Augen. War er vor seiner Verwandlung noch ein frecher Lausbub, der Tiere quälte, so behandelt er sie jetzt, nach seinem Rundflug mit den Wildgänsen, mit dem gebührenden Respekt.
Es ist nicht verwunderlich, dass eine Geschichte wie die Nils Holgerssons auch in anderen Ländern Aufmerksamkeit erregte. Sie wurde jedoch, wie Isabelle Desmidt 2003 in einem Artikel beschreibt, von Anfang an den tatsächlichen oder angeblichen Bedürfnissen des anvisierten Publikums angepasst. Das ist vor allem bei Klassikern gerne der Fall, bei Kinderbuchklassikern allerdings besonders oft und bei Nils Holgersson, der zumindest in Deutschland fast nie direkt aus dem Schwedischen kommt, erst recht. Die jeweilige Übersetzung, schreibt Desmidt, hat drei Aufgaben: Sie muss den Anforderungen des Originaltextes, des:der Auftraggeber:in und der Zielgruppe gerecht werden. Im Hinblick auf die deutschen Fassungen, von denen es bis zur Jahrtausendwende laut Desmidt 52 verschiedene gab – davon nur fünf ohne Umwege aus dem Schwedischen übersetzte und seitdem noch etwa 20 weitere, von denen nur eine einzige eine direkte Übersetzung ist –, muss man allerdings fragen, inwieweit die erste Aufgabe tatsächlich erfüllt worden ist, denn der Text lag überhaupt erst 2014 zum ersten Mal vollständig auf Deutsch vor.
Spricht man über ein Buch, das so bekannt ist wie Nils Holgersson, muss man daher folgende Fragen berücksichtigen: An wen richtet sich der Text? Ist er eine Bearbeitung für Kinder unterschiedlicher Altersklassen – oder wendet er sich an Erwachsene, die überprüfen wollen, ob das Lieblingsbuch ihrer Kindheit bei einer erneuten Lektüre plötzlich ganz neu oder gar fragwürdig erscheint? Die hier ausgewählten Übersetzungen leisten beides: Thomas Steinfeld hat den bislang einzigen vollständigen, direkt aus dem Schwedischen übertragenen deutschen Text vorgelegt. Gisela Perlets Text ist die wohl weitverbreitetste Fassung. Angelika Kutsch hat den Roman, wenn auch stark gekürzt, für Kinder übersetzt; Usch Luhn, Susan Niessen und Friedrich Hechelmann haben – wenn auch nicht immer gekennzeichnet ist, mit welcher Vorlage – jeweils eigene Nacherzählungen für Kinder von vier bis zehn Jahren entworfen, die jeweils unterschiedliche Probleme aufwerfen.
Schon aus Pauline Klaiber-Gottschaus Übersetzung, die bereits 1907 und 1908 in insgesamt drei Bänden auf den Markt kam, waren verschiedene Passagen gestrichen worden, etwa solche, in denen sich Nils vor der Dunkelheit fürchtet. Mathilde Manns Version war eine Direktübersetzung der dänischen. Und auch Gisela Perlets Text beruht auf einer um mehrere Kapitel gekürzten Fassung aus den Fünfzigern. Erst Thomas Steinfeld übersetzte den Text von Anfang bis Ende, wobei auch hier gewisse Einschränkungen zu treffen sind, denn die beiden didaktischen Gedichte am Anfang hat er weggelassen. Und das sind nur die Versionen, die sich an „Erwachsene“ richten (auch wenn Nils Holgersson als Kinderbuch gedacht ist).
Bei den Bearbeitungen für das jüngere und jüngste Publikum sieht es noch drastischer aus. Denn nimmt man Angelika Kutschs Fassung einmal aus, sind die Beispiele der vorliegenden Stichprobe nicht direkt aus dem Schwedischen oder einer Relaissprache übersetzt, sondern, wie etwa bei Usch Luhn, Susan Niessen und Friedrich Hechelmann, Nacherzählungen einer gemeinfreien Übersetzung, wobei nicht immer klargemacht wird, welcher. Von Texttreue kann, wie auch Isabelle Desmidt in ihrem Artikel thematisiert, in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle also keine Rede sein.
