Nils Hol­gers­sons wun­der­ba­re Rei­se nach Deutschland

Nils Holgersson ist ein Klassiker der Kinderliteratur. Doch mit dem schwedischen Original, das erst 2014 vollständig ins Deutsche gebracht wurde, haben die Übersetzungen nicht immer viel gemein. Von

Nur ein Bruchteil der vielen Nils Holgersson-Fassungen.

Um die Jahr­hun­dert­wen­de gab es in Schwe­den eine inten­si­ve Debat­te über Bil­dung und Erzie­hung. Die Reform­päd­ago­gin Ellen Key bemän­gel­te 1898 in einem Arti­kel, das Lese­buch der schwe­di­schen Grund­schu­le über­tref­fe die schlimms­ten Befürch­tun­gen. Die Geschich­ten, die dar­in zu fin­den sei­en, hät­ten größ­ten­teils „kei­ner­lei Bezug zur Fan­ta­sie, zum Gefühls­le­ben und zu den Erfah­run­gen eines Kindes“.

Als Gegen­bei­spiel zog Key die Fibel der nor­we­gi­schen Grund­schu­le her­an, die den Schul­stoff „zeit­ge­mäß, leben­dig, per­sön­lich, mit einem Bezug zur Gegen­wart“ dar­stel­le. Mit ihrer Kri­tik war Key mit­nich­ten allein, auch die schwe­di­schen Lehrer:innen monier­ten ihre fade Unter­richts­vor­la­ge. Man über­leg­te, wie die­ses Pro­blem zu lösen sei, und hat­te die zün­den­de Idee, mit einer Schrift­stel­le­rin zusam­men­zu­ar­bei­ten, die schwe­di­schen Kin­dern die Kul­tur und die Geschich­te ihres Lan­des auf spie­le­ri­sche Art und Wei­se nahe­brin­gen sollte.

So kam es, dass 1901 Sel­ma Lager­löf – schon damals eine Berühmt­heit und selbst Leh­re­rin – ange­fragt wur­de. Sie war sofort Feu­er und Flam­me für die­ses Pro­jekt, das sich jedoch ver­zö­ger­te. Nicht nur, weil sie noch ande­re Auf­trä­ge zu erle­di­gen hat­te, son­dern auch, weil sie zunächst nicht so recht wuss­te, wie sie die Sache anzu­ge­hen habe. Ideen gab es aller­dings etli­che. Lager­löf reis­te zur Recher­che mit der Bahn nach Lapp­land, außer­dem erhielt sie zahl­rei­che Zuschrif­ten von Lehrer:innen, die ihre Regi­on in ihrem Werk reprä­sen­tiert sehen woll­ten. Der Plan war, ein Buch über Schwe­dens Geo­gra­fie zu schrei­ben, in dem Land und Leu­te sowie Flo­ra und Fau­na vor­ge­stellt würden.

Das kam zur rich­ti­gen Zeit, denn 1905 wur­de die Uni­on mit Nor­we­gen auf­ge­löst. Es gab eine natio­na­le Iden­ti­täts­kri­se. Eine neue, gemein­sa­me Erzäh­lung muss­te also her. Aber die Arbei­ten zogen sich über meh­re­re Jah­re hin. Und erst nach der Lek­tü­re von Rudyard Kiplings Dschun­gel­buch kam Lager­löf der ret­ten­de Ein­fall, einen Jun­gen mit einer Schar Wild­gän­se durch das Land zie­hen zu las­sen. 1906 erschien der ers­te Band, 1907 der zwei­te. Bei­de Bücher wur­den zu einem durch­schla­gen­den Erfolg, was nicht nur dar­an lag, dass jedes Kind die meh­re­ren hun­dert Sei­ten lesen muss­te, son­dern auch an dem Plot selbst, der Schüler:innen wie Lehrer:innen glei­cher­ma­ßen zahl­rei­che Iden­ti­täts­an­ge­bo­te lie­fer­te – und damit die so drin­gend benö­tig­te gemein­sa­me Geschichte.

In vie­ler­lei Hin­sicht ist Nils Hol­gers­son damit die idea­le Aus­for­mung des­sen, was Ellen Key in ihrem Arti­kel for­dert. Zwar ist die Haupt­fi­gur schon vier­zehn Jah­re alt (und damit deut­lich älter als die ursprüng­lich anvi­sier­te neun­jäh­ri­ge Ziel­grup­pe des Romans), aller­dings nimmt sie auf vie­le dama­li­ge gesell­schaft­li­che Debat­ten und Ent­wick­lun­gen Bezug und das Publi­kum lernt, wie Schwe­den zu dem Land wur­de, das es damals war.

So erfährt man eini­ges über Men­schen, die in den Berg­wer­ken von den Direk­to­ren gro­ßer Fir­men aus­ge­beu­tet wer­den, und über die Tuber­ku­lo­se, die zu Lager­löfs Zeit vie­le das Leben kos­te­te. Ande­re wan­der­ten in die Ver­ei­nig­ten Staa­ten aus, weil es ihnen in Schwe­den an Per­spek­ti­ven man­gel­te. Lager­löf woll­te nicht nur die Her­aus­for­de­run­gen, son­dern auch die Vor­zü­ge ihres Lan­des schil­dern, damit die Leu­te es eben nicht ver­lie­ßen. Doch das allei­ne wäre für Kin­der ver­mut­lich zu lang­wei­lig, wes­we­gen Nils Hol­gers­son mit der über­aus ori­gi­nel­len Ent­wick­lungs­ge­schich­te sei­ner Haupt­fi­gur noch eine zwei­te, mär­chen­haf­te Ebe­ne besitzt.

Ein­mal in einen Däum­ling ver­wan­delt, kann der Jun­ge ver­ste­hen, was die Tie­re zuein­an­der sagen, und erkennt, wie ihr eige­ner Bezug zur Welt von den Men­schen beein­flusst wird – und das, wäh­rend sich die Men­schen alles Getier unter­tan machen wol­len, das über die Erde kriecht. Eine Fabrik nach der ande­ren schießt aus dem Boden, gan­ze Öko­sys­te­me gera­ten ins Wan­ken. Hier nimmt der Roman heu­ti­ge Erkennt­nis­se über die Ver­hee­run­gen der Umwelt durch den Kapi­ta­lis­mus vor­weg – und lässt sich als frü­hes Bei­spiel einer Öko­fik­ti­on lesen, die nicht zuletzt seit Maja Lun­des Kli­ma­quar­tett äußerst pro­mi­nent in der skan­di­na­vi­schen Lite­ra­tur ver­tre­ten ist. Auch die mär­chen­haf­te Welt, durch die sich Nils bewegt, kommt also nicht ohne Bezug zur Wirk­lich­keit aus. Sie formt sei­nen Blick und führt ihm die Kon­se­quen­zen sei­nes Tuns vor Augen. War er vor sei­ner Ver­wand­lung noch ein fre­cher Laus­bub, der Tie­re quäl­te, so behan­delt er sie jetzt, nach sei­nem Rund­flug mit den Wild­gän­sen, mit dem gebüh­ren­den Respekt.