Übersetzungen von Kinderbuchklassikern werden nämlich oft an die Kultur der jeweiligen Zielsprache angeglichen, während bei Übersetzungen von Erwachsenenliteratur eher die kulturellen Normen des Ausgangstextes eine Rolle spielen und das Eintauchen in eine unvertraute Kultur sogar als großes Plus gesehen wird. Philologische Exaktheit ist bei übersetzter Kinderliteratur selten die Hauptnorm. Im Falle von Nils Holgersson wird der erzieherische Aspekt oft stärker gewichtet als der literarische, daher wird das Buch etwa durch Nacherzählungen und rigorose Kürzungen an das Alter der jeweiligen Zielgruppe angepasst. Ökonomische Kriterien spielen ebenfalls eine Rolle, etwa, wenn ein Buch verfilmt wird und eine dazu passende Fassung erscheinen soll.
Bei einem Blick in die Versionen von Thomas Steinfeld, Gisela Perlet, Angelika Kutsch, Susan Niessen, Usch Luhn und Friedrich Hechelmann, die allesamt zwischen 1991 und 2016 erschienen sind, fällt schon beim bloßen Draufschauen auf, dass es sich nicht bei jeder davon um die exakte Wiedergabe des schwedischen Textes handelt, denn sie umfassen, wie bei Luhn und Niessen, etwas über 100 Seiten, oder, im Falle Steinfelds, über 700, was in etwa dem Umfang des Originals entspricht. Auch heißen die Bücher je nach Bearbeitung anders: Lagerlöfs Nils Holgerssons underbara resa genom Sverige wird bei Steinfeld, Perlet und Kutsch noch direkt zu Nils Holgerssons wunderbare Reise durch Schweden, aber Hechelmann gibt den Titel mit Die wunderbare Reise des Nils Holgersson mit den Wildgänsen wieder und Usch Luhn wie auch Susan Niessen schlicht mit Nils Holgersson.
Steinfeld, Perlet und Kutsch übertragen den schwedischen Text, der aber zumindest in Perlets und Kutschs Fall arg gekürzt ist, Hechelmann nimmt Pauline Klaiber-Gottschaus Die wunderbare Reise des kleinen Nils Holgerssons mit den Wildgänsen (1907–1908) als Vorlage, während bei Luhn und Niessen gar nicht angegeben ist, wo die Blaupause für ihre Ausgabe herkommt. Noch dazu unterscheiden sich die Texte in ihrer Wirkung und ihrer Absicht erheblich voneinander. Die Geschichte muss heute, mehr als einhundert Jahre nach ihrem erstmaligen Erscheinen, eine andere Funktion erfüllen als im Schweden von 1907, das eine neue, gemeinsame Erzählung über Kindheit und Landeskultur suchte.
Das hat wiederum Auswirkungen auf die Gestaltung der jeweiligen Fassung, die sich mal schwächer, mal stärker auf folkloristische und mythologische Elemente bezieht, einen am Diskurs geschulten oder teilweise auch überhaupt keinen Umgang mit der aus heutiger Sicht rassistischen Sprache des Originals wählt. Oft werden die damaligen historischen Entwicklungen, etwa die Tuberkulose-Epidemie und die Industrialisierung, aber auch implizite Erwägungen zum Protestantismus, der für die Kultur der skandinavischen Länder so wichtig ist, außer Acht gelassen oder an die tatsächlichen oder vermeintlichen Bedürfnisse der jeweiligen Zielgruppe angeglichen.