Es ist nicht ver­wun­der­lich, dass eine Geschich­te wie die Nils Hol­gers­sons auch in ande­ren Län­dern Auf­merk­sam­keit erreg­te. Sie wur­de jedoch, wie Isa­bel­le Des­midt 2003 in einem Arti­kel beschreibt, von Anfang an den tat­säch­li­chen oder angeb­li­chen Bedürf­nis­sen des anvi­sier­ten Publi­kums ange­passt. Das ist vor allem bei Klas­si­kern ger­ne der Fall, bei Kin­der­buch­klas­si­kern aller­dings beson­ders oft und bei Nils Hol­gers­son, der zumin­dest in Deutsch­land fast nie direkt aus dem Schwe­di­schen kommt, erst recht. Die jewei­li­ge Über­set­zung, schreibt Des­midt, hat drei Auf­ga­ben: Sie muss den Anfor­de­run­gen des Ori­gi­nal­tex­tes, des:der Auftraggeber:in und der Ziel­grup­pe gerecht wer­den. Im Hin­blick auf die deut­schen Fas­sun­gen, von denen es bis zur Jahr­tau­send­wen­de laut Des­midt 52 ver­schie­de­ne gab – davon nur fünf ohne Umwe­ge aus dem Schwe­di­schen über­setz­te und seit­dem noch etwa 20 wei­te­re, von denen nur eine ein­zi­ge eine direk­te Über­set­zung ist –, muss man aller­dings fra­gen, inwie­weit die ers­te Auf­ga­be tat­säch­lich erfüllt wor­den ist, denn der Text lag über­haupt erst 2014 zum ers­ten Mal voll­stän­dig auf Deutsch vor.

Spricht man über ein Buch, das so bekannt ist wie Nils Hol­gers­son, muss man daher fol­gen­de Fra­gen berück­sich­ti­gen: An wen rich­tet sich der Text? Ist er eine Bear­bei­tung für Kin­der unter­schied­li­cher Alters­klas­sen – oder wen­det er sich an Erwach­se­ne, die über­prü­fen wol­len, ob das Lieb­lings­buch ihrer Kind­heit bei einer erneu­ten Lek­tü­re plötz­lich ganz neu oder gar frag­wür­dig erscheint? Die hier aus­ge­wähl­ten Über­set­zun­gen leis­ten bei­des: Tho­mas Stein­feld hat den bis­lang ein­zi­gen voll­stän­di­gen, direkt aus dem Schwe­di­schen über­tra­ge­nen deut­schen Text vor­ge­legt. Gise­la Per­lets Text ist die wohl weit­ver­brei­tets­te Fas­sung. Ange­li­ka Kutsch hat den Roman, wenn auch stark gekürzt, für Kin­der über­setzt; Usch Luhn, Sus­an Nies­sen und Fried­rich Hechelm­ann haben – wenn auch nicht immer gekenn­zeich­net ist, mit wel­cher Vor­la­ge – jeweils eige­ne Nach­er­zäh­lun­gen für Kin­der von vier bis zehn Jah­ren ent­wor­fen, die jeweils unter­schied­li­che Pro­ble­me aufwerfen. 

Schon aus Pau­li­ne Klai­ber-Gott­schaus Über­set­zung, die bereits 1907 und 1908 in ins­ge­samt drei Bän­den auf den Markt kam, waren ver­schie­de­ne Pas­sa­gen gestri­chen wor­den, etwa sol­che, in denen sich Nils vor der Dun­kel­heit fürch­tet. Mat­hil­de Manns Ver­si­on war eine Direkt­über­set­zung der däni­schen. Und auch Gise­la Per­lets Text beruht auf einer um meh­re­re Kapi­tel gekürz­ten Fas­sung aus den Fünf­zi­gern. Erst Tho­mas Stein­feld über­setz­te den Text von Anfang bis Ende, wobei auch hier gewis­se Ein­schrän­kun­gen zu tref­fen sind, denn die bei­den didak­ti­schen Gedich­te am Anfang hat er weg­ge­las­sen. Und das sind nur die Ver­sio­nen, die sich an „Erwach­se­ne“ rich­ten (auch wenn Nils Hol­gers­son als Kin­der­buch gedacht ist).

Bei den Bear­bei­tun­gen für das jün­ge­re und jüngs­te Publi­kum sieht es noch dras­ti­scher aus. Denn nimmt man Ange­li­ka Kutschs Fas­sung ein­mal aus, sind die Bei­spie­le der vor­lie­gen­den Stich­pro­be nicht direkt aus dem Schwe­di­schen oder einer Relais­spra­che über­setzt, son­dern, wie etwa bei Usch Luhn, Sus­an Nies­sen und Fried­rich Hechelm­ann, Nach­er­zäh­lun­gen einer gemein­frei­en Über­set­zung, wobei nicht immer klar­ge­macht wird, wel­cher. Von Text­treue kann, wie auch Isa­bel­le Des­midt in ihrem Arti­kel the­ma­ti­siert, in der über­wie­gen­den Mehr­zahl der Fäl­le also kei­ne Rede sein. 

Über­set­zun­gen von Kin­der­buch­klas­si­kern wer­den näm­lich oft an die Kul­tur der jewei­li­gen Ziel­spra­che ange­gli­chen, wäh­rend bei Über­set­zun­gen von Erwach­se­nen­li­te­ra­tur eher die kul­tu­rel­len Nor­men des Aus­gangs­tex­tes eine Rol­le spie­len und das Ein­tau­chen in eine unver­trau­te Kul­tur sogar als gro­ßes Plus gese­hen wird. Phi­lo­lo­gi­sche Exakt­heit ist bei über­setz­ter Kin­der­li­te­ra­tur sel­ten die Haupt­norm. Im Fal­le von Nils Hol­gers­son wird der erzie­he­ri­sche Aspekt oft stär­ker gewich­tet als der lite­ra­ri­sche, daher wird das Buch etwa durch Nach­er­zäh­lun­gen und rigo­ro­se Kür­zun­gen an das Alter der jewei­li­gen Ziel­grup­pe ange­passt. Öko­no­mi­sche Kri­te­ri­en spie­len eben­falls eine Rol­le, etwa, wenn ein Buch ver­filmt wird und eine dazu pas­sen­de Fas­sung erschei­nen soll.

Bei einem Blick in die Ver­sio­nen von Tho­mas Stein­feld, Gise­la Per­let, Ange­li­ka Kutsch, Sus­an Nies­sen, Usch Luhn und Fried­rich Hechelm­ann, die alle­samt zwi­schen 1991 und 2016 erschie­nen sind, fällt schon beim blo­ßen Drauf­schau­en auf, dass es sich nicht bei jeder davon um die exak­te Wie­der­ga­be des schwe­di­schen Tex­tes han­delt, denn sie umfas­sen, wie bei Luhn und Nies­sen, etwas über 100 Sei­ten, oder, im Fal­le Stein­felds, über 700, was in etwa dem Umfang des Ori­gi­nals ent­spricht. Auch hei­ßen die Bücher je nach Bear­bei­tung anders: Lager­löfs Nils Hol­gers­sons under­ba­ra resa genom Sveri­ge wird bei Stein­feld, Per­let und Kutsch noch direkt zu Nils Hol­gers­sons wun­der­ba­re Rei­se durch Schwe­den, aber Hechelm­ann gibt den Titel mit Die wun­der­ba­re Rei­se des Nils Hol­gers­son mit den Wild­gän­sen wie­der und Usch Luhn wie auch Sus­an Nies­sen schlicht mit Nils Hol­gers­son.

Stein­feld, Per­let und Kutsch über­tra­gen den schwe­di­schen Text, der aber zumin­dest in Per­lets und Kutschs Fall arg gekürzt ist, Hechelm­ann nimmt Pau­li­ne Klai­ber-Gott­schaus Die wun­der­ba­re Rei­se des klei­nen Nils Hol­gers­sons mit den Wild­gän­sen (1907–1908) als Vor­la­ge, wäh­rend bei Luhn und Nies­sen gar nicht ange­ge­ben ist, wo die Blau­pau­se für ihre Aus­ga­be her­kommt. Noch dazu unter­schei­den sich die Tex­te in ihrer Wir­kung und ihrer Absicht erheb­lich von­ein­an­der. Die Geschich­te muss heu­te, mehr als ein­hun­dert Jah­re nach ihrem erst­ma­li­gen Erschei­nen, eine ande­re Funk­ti­on erfül­len als im Schwe­den von 1907, das eine neue, gemein­sa­me Erzäh­lung über Kind­heit und Lan­des­kul­tur suchte.

Das hat wie­der­um Aus­wir­kun­gen auf die Gestal­tung der jewei­li­gen Fas­sung, die sich mal schwä­cher, mal stär­ker auf folk­lo­ris­ti­sche und mytho­lo­gi­sche Ele­men­te bezieht, einen am Dis­kurs geschul­ten oder teil­wei­se auch über­haupt kei­nen Umgang mit der aus heu­ti­ger Sicht ras­sis­ti­schen Spra­che des Ori­gi­nals wählt. Oft wer­den die dama­li­gen his­to­ri­schen Ent­wick­lun­gen, etwa die Tuber­ku­lo­se-Epi­de­mie und die Indus­tria­li­sie­rung, aber auch impli­zi­te Erwä­gun­gen zum Pro­tes­tan­tis­mus, der für die Kul­tur der skan­di­na­vi­schen Län­der so wich­tig ist, außer Acht gelas­sen oder an die tat­säch­li­chen oder ver­meint­li­chen Bedürf­nis­se der jewei­li­gen Ziel­grup­pe angeglichen.

So beginnt Nils Hol­gers­son:

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POJKEN

TOMTEN.
Sön­dag 20 mars.

Det var en gång en pojke. Han var så där en fjor­ton år gam­mal, lång och rang­lig och lin­hå­rig. Inte stort dug­de han till: han hade mest av allt lust att sova och äta, och därn­äst tyck­te han om att ställa till odygd.
Nu var det en sön­dags­mor­gon, och pojkens föräl­drar höl­lo på att göra sig i ord­ning för att gå i kyr­kan. Pojken själv satt i skjort­är­mar­na på bord­s­kan­ten och tänk­te på hur lyck­ligt det var, att både far och mor gin­go sin väg, så att han skul­le få rå sig själv under ett par tim­mar. »Nu kan jag då ta ner fars bös­sa och skju­ta av ett skott, utan att någon behö­ver läg­ga sig i det,» sade han för sig själv.
Men det var nästan, som om far skul­le ha gis­sat sig till pojkens tank­ar, för just som han stod på trös­keln och var fär­dig att gå, stan­na­de han och vän­de sig mot honom. »Efter­som du inte vill gå i kyr­kan med mor och mig,» sade han, »så tycker jag, att du åtminstone kan läsa predi­kan hem­ma. Vill du lova, att du gör det?»

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DER JUNGE

Das Wichtelmännchen
Sonn­tag, 20. März

Es war ein­mal ein Jun­ge. Er war etwa vier­zehn Jah­re alt, groß und schlak­sig und hat­te flachs­blon­des Haar. Er taug­te nicht viel: Als Ers­tes woll­te er am liebs­ten schla­fen und essen und als Zwei­tes mach­te er am liebs­ten Unfug.
Nun war es an einem Sonn­tag­mor­gen, und die Eltern des Jun­gen waren dabei, sich für den Kirch­gang bereit­zu­ma­chen. Der Jun­ge saß in Hemds­är­meln auf dem Tischrand und dach­te, was für ein Glück es war, dass Vater und Mut­ter fort­gin­gen. Dann wür­de er ein paar Stun­den allei­ne sein. Jetzt kann ich Vaters Flin­te von der Wand neh­men und ein­mal damit schie­ßen, ohne dass sich jemand ein­mischt, sag­te er zu sich.
Aber es war fast so, als ob der Vater die Gedan­ken des Jun­gen erra­ten hät­te, denn als er schon auf der Schwel­le stand, bereit zum Gehen, dreh­te er sich noch ein­mal zu dem Jun­gen um. „Da du nicht mit mir und Mut­ter in die Kir­che kom­men willst“, sag­te er, „soll­test du die Pre­digt wenigs­tens zu Hau­se lesen, fin­de ich. Willst du mir ver­spre­chen das zu tun?“

(Kutsch 1991/1998)

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Der Jun­ge

Der Kobold
Sonn­tag, den 20. März

Es war ein­mal ein Jun­ge. Er war etwa vier­zehn Jah­re alt, lang, dünn und flachs­haa­rig und ein rech­ter Tau­ge­nichts. Am liebs­ten schlief und aß er, und dann mach­te er gern dum­me Streiche.
Eines Sonn­tag­mor­gens woll­ten sei­ne Eltern den Got­tes­dienst besu­chen und mach­ten sich dazu bereit. Der Jun­ge saß der­weil in Hemds­är­meln auf der Tisch­kan­te und freu­te sich, dass sie nun bald das Haus ver­lie­ßen. »Da kann ich mir Vaters Flin­te her­un­ter­ho­len und einen Schuss abfeu­ern, ohne dass mich jemand stört«, dach­te er.
Doch es schien fast, als hät­te der Vater die Gedan­ken sei­nes Sohns erra­ten, denn gera­de als er davon­ge­hen woll­te, dreh­te er sich noch ein­mal um. »Wenn du schon nicht mit uns in die Kir­che willst, könn­test du wenigs­tens die Pre­digt zu Hau­se lesen, fin­de ich. Ver­sprichst du mir das?«