So beginnt Nils Holgersson:
In dieser einleitenden Passage macht uns Selma Lagerlöf zum ersten Mal mit dem Setting und der Hauptfigur ihres Romans vertraut. Schon bei einem Blick auf die Überschriften fällt auf, wie unterschiedlich die jeweiligen deutschen Fassungen arbeiten. Haben Perlet, Steinfeld und Kutsch, die ja allesamt direkt aus dem Schwedischen übersetzen, Lagerlöfs Originalüberschriften übernommen („Pojken“/„Der Junge“ ist der Name des ersten Teils), so bewahrt Hechelmann nur noch diesen einen vorangestellten Titel („Der Junge“), während Niessen ihn weggelassen hat und nur noch den Namen des ersten Kapitels beibehält („Der Wichtel“) und Luhn sogar eine neue Überschrift erfindet („Ein echter Wichtel taucht auf“).
Das alleine mag im Rahmen einer Nacherzählung noch völlig unerheblich sein, aber Hechelmann, Luhn und Niessen verzichten auch auf die Datumsangabe („Sonntag, 20. März“), vielleicht auch deshalb, weil sie oft mehrere Kapitel zu einem zusammenfassen. Bei ihren Versionen weiß man über die Zeit der Handlung also nicht Bescheid, dabei ist das vor allem für die Illustrator:innen der Bücher kein ganz unwesentliches Detail: So ist Nils in Friedrich Hechelmanns Fassung auf einem Bild im ersten Kapitel zu sehen, wie er den Gänsen über eine Blumenwiese hinterherläuft, dabei steht wenige Seiten später, dass der Fuchs Smirre über eine Eisdecke bis zu den Gänsen gelangt, die auf einem See nächtigen. Illustration und Text widersprechen also einander, was die Beschreibung der Jahreszeit angeht.
Die teils sehr unterschiedlichen Übersetzungen des Wörtchens „Tomten“ stechen ebenfalls ins Auge: „Kobold“ (Perlet), „Wichtel“ (Steinfeld, Luhn, Niessen) und „Wichtelmännchen“ (Kutsch). Im Schwedischen ist der „tomte“ eine Art Hausgeist (und daneben auch das Wort für „Grundstück“, wie es auch heute noch in Immobilienanzeigen verwendet wird). Oft ist er mit einem weißen Bart, grauen Kleidern und einer Zipfelmütze anzutreffen. Zwar beschützt er mit seinen übernatürlichen Kräften das Haus, aber man sollte sich nicht mit ihm anlegen oder – wie Nils Holgersson – Tiere quälen, sonst bekommt man seinen Zorn zu spüren.
Zwar wird der „Wichtel“ nach den Gebrüdern Grimm als Synonym für Kobold und Zwerg gebraucht, allerdings ist Perlets „Kobold“ treffender, da es hier um einen Haushüter geht, der durchaus streng mit den Bewohner:innen umgeht. Rein etymologisch handelt es sich um ein Kompositum, dessen erster Teil aus „Kobe“ (Hütte, Verschlag) gebildet ist, der zweite Teil hingegen aus „hold“ (wie bei Unhold) oder aus „walten“. Ganz wie seine schwedische Übersetzung verknüpft das deutsche Wort das Wesen also mit dem Ort, an dem es normalerweise anzutreffen ist. Der „Wichtel“ hingegen stammt vom altnordischen „vættr“ ab, einer Sammelbezeichnung für Nissen, Alfen und Trolle, und ist daher eine etwas ungenauere Übersetzung für „tomt“ als „Kobold“, zumal Nils mit seinen Eltern eben in einer Hütte wohnt.
Auch den ersten Absatz fassen die Übersetzer:innen jeweils anders auf. Während Perlet Lagerlöfs klares „Inte stort dugde han till“ altertümelnd mit „Er war ein rechter Taugenichts“ wiedergibt, bleiben Steinfeld und Kutsch näher an der Syntax und übersetzen mit „Viel taugte er nicht“ bzw. mit „Er taugte nicht viel“. Das gilt auch für die Konstruktion „mest av allt … därnäst“ im darauffolgenden Satz, die bei Steinfeld zu „Am liebsten“ und „am zweitliebsten“ wird, bei Kutsch zu „Als Erstes“ und „als Zweites“ und bei Perlet zu „Am liebsten … und dann“. Dass Nils seine „Hobbys“ in so eine Rangfolge bringt, hat eine gewisse Komik, versteht er Ordnung doch ganz anders als seine Eltern, nämlich als Chaos.