(Per­let 2011)

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Ein ech­ter Wich­tel taucht auf

Es war ein­mal ein Jun­ge, Nils Hol­gers­son mit Namen. Er wohn­te auf einem ärm­li­chen Bau­ern­hof, tief im Süden von Schweden.
Sein Haar war so flachs­blond wie die schwe­di­sche Son­ne, und er war ger­ten­schlank wie die Bir­ken im Garten.
Von Schu­le und vom Ler­nen hielt er nicht beson­ders viel. Meis­tens schlief oder aß er. Und wenn er im Frei­en war, hüpf­te er über­all her­um und stell­te etwas an. Das mach­te er näm­lich am allerliebsten.
Sei­ne Eltern waren dar­über sehr trau­rig, denn jeden Tag fiel Nils ein neu­er schlim­mer Streich ein. Weder Tier noch Mensch waren davor sicher. Aber die Ermah­nun­gen sei­ner Eltern hal­fen nichts. Nils mach­te ein­fach, was er wollte.
Es war Sonn­tag, ein herr­li­cher Früh­lings­tag. Die Fens­ter­flü­gel stan­den weit offen, und man konn­te das Tril­lern einer fröh­li­chen Ler­che hören.
Über­all spros­sen zar­te grü­ne Knos­pen aus der Erde, und der Huf­lat­tich blüh­te bereits am Straßenrand.
Nils saß am Tisch und beob­ach­te­te, wie sei­ne Eltern sich für die Kir­che fer­tig mach­ten. Er freu­te sich schon den gan­zen Mor­gen dar­auf, bald allein im Haus zu sein. Dann konn­te er alles in Ruhe erkunden.
Sein Vater besaß eine Flin­te. Die­se gefähr­li­che Waf­fe in die Hand zu neh­men, hat­te der Vater sei­nem Sohn streng ver­bo­ten. Aber dar­um küm­mer­te sich Nils nicht. Schon lan­ge brann­te er dar­auf, die Flin­te end­lich ein­mal anzufassen.
Als ob sein Vater Gedan­ken lesen könn­te, sah er Nils besorgt an und sag­te: »Sei schön brav, Nils. Wir sind bald wie­der da.«

(Luhn 2013)

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Der Jun­ge

Es war ein­mal ein Jun­ge. Er war unge­fähr vier­zehn Jah­re alt, blond und groß gewach­sen. Beson­ders tüch­tig war er nicht, am liebs­ten schlief oder aß er, und sein größ­tes Ver­gnü­gen war, irgend­et­was anzustellen.
Es war an einem Sonn­tag­mor­gen, und die Eltern mach­ten sich fer­tig, um in die Kir­che zu gehen. Der Jun­ge saß auf dem Tischrand und freu­te sich dar­über, dass Vater und Mut­ter fort­gin­gen und er ein paar Stun­den lang tun konn­te, was er woll­te. „Jetzt kann ich Vaters Flin­te her­un­ter­neh­men und schie­ßen, ohne dass jemand es mir ver­bie­tet“, sag­te er sich.
Aber es war fast, als habe der Vater die Gedan­ken sei­nes Soh­nes erra­ten, denn als er schon auf der Schwel­le stand, um hin­aus­zu­ge­hen, hielt er inne und wand­te sich zu ihm. „Da du nicht mit dei­ner Mut­ter und mir in die Kir­che gehen willst“, sag­te er, „soll­test du wenigs­tens zu Hau­se die Pre­digt des Tages lesen. Ver­sprichst du mir das?“

(Hechelm­ann 2013)

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Der Wich­tel
Sonn­tag, der 20. März

Es war ein­mal ein Jun­ge. Er war viel­leicht vier­zehn Jah­re alt, lang und schlak­sig und flachs­haa­rig. Viel taug­te er nicht: Am liebs­ten schlief oder aß er, und am zweit­liebs­ten trieb er Unfug.
Jetzt war es Sonn­tag­mor­gen, und die Eltern des Jun­gen waren dabei, sich zurecht­zu­ma­chen, um zur Kir­che zu gehen. Der Jun­ge aber saß im Hemd auf der Tisch­kan­te und dach­te, wie gut es sei, daß Vater und Mut­ter bei­de fort­gin­gen. So kön­ne er ein paar Stun­den machen, was er woll­te. »Dann kann ich Vaters Gewehr her­un­ter­ho­len und ein biß­chen schie­ßen, und es redet mir kei­ner hin­ein«, sag­te er zu sich selbst.
Doch bei­na­he war es, als ob Vater die Gedan­ken des Jun­gen erra­ten hät­te. Denn gera­de als er auf der Schwel­le stand, zum Gehen bereit, hielt er inne und wand­te sich ihm zu. »Da du nicht mit Mut­ter und mir in die Kir­che gehen willst«, sag­te er, »fin­de ich, daß du zu Hau­se wenigs­tens die Pre­digt lesen kannst. Ver­sprichst du, daß du das tust?« »Ja«, sag­te der Jun­ge, »das kann ich wohl tun.« Aber er hat­te natür­lich nicht vor, mehr zu lesen, als wozu er Lust hatte.

(Stein­feld 2014)

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Der Wich­tel

Es war ein­mal ein Jun­ge. Er war viel­leicht 14 Jah­re alt, lang und schlak­sig und hat­te blon­des Haar. Er war ein Tau­ge­nichts. Am liebs­ten schlief oder aß er, aber noch lie­ber mach­te er Blödsinn.
Eines Sonn­tag­mor­gens woll­ten sei­ne Eltern in die Kir­che gehen. Der Jun­ge freu­te sich, dass er ein paar Stun­den für sich allein hat­te, doch sein Vater dreh­te sich in der Tür noch mal um und sag­te: „Wenn du schon nicht mit­gehst, könn­test du wenigs­tens die Pre­digt lesen.“
„Ja, das kann ich machen“, ant­wor­te­te der Jun­ge. Er hat­te aller­dings nicht die gerings­te Absicht, das zu tun. Sein Vater schien sei­ne Gedan­ken gele­sen zu haben, denn er füg­te hin­zu: „Wenn ich nach Hau­se kom­me, wer­de ich dich zu jeder Sei­te abfra­gen. Also pass auf, dass du ordent­lich liest!“

(Nies­sen 2016)