Die Nacherzählungen allerdings geben naturgemäß nicht viel auf philologische Korrektheit und erfinden manchmal sogar noch Einzelheiten dazu. „Sein Haar war so flachsblond wie die schwedische Sonne, und er war gertenschlank wie die Birken im Garten“, schreibt Usch Luhn. Davon steht im schwedischen Text nichts, auch ist das Bild etwas schief geraten. Scheint die Sonne in Schweden denn anders als sonst wo auf der Welt? Als Flachspflanze etwa? Aber auch wenn das Adjektiv und das Substantiv nicht zusammenpassen, hat das Bild durchaus eine Berechtigung. Vermutlich soll Nils Holgersson genauso aussehen wie Jan Ohlsson als Michel aus Lönneberga – und Kinder sollen damit einen Anknüpfungspunkt an ein Schwedenbild erhalten, das sie eventuell bereits kennen. Stereotype Vorstellungen über die schwedische Mitternachtssonne spielen hier ebenfalls mit herein.
Es ist aber auch gut möglich, dass die Wendung „so flachsblond wie die schwedische Sonne“ einem klischeehaften Schwedenbild seitens der Autorin oder des Verlags entspricht, da die Zielgruppe des Buches – Vier- bis Sechsjährige – in der Regel noch nicht so viele Fernsehsendungen gesehen hat, daher auch noch nicht so vertraut mit Michels Streichen ist und vielleicht auch noch nicht so viel über die Mitternachtssonne weiß.
Zwar ist bei Lagerlöf nichts von der Sonne zu lesen, „flachsblond“ ist allerdings eine treffende Übersetzung von „linhårig“ (Klaiber-Gottschau schrieb Anfang des 20. Jahrhunderts noch „flachshaarig“, was sehr wörtlich ist). Anders formuliert: Die Autorin – oder der Verlag – scheinen davon auszugehen, dass Deutsche an Schweden denken, wenn sie das Wort „flachsblond“ hören, greifen also auf ein etabliertes Konzept zurück. Und während Perlet, Steinfeld, Kutsch und Luhn Lagerlöfs „linhårig“ weitestgehend übernehmen, verzichten Niessen und Hechelmann auf den Flachs und schreiben lediglich, Nils habe blondes Haar. Ihre Nacherzählungen rufen das Schwedenbild also keineswegs so prominent auf wie die anderen Fassungen, sondern setzen eher auf eine schnelle Beschreibung der Hauptfigur, die aber nicht so anschaulich ist wie „flachsblond“.
Die meisten Fassungen lassen erahnen, was für ein Frechdachs Nils ist, nur Luhn stellt ihn braver dar als die Vorlage. Das zeigt sich auch in den Illustrationen von Joëlle Tourlonias: Der Junge wird durchgängig als Wichtelmännchen mit Stupsnase dargestellt, das keiner Fliege etwas zuleide tun kann. Dabei ist das genaue Gegenteil der Fall. „Glaubst du, wir wüßten nicht, daß du Nils bist, der Gänsejunge, der im vergangenen Jahr Schwalbennester herunterriß, Stareneier zerschlug, Krähenjunge in die Mergelgrube warf, Amseln mit der Schlinge fing und Eichhörnchen in Käfige sperrte?“, bekommt er an einer Stelle vom Eichhörnchen Sirle zu hören (hier in Steinfelds Übersetzung). Dass Luhn Nils‘ Böse-Jungen-Streiche deutlich abschwächt, ist aber nachvollziehbar, wenn man bedenkt, dass ihre Fassung an noch recht kleine Kinder adressiert ist. Sie gewichtet den erzieherischen Aspekt also deutlich stärker als den philologischen: Gewaltdarstellungen, egal welcher Art, sind für bestimmte Altersklassen eben ungeeignet.