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In die­ser ein­lei­ten­den Pas­sa­ge macht uns Sel­ma Lager­löf zum ers­ten Mal mit dem Set­ting und der Haupt­fi­gur ihres Romans ver­traut.  Schon bei einem Blick auf die Über­schrif­ten fällt auf, wie unter­schied­lich die jewei­li­gen deut­schen Fas­sun­gen arbei­ten. Haben Per­let, Stein­feld und Kutsch, die ja alle­samt direkt aus dem Schwe­di­schen über­set­zen, Lager­löfs Ori­gi­nal­über­schrif­ten über­nom­men („Pojken“/„Der Jun­ge“ ist der Name des ers­ten Teils), so bewahrt Hechelm­ann nur noch die­sen einen vor­an­ge­stell­ten Titel („Der Jun­ge“), wäh­rend Nies­sen ihn weg­ge­las­sen hat und nur noch den Namen des ers­ten Kapi­tels bei­be­hält („Der Wich­tel“) und Luhn sogar eine neue Über­schrift erfin­det („Ein ech­ter Wich­tel taucht auf“).

Das allei­ne mag im Rah­men einer Nach­er­zäh­lung noch völ­lig uner­heb­lich sein, aber Hechelm­ann, Luhn und Nies­sen ver­zich­ten auch auf die Datums­an­ga­be („Sonn­tag, 20. März“), viel­leicht auch des­halb, weil sie oft meh­re­re Kapi­tel zu einem zusam­men­fas­sen. Bei ihren Ver­sio­nen weiß man über die Zeit der Hand­lung also nicht Bescheid, dabei ist das vor allem für die Illustrator:innen der Bücher kein ganz unwe­sent­li­ches Detail: So ist Nils in Fried­rich Hechelm­anns Fas­sung auf einem Bild im ers­ten Kapi­tel zu sehen, wie er den Gän­sen über eine Blu­men­wie­se hin­ter­her­läuft, dabei steht weni­ge Sei­ten spä­ter, dass der Fuchs Smir­re über eine Eis­de­cke bis zu den Gän­sen gelangt, die auf einem See näch­ti­gen. Illus­tra­ti­on und Text wider­spre­chen also ein­an­der, was die Beschrei­bung der Jah­res­zeit angeht.

Die teils sehr unter­schied­li­chen Über­set­zun­gen des Wört­chens „Tom­ten“ ste­chen eben­falls ins Auge: „Kobold“ (Per­let), „Wich­tel“ (Stein­feld, Luhn, Nies­sen) und „Wich­tel­männ­chen“ (Kutsch). Im Schwe­di­schen ist der „tom­te“ eine Art Haus­geist (und dane­ben auch das Wort für „Grund­stück“, wie es auch heu­te noch in Immo­bi­li­en­an­zei­gen ver­wen­det wird). Oft ist er mit einem wei­ßen Bart, grau­en Klei­dern und einer Zip­fel­müt­ze anzu­tref­fen. Zwar beschützt er mit sei­nen über­na­tür­li­chen Kräf­ten das Haus, aber man soll­te sich nicht mit ihm anle­gen oder – wie Nils Hol­gers­son – Tie­re quä­len, sonst bekommt man sei­nen Zorn zu spüren.

Zwar wird der „Wich­tel“ nach den Gebrü­dern Grimm als Syn­onym für Kobold und Zwerg gebraucht, aller­dings ist Per­lets „Kobold“ tref­fen­der, da es hier um einen Haus­hü­ter geht, der durch­aus streng mit den Bewohner:innen umgeht. Rein ety­mo­lo­gisch han­delt es sich um ein Kom­po­si­tum, des­sen ers­ter Teil aus „Kobe“ (Hüt­te, Ver­schlag) gebil­det ist, der zwei­te Teil hin­ge­gen aus „hold“ (wie bei Unhold) oder aus „wal­ten“. Ganz wie sei­ne schwe­di­sche Über­set­zung ver­knüpft das deut­sche Wort das Wesen also mit dem Ort, an dem es nor­ma­ler­wei­se anzu­tref­fen ist. Der „Wich­tel“ hin­ge­gen stammt vom alt­nor­di­schen „vættr“ ab, einer Sam­mel­be­zeich­nung für Nis­sen, Alfen und Trol­le, und ist daher eine etwas unge­naue­re Über­set­zung für „tomt“ als „Kobold“, zumal Nils mit sei­nen Eltern eben in einer Hüt­te wohnt.

Auch den ers­ten Absatz fas­sen die Übersetzer:innen jeweils anders auf. Wäh­rend Per­let Lager­löfs kla­res „Inte stort dug­de han till“ alter­tü­melnd mit „Er war ein rech­ter Tau­ge­nichts“ wie­der­gibt, blei­ben Stein­feld und Kutsch näher an der Syn­tax und über­set­zen mit „Viel taug­te er nicht“ bzw. mit „Er taug­te nicht viel“. Das gilt auch für die Kon­struk­ti­on „mest av allt … därn­äst“ im dar­auf­fol­gen­den Satz, die bei Stein­feld zu „Am liebs­ten“ und „am zweit­liebs­ten“ wird, bei Kutsch zu „Als Ers­tes“ und „als Zwei­tes“ und bei Per­let zu „Am liebs­ten … und dann“. Dass Nils sei­ne „Hob­bys“ in so eine Rang­fol­ge bringt, hat eine gewis­se Komik, ver­steht er Ord­nung doch ganz anders als sei­ne Eltern, näm­lich als Chaos.

Die Nach­er­zäh­lun­gen aller­dings geben natur­ge­mäß nicht viel auf phi­lo­lo­gi­sche Kor­rekt­heit und erfin­den manch­mal sogar noch Ein­zel­hei­ten dazu. „Sein Haar war so flachs­blond wie die schwe­di­sche Son­ne, und er war ger­ten­schlank wie die Bir­ken im Gar­ten“, schreibt Usch Luhn. Davon steht im schwe­di­schen Text nichts, auch ist das Bild etwas schief gera­ten. Scheint die Son­ne in Schwe­den denn anders als sonst wo auf der Welt? Als Flachs­pflan­ze etwa? Aber auch wenn das Adjek­tiv und das Sub­stan­tiv nicht zusam­men­pas­sen, hat das Bild durch­aus eine Berech­ti­gung. Ver­mut­lich soll Nils Hol­gers­son genau­so aus­se­hen wie Jan Ohls­son als Michel aus Lön­ne­ber­ga – und Kin­der sol­len damit einen Anknüp­fungs­punkt an ein Schwe­den­bild erhal­ten, das sie even­tu­ell bereits ken­nen. Ste­reo­ty­pe Vor­stel­lun­gen über die schwe­di­sche Mit­ter­nachts­son­ne spie­len hier eben­falls mit herein.