Bei einem Vergleich zwischen Luhns Nacherzählung und dem schwedischen Text zeigt sich jedoch auch, dass heute andere Ansichten über Erziehung herrschen als zu Lebzeiten der Autorin. Hier wird die Bearbeitung an die Zielkultur angeglichen, befremdliche – oder auch zu voraussetzungsreiche – Eigenheiten des Ausgangstextes werden weggelassen, zumal sich ihre Fassung an die Jüngsten richtet. Fordern die Eltern Nils bei Lagerlöf – und entsprechend auch in den Bearbeitungen von Perlet, Steinfeld, Kutsch, Hechelmann und Niessen – noch auf, er möge die Predigt doch bitte daheim lesen, und holt die Mutter ihm vorsorglich Luthers Hauspostille aus dem Regal, steht bei Luhn davon nichts mehr. „Sei schön brav, Nils. Wir sind bald wieder da“, sagt in ihrer Fassung sein Vater zu ihm.
Das ist eine nebulöse Mahnung, die bei so einem Rabauken wie Nils sicherlich nicht ankommen wird. Da die Zeitangabe auf Sonntag, den 20. März lautet, lässt sich sogar herausfinden, welche Predigt das im evangelischen Kirchenjahr genau ist. Der einzige Sonntag, der im zeitlichen Ablauf der Handlung und der Entstehung des Romans hierfür in Frage kommt, ist der 20. März 1904, „Judica“ genannt. Für diesen Tag weist der schwedische Almanach Joh. 8, 46–59 („Der Streit um Jesu Ehre“) als zu lesende Bibelstelle aus. „Detta Evangelium lärer, huru de forstockade warda desto galnare, ju mera man lärer och wänligen lockar dem“, steht in der schwedischen Fassung der Hauspostille, die – genau wie ihre deutsche Vorlage – ein schlagendes Beispiel für Luthers Antisemitismus ist. Das schwedische Zitat soll heißen: Dieses Evangelium lehrt, dass die Verstockten je verbohrter werden, desto mehr man ihnen mit einer freundlich dargebrachten Lehre beizukommen versucht.
Das trifft durchaus auch auf Nils zu, der nicht auf seine Eltern hört und auf ihre freundliche Aufforderung hin, die Predigt zu lesen, den Plan fasst, mit der Flinte seines Vaters zu schießen. In der deutschen Hauspostille findet sich auch noch folgender Satz: „Daß jetzt zur Zeit die Kinder gemeiniglich so ungehorsam und muthwillig sind wider ihre Eltern, kommt auch daher, daß sie Gottes Wort nicht hören“. Es ist kein Wunder, dass Nils nichts mit dieser Predigt anfangen kann, ist sie doch (zumindest in ihrer schwedischen Bearbeitung) so abgehoben theologisch, dass er sich bestimmt schnell langweilen wird. Was Lagerlöf mit dieser subtilen Referenz auf das religiöse Leben ihrer Zeit andeutet, sollte allerdings klar sein: Nils führt kein gottesfürchtiges Leben, er hat noch viel zu lernen (auch wenn der Stoff alles andere als kindgerecht ist).
Das ist aus der Perspektive der Gegenwart, in der der Glaube nicht mehr so wichtig ist, ein durchaus antiquierter Erziehungsrat, und so sollte es auch niemanden allzu sehr erstaunen, dass die Säkularisierung auch in einer heutigen Bearbeitung des Nils Holgersson-Stoffes eine Rolle spielt. Aber längst nicht alle Versionen lassen diese Information weg. Es stellt sich nämlich die Frage, was damit gewonnen wäre, ist doch gerade der Protestantismus von größter Wichtigkeit für den historischen Fortschritt, den Lagerlöf schildert: Der Mensch macht sich das Land, das er bewohnt, untertan, er errichtet Fabriken und Eisenbahnen. Doch ob eine Information wie diese letztlich drinsteht, ist immer auch eine Frage der Zielgruppe. Die einen Kinder wollen eine spannende Geschichte hören, die anderen sind vielleicht schon neugierig auf größere Zusammenhänge und fragen sich, was Schweden für ein Land ist.
Angleichungen wie diese sollen einen Klassiker, der vor über 100 Jahren erschienen ist, für ein heutiges Publikum aktualisieren. Sie lassen Rückschlüsse auf gesellschaftliche Entwicklungen zu, etwa dann, wenn sich die herausgebenden Verlage entscheiden, religiöse Referenzen abzumildern oder ganz wegzulassen. Manchmal bleiben die Bearbeitungen – und das betrifft vor allem die Direktübersetzungen – jedoch hinter dem neusten Stand der Debatte zurück. Das gilt insbesondere für die Passagen, in denen Lagerlöf eine aus heutiger Sicht rassistische Sprache verwendet. Sicherlich ließe sich öffentlich diskutieren, wie mit solchen Stellen umzugehen ist – wie das bei den teils erbitterten Auseinandersetzungen um Pippi Langstrumpfs Südseekönig bereits mehr oder weniger erfolgreich geschehen ist.
Nils Holgersson ist ein Roman mit vielen Nebenhandlungen und Binnenerzählungen. Eine davon, die Geschichte der beiden Kinder Åsa und Mats, ist, zumindest in der vorliegenden Stichprobe, nur in den Direktübersetzungen zu finden. Eines Abends klopft eine kranke Wanderin bei der Familie der beiden an die Tür. Sie nehmen die Frau auf, die sich vor einigen Jahren dem reisenden Volk angeschlossen hat, nachdem sie vor ihrem Vater, einem Vollbauer, weggelaufen ist. Jetzt glaubt sie, dass eine Frau aus dem reisenden Volk sie mit einem Fluch belegt hat und sie sterben wird, aber nicht nur sie, sondern auch alle anderen, die sie bei sich aufnehmen. Und so geschieht es. Erst wird die Frau krank, dann sterben die beiden Geschwister von Åsa und Mats, ihr Vater läuft weg und irgendwann sind sie alleine. In der Szene taucht ein aus heutiger Perspektive strittiger Begriff auf:
Das schwedische Wörterbuch empfiehlt, statt des Begriffs tattare „resande(folket)“ zu verwenden, was wörtlich so viel heißt wie „reisendes/fahrendes Volk“ und eine Bezeichnung für skandinavische Rom:nja ist. Ab dem 19. Jahrhundert wurde dieser Begriff zur Beschreibung „rassisch gemischter“ Menschen verwendet. In der Zwischenkriegszeit wurden viele Angehörige dieser Minderheit Opfer von Zwangssterilisation, auch wurden ihnen die Kinder weggenommen.
In der Literatur der damaligen Zeit spielten antiziganistische Stereotype durchaus eine Rolle. Nils Holgersson ist da keine Ausnahme: Die Frau, die mit den Sinti:zze und Rom:nja umhergezogen ist, wird als fordernd und penetrant beschrieben, implizit schwingt auch der Vorwurf mit, sie habe sich als Tochter eines Vollbauern – der als Hofbesitzer über Gärtnern und Häuslern steht und damit über einen gewissen gesellschaftlichen Status verfügt – von einer sicheren Zukunft verabschiedet, um sich mit zweifelhaften Gestalten herumzutreiben.
Alle diese Vorurteile finden in der diskriminierenden Bezeichnung „tattare“ zusammen, die Perlet, Steinfeld und Kutsch als „Zigeuner“ übersetzen. Das ist schon alleine deshalb eine kritikwürdige Entscheidung, weil dieses Wort, eine Fremdbezeichnung für Sinti:zze und Rom:nja, im Deutschen unauflöslich mit einer Diskriminierungsgeschichte verbunden ist, die ihren Höhepunkt im Porajmos gefunden hat. Der Zentralrat der Sinti und Roma schreibt auf seiner Webseite, lange habe die falsche Auffassung geherrscht, das Wort leite sich vom „Ziehgauner“ ab, auch hätten Wörterbücher bis ins späte 20. Jahrhundert noch „Abschaum“ und „Vagabund“ als Synonym gelistet. Es ist daher erstaunlich, dass ausgerechnet Übersetzer:innen, die angetreten sind, einen Klassiker für ein heutiges Publikum zu übersetzen, ihn also zu modernisieren, dieses Verletzungspotenzial nicht mitbedenken, und das in einem Kinderbuch.