Es ist aber auch gut mög­lich, dass die Wen­dung „so flachs­blond wie die schwe­di­sche Son­ne“ einem kli­schee­haf­ten Schwe­den­bild sei­tens der Autorin oder des Ver­lags ent­spricht, da die Ziel­grup­pe des Buches – Vier- bis Sechs­jäh­ri­ge – in der Regel noch nicht so vie­le Fern­seh­sen­dun­gen gese­hen hat, daher auch noch nicht so ver­traut mit Michels Strei­chen ist und viel­leicht auch noch nicht so viel über die Mit­ter­nachts­son­ne weiß.

Zwar ist bei Lager­löf nichts von der Son­ne zu lesen, „flachs­blond“ ist aller­dings eine tref­fen­de Über­set­zung von „lin­hå­rig“ (Klai­ber-Gott­schau schrieb Anfang des 20. Jahr­hun­derts noch „flachs­haa­rig“, was sehr wört­lich ist). Anders for­mu­liert: Die Autorin – oder der Ver­lag – schei­nen davon aus­zu­ge­hen, dass Deut­sche an Schwe­den den­ken, wenn sie das Wort „flachs­blond“ hören, grei­fen also auf ein eta­blier­tes Kon­zept zurück. Und wäh­rend Per­let, Stein­feld, Kutsch und Luhn Lager­löfs „lin­hå­rig“ wei­test­ge­hend über­neh­men, ver­zich­ten Nies­sen und Hechelm­ann auf den Flachs und schrei­ben ledig­lich, Nils habe blon­des Haar. Ihre Nach­er­zäh­lun­gen rufen das Schwe­den­bild also kei­nes­wegs so pro­mi­nent auf wie die ande­ren Fas­sun­gen, son­dern set­zen eher auf eine schnel­le Beschrei­bung der Haupt­fi­gur, die aber nicht so anschau­lich ist wie „flachs­blond“.

Die meis­ten Fas­sun­gen las­sen erah­nen, was für ein Frech­dachs Nils ist, nur Luhn stellt ihn bra­ver dar als die Vor­la­ge. Das zeigt sich auch in den Illus­tra­tio­nen von Joël­le Tour­lo­n­i­as: Der Jun­ge wird durch­gän­gig als Wich­tel­männ­chen mit Stups­na­se dar­ge­stellt, das kei­ner Flie­ge etwas zulei­de tun kann. Dabei ist das genaue Gegen­teil der Fall. „Glaubst du, wir wüß­ten nicht, daß du Nils bist, der Gän­se­jun­ge, der im ver­gan­ge­nen Jahr Schwal­ben­nes­ter her­un­ter­riß, Sta­ren­ei­er zer­schlug, Krä­hen­jun­ge in die Mer­gel­gru­be warf, Amseln mit der Schlin­ge fing und Eich­hörn­chen in Käfi­ge sperr­te?“, bekommt er an einer Stel­le vom Eich­hörn­chen Sir­le zu hören (hier in Stein­felds Über­set­zung). Dass Luhn Nils‘ Böse-Jun­gen-Strei­che deut­lich abschwächt, ist aber nach­voll­zieh­bar, wenn man bedenkt, dass ihre Fas­sung an noch recht klei­ne Kin­der adres­siert ist. Sie gewich­tet den erzie­he­ri­schen Aspekt also deut­lich stär­ker als den phi­lo­lo­gi­schen: Gewalt­dar­stel­lun­gen, egal wel­cher Art, sind für bestimm­te Alters­klas­sen eben ungeeignet. 

Bei einem Ver­gleich zwi­schen Luhns Nach­er­zäh­lung und dem schwe­di­schen Text zeigt sich jedoch auch, dass heu­te ande­re Ansich­ten über Erzie­hung herr­schen als zu Leb­zei­ten der Autorin. Hier wird die Bear­bei­tung an die Ziel­kul­tur ange­gli­chen, befremd­li­che – oder auch zu vor­aus­set­zungs­rei­che – Eigen­hei­ten des Aus­gangs­tex­tes wer­den weg­ge­las­sen, zumal sich ihre Fas­sung an die Jüngs­ten rich­tet. For­dern die Eltern Nils bei Lager­löf – und ent­spre­chend auch in den Bear­bei­tun­gen von Per­let, Stein­feld, Kutsch, Hechelm­ann und Nies­sen – noch auf, er möge die Pre­digt doch bit­te daheim lesen, und holt die Mut­ter ihm vor­sorg­lich Luthers Haus­pos­til­le aus dem Regal, steht bei Luhn davon nichts mehr. „Sei schön brav, Nils. Wir sind bald wie­der da“, sagt in ihrer Fas­sung sein Vater zu ihm. 

Das ist eine nebu­lö­se Mah­nung, die bei so einem Rabau­ken wie Nils sicher­lich nicht ankom­men wird. Da die Zeit­an­ga­be auf Sonn­tag, den 20. März lau­tet, lässt sich sogar her­aus­fin­den, wel­che Pre­digt das im evan­ge­li­schen Kir­chen­jahr genau ist. Der ein­zi­ge Sonn­tag, der im zeit­li­chen Ablauf der Hand­lung und der Ent­ste­hung des Romans hier­für in Fra­ge kommt, ist der 20. März 1904, „Judi­ca“ genannt. Für die­sen Tag weist der schwe­di­sche Alma­nach Joh. 8, 46–59 („Der Streit um Jesu Ehre“) als zu lesen­de Bibel­stel­le aus. „Det­ta Evan­ge­li­um lärer, huru de forsto­cka­de war­da des­to galnare, ju mera man lärer och wän­li­gen lockar dem“, steht in der schwe­di­schen Fas­sung der Haus­pos­til­le, die – genau wie ihre deut­sche Vor­la­ge – ein schla­gen­des Bei­spiel für Luthers Anti­se­mi­tis­mus ist. Das schwe­di­sche Zitat soll hei­ßen: Die­ses Evan­ge­li­um lehrt, dass die Ver­stock­ten je ver­bohr­ter wer­den, des­to mehr man ihnen mit einer freund­lich dar­ge­brach­ten Leh­re bei­zu­kom­men versucht.