Gleiches gilt für den Begriff „lapp“, eine abwertende Bezeichnung für das indigene Volk der Sámi. Diese Diskriminierungsgeschichte ist im deutschen Raum weniger bekannt, was aber kein Grund ist, sie unter den Tisch fallen zu lassen. Lagerlöfs Roman wurde nämlich zu einer Zeit veröffentlicht, als die Repressionen gegen die Sámi verstärkt wurden. Mit dem Eisenerzabbau in Nordschweden, der auch in Nils Holgersson ein prominentes Thema ist, wurden die Sámi, die u. a. von der Rentierjagd lebten, aus ihren alteingesessenen Gebieten verdrängt, auch herrschte infolge von Darwins Evolutionstheorie die irrige Auffassung, sie seien ein niedrig entwickeltes Volk. Sie wurden gezwungen, Schwedisch zu sprechen.
An dieser Textpassage, die nicht nur in den Bearbeitungen von Hechelmann, Niessen und Luhn fehlt, sondern auch bei Perlet, lässt sich ablesen, wieso die Bezeichnung „Lappe“ heutzutage nicht mehr benutzt werden sollte (das Wörterbuch der Schwedischen Akademie empfiehlt stattdessen „same“). Die Sámi, schreibt Lagerlöf an einer anderen Stelle, wundern sich über die Neuankömmlinge, die sich auf der anderen Seite des Sees extra Häuser errichten, anstatt wie sie einfach in Zelten zu wohnen.
Die Neuankömmlinge, die Eisenerz abbauen wollen und dafür eine Siedlung gebaut haben, fragen sich ihrerseits, wie die Sámi es in ihren Zelten aushalten können. Hier prallen zwei Welten aufeinander: einerseits die der schwedischen Mehrheitskultur, der im Romankosmos der Vorzug gegeben wird, andererseits die der Sámi, die eher Befremden auslöst, weil die Traditionen dieses Volkes einfach nicht verstanden werden und es auch noch eine Sprachbarriere gibt. (Wobei nicht ganz klar ist, welche Sprache genau: „Das“ Sámische/„Lappische“ gibt es nämlich gar nicht, sondern mehrere einzelne Sprachen, die obendrein nicht gegenseitig verständlich sind.) Wie schon bei ihrer Schilderung der „tattare“ greift Lagerlöf hier auf gängige Klischees zurück, die dann auch noch in den Übersetzungen zu finden sind, manchmal aber auch, wie das bei Hechelmann der Fall ist, in den Bearbeitungen, die ja oft auf Pauline Klaiber-Gottschaus Fassung beruhen.
Gerade Kinderbücher sollten auf diskriminierende Sprache verzichten, denn sonst setzen sich schädliche Denkmuster fort. Aber ausgerechnet diejenigen, die direkt aus dem Schwedischen übersetzen, also die Geschichte hinter den Wörtern „tattare“ und „lapp“ durchaus kennen sollten, bedenken nicht mit, welche Wirkung ihr jeweiliges deutsches Äquivalent unter Umständen hat. Dabei würde eine Umschreibung wie „reisendes Volk“ oder eine zeitgemäße Bezeichnung wie „Sámi“ dem Text nichts wegnehmen.