Das trifft durch­aus auch auf Nils zu, der nicht auf sei­ne Eltern hört und auf ihre freund­li­che Auf­for­de­rung hin, die Pre­digt zu lesen, den Plan fasst, mit der Flin­te sei­nes Vaters zu schie­ßen. In der deut­schen Haus­pos­til­le fin­det sich auch noch fol­gen­der Satz: „Daß jetzt zur Zeit die Kin­der gemei­nig­lich so unge­hor­sam und muthwil­lig sind wider ihre Eltern, kommt auch daher, daß sie Got­tes Wort nicht hören“. Es ist kein Wun­der, dass Nils nichts mit die­ser Pre­digt anfan­gen kann, ist sie doch (zumin­dest in ihrer schwe­di­schen Bear­bei­tung) so abge­ho­ben theo­lo­gisch, dass er sich bestimmt schnell lang­wei­len wird. Was Lager­löf mit die­ser sub­ti­len Refe­renz auf das reli­giö­se Leben ihrer Zeit andeu­tet, soll­te aller­dings klar sein: Nils führt kein got­tes­fürch­ti­ges Leben, er hat noch viel zu ler­nen (auch wenn der Stoff alles ande­re als kind­ge­recht ist).

Das ist aus der Per­spek­ti­ve der Gegen­wart, in der der Glau­be nicht mehr so wich­tig ist, ein durch­aus anti­quier­ter Erzie­hungs­rat, und so soll­te es auch nie­man­den all­zu sehr erstau­nen, dass die Säku­la­ri­sie­rung auch in einer heu­ti­gen Bear­bei­tung des Nils Hol­gers­son-Stof­fes eine Rol­le spielt. Aber längst nicht alle Ver­sio­nen las­sen die­se Infor­ma­ti­on weg. Es stellt sich näm­lich die Fra­ge, was damit gewon­nen wäre, ist doch gera­de der Pro­tes­tan­tis­mus von größ­ter Wich­tig­keit für den his­to­ri­schen Fort­schritt, den Lager­löf schil­dert: Der Mensch macht sich das Land, das er bewohnt, unter­tan, er errich­tet Fabri­ken und Eisen­bah­nen. Doch ob eine Infor­ma­ti­on wie die­se letzt­lich drin­steht, ist immer auch eine Fra­ge der Ziel­grup­pe. Die einen Kin­der wol­len eine span­nen­de Geschich­te hören, die ande­ren sind viel­leicht schon neu­gie­rig auf grö­ße­re Zusam­men­hän­ge und fra­gen sich, was Schwe­den für ein Land ist.

Anglei­chun­gen wie die­se sol­len einen Klas­si­ker, der vor über 100 Jah­ren erschie­nen ist, für ein heu­ti­ges Publi­kum aktua­li­sie­ren. Sie las­sen Rück­schlüs­se auf gesell­schaft­li­che Ent­wick­lun­gen zu, etwa dann, wenn sich die her­aus­ge­ben­den Ver­la­ge ent­schei­den, reli­giö­se Refe­ren­zen abzu­mil­dern oder ganz weg­zu­las­sen. Manch­mal blei­ben die Bear­bei­tun­gen – und das betrifft vor allem die Direkt­über­set­zun­gen – jedoch hin­ter dem neus­ten Stand der Debat­te zurück. Das gilt ins­be­son­de­re für die Pas­sa­gen, in denen Lager­löf eine aus heu­ti­ger Sicht ras­sis­ti­sche Spra­che ver­wen­det. Sicher­lich lie­ße sich öffent­lich dis­ku­tie­ren, wie mit sol­chen Stel­len umzu­ge­hen ist – wie das bei den teils erbit­ter­ten Aus­ein­an­der­set­zun­gen um Pip­pi Lang­strumpfs Süd­see­kö­nig bereits mehr oder weni­ger erfolg­reich gesche­hen ist.

Nils Hol­gers­son ist ein Roman mit vie­len Neben­hand­lun­gen und Bin­nen­er­zäh­lun­gen. Eine davon, die Geschich­te der bei­den Kin­der Åsa und Mats, ist, zumin­dest in der vor­lie­gen­den Stich­pro­be, nur in den Direkt­über­set­zun­gen zu fin­den. Eines Abends klopft eine kran­ke Wan­de­rin bei der Fami­lie der bei­den an die Tür. Sie neh­men die Frau auf, die sich vor eini­gen Jah­ren dem rei­sen­den Volk ange­schlos­sen hat, nach­dem sie vor ihrem Vater, einem Voll­bau­er, weg­ge­lau­fen ist. Jetzt glaubt sie, dass eine Frau aus dem rei­sen­den Volk sie mit einem Fluch belegt hat und sie ster­ben wird, aber nicht nur sie, son­dern auch alle ande­ren, die sie bei sich auf­neh­men. Und so geschieht es. Erst wird die Frau krank, dann ster­ben die bei­den Geschwis­ter von Åsa und Mats, ihr Vater läuft weg und irgend­wann sind sie allei­ne. In der Sze­ne taucht ein aus heu­ti­ger Per­spek­ti­ve strit­ti­ger Begriff auf:

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De förs­ta dagar­na hade den sjuka varit som för­vildad, bara begärt och for­d­rat och ald­rig sagt ett ord till tack, men sedan hade hon veknat och bli­vit ödm­juk och tack­sam. Till sist hade hon bara tiggt och bett, att de skul­le bära hen­ne ur stugan ut på ljun­gen, så att hon skul­le få dö där. När värd­fol­ket inte hade velat göra hen­ne till vil­jes häri, hade hon berättat för dem, att hon de sis­ta åren hade stru­kit omkring med ett tat­tarf­öl­je. Hon var inte själv av tat­tars­läkt, utan var dot­ter till en hemm­an­säga­re, men hon hade smu­git sig ifrån hem­met och följt med van­drings­fol­ket. Nu trod­de hon, att en tat­tark­vin­na, som hade bli­vit ond på hen­ne, hade sänt sjuk­do­men över hen­ne. Men det var inte nog med det­ta, utan tat­tark­vinnan hade hotat hen­ne och sagt, att likaså illa, som det hade gått hen­ne själv, skul­le det gå alla dem, som toge emot hen­ne under sitt tak och vore goda mot henne.

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In den ers­ten Tagen war die Frau wie ver­wirrt, sie hat­te nur Wün­sche und For­de­run­gen und nie­mals ein Wort des Dan­kes. Dann aber wan­del­te sie sich und wur­de demü­tig und dank­bar. Schließ­lich bet­tel­te und fleh­te sie nur noch dar­um, man möge sie hin­aus auf die Hei­de tra­gen und dort ster­ben las­sen. Als ihr die Wirts­leu­te die­se Bit­te nicht erfül­len woll­ten, erzähl­te sie ihnen, sie habe sich in den letz­ten Jah­ren mit einer Zigeu­ner­ban­de her­um­ge­trie­ben. Sie selbst sei nicht aus dem Geschlecht der Zigeu­ner, son­dern die Toch­ter eines Hof­bau­ern, sei aber von zu Hau­se weg­ge­lau­fen und den Wan­ders­leu­ten gefolgt. Nun glaub­te sie, eine Zigeu­ne­rin, deren Zorn sie ein­mal erregt hat­te, habe die­se Krank­heit über sie geschickt. Doch nicht genug damit, die Zigeu­ne­rin hat­te auch gedroht, dass es all jenen, die sie unter ihrem Dach beher­berg­ten und ihr Gutes erwie­sen, genau­so schlecht erge­hen sollte.