Das gängige Argument, diskriminierungssensible Sprache würde das Original verfälschen, ihm eine Deutung aufdrücken, die als Anachronismus zu werten sei, zieht in diesem Fall nämlich nicht, denn sonst müsste man sich ja auch fragen, warum der Text rein sprachlich ins 21. Jahrhundert und nicht nach 1907 verlegt wird: ganz einfach deshalb, weil das Mindesthaltbarkeitsdatum einer Übersetzung schneller zu Ende ist als das ihrer Vorlage. Einzig Steinfeld versucht, Lagerlöfs Roman in einer Art Vintage-Stil zu bewahren, indem er die alte Rechtschreibung beibehält. Man darf jedoch fragen, ob er die Vorlage dadurch nicht idealisiert, anstatt sie kritisch zu befragen und sie für die Gegenwart flottzumachen. Die fehlende Sensibilität mit diskriminierender Sprache ist ein Indiz dafür („so hat man das früher gesagt, deswegen übersetze ich das auch so“). Das ist schade, ist doch Nils Holgersson ein Roman, der unzählige Interpretationsmöglichkeiten anbietet und gerade in Zeiten der Klimakatastrophe Wichtiges über den Bezug des Menschen zu seiner Umwelt zu sagen hat.
Auch in seinen Übersetzungen sollte Lagerlöfs Roman so vieldeutig bleiben wie nur irgend möglich. Dass das aber nicht so ist, hat der Blick auf die vorliegende Stichprobe gezeigt. Denn auch wenn es sich an alle Altersklassen richtet, ist Nils Holgersson trotz allem immer noch ein Buch, das Kindern – aus welchem Anlass auch immer – Schwedens Topographie und Kultur nahebringen soll. Man kann aber nicht pauschal sagen, dass die eine Fassung schlechter oder besser sei als die andere, denn jede richtet sich an unterschiedliche Zielgruppen mit jeweils anderen Bedürfnissen.
Diese Tatsache lässt jedoch noch keinerlei Aussage über die Qualität des jeweiligen Textes zu. Ein besonders markantes Beispiel hierfür ist Usch Luhns Fassung, in der die ländlichen und städtischen Eigenheiten Schwedens überhaupt keine Rolle mehr spielen. Übrig bleibt nur noch die Erzählstruktur des Märchens selbst, die in den einzelnen Kapiteln unzählige Male wiederholt wird: Der Held, Nils Holgersson, erfährt eine Mangelsituation (er wird von einem Kobold zum Däumling geschrumpft), weil er ein Gebot missachtet hat (er ist ein Lausbub, der Tiere quält). Erst, wenn er gelernt hat, ein guter Mensch zu sein, der Einsicht in seine Handlungen hat, findet er einen Ausgang aus seiner Verwichtelung.
Bei der Erfüllung seiner Aufgabe stellen sich ihm aber immer wieder Gegner:innen in den Weg, etwa der Fuchs Smirre, der hinter den Wildgänsen her ist, oder das unwirtliche Wetter, das seine Reise beschwerlich macht. Als einfühlsamerer, ja vielleicht sogar als gottesfürchtigerer Mensch kehrt er nach Hause zurück, er hat seine Aufgabe also erfüllt – die Autorin Luhn ebenso, denn sie hat vier- bis sechsjährigen Kindern eine spannende Geschichte erzählt und ihnen nebenbei noch ein bisschen Empathie vermittelt.
Wenn man eine deutsche Fassung von Nils Holgersson lesen will, hat man die Qual der Wahl zwischen rund vier Dutzend verschiedenen Ausgaben, die von der Komplettübersetzung bis zum Schulbuch reichen. Die Frage, die man sich stellen sollte, lautet: Welchen Zweck soll die jeweilige Fassung erfüllen? Will man seinem kleinen Kind eine spannende Geschichte vorlesen, dann empfehlen sich die Fassungen von Usch Luhn und Susan Niessen. Will man hingegen einem lesebegeisterten Kind ein dickes Buch zum Schmökern, Staunen und Entdecken schenken, empfiehlt sich Friedrich Hechelmanns oder Angelika Kutschs Version. Und wer als Erwachsene:r neugierig auf die Originalversion ist, aber keine Lust auf 700 Seiten hat, wird an Gisela Perlets Fassung Gefallen finden. Steinfelds vollständige Übersetzung ist für alle, die auch nach zahlreichen Bearbeitungen und gekürzten Ausgaben nicht genug von Nils Holgersson bekommen können und eine Karriere in der Holgerssonologie in Erwägung ziehen.