(Per­let 2011)

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In den ers­ten Tagen war die Kran­ke wild und auf­säs­sig gewe­sen, sie hat­te nur ver­langt und gefor­dert und nie ein Wort des Dan­kes gesagt, doch dann war sie weich gewor­den und beschei­den und dank­bar. Schließ­lich hat­te sie nur noch dar­um gebet­telt, daß man sie aus der Kate hin­aus auf die Hei­de tra­gen möge, so daß sie dort ster­ben kön­ne. Als ihre Gast­ge­ber ihr dar­in nicht zu Wil­len sein woll­ten, hat­te sie ihnen erzählt, daß sie in den letz­ten Jah­ren mit einer Grup­pe Zigeu­ner her­um­ge­zo­gen war. Selbst stamm­te sie nicht aus einer Zigeu­ner­fa­mi­lie, son­dern war die Toch­ter eines Voll­bau­ern gewe­sen, die von zu Hau­se weg­ge­lau­fen war und sich dem fah­ren­den Volk ange­schlos­sen hat­te. Jetzt glaub­te sie, daß eine Zigeu­ners­frau, die böse auf sie war, ihr die Krank­heit geschickt hät­te. Aber damit nicht genug, viel­mehr hat­te die Zigeu­ne­rin ihr gedroht und gesagt, daß es allen, die gut zu ihr sei­en und sie unter ihrem Dach auf­näh­men, genau­so schlecht erge­hen wer­de wie ihr selbst.

(Stein­feld 2014)

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In den ers­ten Tagen hat­te sich die Kran­ke gera­de­zu pöbel­haft benom­men und nur immer­zu etwas gefor­dert und nie ein Wort des Dan­kes gesagt, aber dann war sie wei­cher gewor­den und demü­tig und dank­bar. Schließ­lich hat­te sie nur noch gebe­ten und gebet­telt, man möge sie aus der Hüt­te hin­aus in die Hei­de tra­gen, sodass sie dort ster­ben dürf­te. Als ihre Gast­ge­ber ihr die­sen Wunsch nicht erfül­len woll­ten, hat­te sie erzählt, dass sie in den letz­ten Jah­ren mit Zigeu­nern her­um­ge­zo­gen sei. Sie selbst stamm­te nicht von Zigeu­nern ab, son­dern war Toch­ter eines Bau­ern, aber sie hat­te sich von zu Hau­se weg­ge­stoh­len und war den Zigeu­nern gefolgt. Jetzt glaub­te sie, eine Zigeu­ne­rin, die böse auf sie gewor­den war, habe ihr die Krank­heit geschickt. Aber nicht genug damit, die Zigeu­ne­rin hat­te sie ver­flucht und gesagt, genau­so schlecht, wie es ihr erge­hen wür­de, soll­te es allen erge­hen, die sie unter ihrem Dach auf­nah­men und gut zu ihr waren.

(Kutsch 2016)

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Das schwe­di­sche Wör­ter­buch emp­fiehlt, statt des Begriffs tat­ta­re „resande(folket)“ zu ver­wen­den, was wört­lich so viel heißt wie „reisendes/fahrendes Volk“ und eine Bezeich­nung für skan­di­na­vi­sche Rom:nja ist. Ab dem 19. Jahr­hun­dert wur­de die­ser Begriff zur Beschrei­bung „ras­sisch gemisch­ter“ Men­schen ver­wen­det. In der Zwi­schen­kriegs­zeit wur­den vie­le Ange­hö­ri­ge die­ser Min­der­heit Opfer von Zwangs­ste­ri­li­sa­ti­on, auch wur­den ihnen die Kin­der weggenommen.

In der Lite­ra­tur der dama­li­gen Zeit spiel­ten anti­zi­ga­nis­ti­sche Ste­reo­ty­pe durch­aus eine Rol­le. Nils Hol­gers­son ist da kei­ne Aus­nah­me: Die Frau, die mit den Sinti:zze und Rom:nja umher­ge­zo­gen ist, wird als for­dernd und pene­trant beschrie­ben, impli­zit schwingt auch der Vor­wurf mit, sie habe sich als Toch­ter eines Voll­bau­ern – der als Hof­be­sit­zer über Gärt­nern und Häus­lern steht und damit über einen gewis­sen gesell­schaft­li­chen Sta­tus ver­fügt – von einer siche­ren Zukunft ver­ab­schie­det, um sich mit zwei­fel­haf­ten Gestal­ten herumzutreiben.

Alle die­se Vor­ur­tei­le fin­den in der dis­kri­mi­nie­ren­den Bezeich­nung „tat­ta­re“ zusam­men, die Per­let, Stein­feld und Kutsch als „Zigeu­ner“ über­set­zen. Das ist schon allei­ne des­halb eine kri­tik­wür­di­ge Ent­schei­dung, weil die­ses Wort, eine Fremd­be­zeich­nung für Sinti:zze und Rom:nja, im Deut­schen unauf­lös­lich mit einer Dis­kri­mi­nie­rungs­ge­schich­te ver­bun­den ist, die ihren Höhe­punkt im Poraj­mos gefun­den hat. Der Zen­tral­rat der Sin­ti und Roma schreibt auf sei­ner Web­sei­te, lan­ge habe die fal­sche Auf­fas­sung geherrscht, das Wort lei­te sich vom „Zieh­gau­ner“ ab, auch hät­ten Wör­ter­bü­cher bis ins spä­te 20. Jahr­hun­dert noch „Abschaum“ und „Vaga­bund“ als Syn­onym gelis­tet. Es ist daher erstaun­lich, dass aus­ge­rech­net Übersetzer:innen, die ange­tre­ten sind, einen Klas­si­ker für ein heu­ti­ges Publi­kum zu über­set­zen, ihn also zu moder­ni­sie­ren, die­ses Ver­let­zungs­po­ten­zi­al nicht mit­be­den­ken, und das in einem Kinderbuch.

Glei­ches gilt für den Begriff „lapp“, eine abwer­ten­de Bezeich­nung für das indi­ge­ne Volk der Sámi. Die­se Dis­kri­mi­nie­rungs­ge­schich­te ist im deut­schen Raum weni­ger bekannt, was aber kein Grund ist, sie unter den Tisch fal­len zu las­sen. Lager­löfs Roman wur­de näm­lich zu einer Zeit ver­öf­fent­licht, als die Repres­sio­nen gegen die Sámi ver­stärkt wur­den. Mit dem Eisen­erz­ab­bau in Nord­schwe­den, der auch in Nils Hol­gers­son ein pro­mi­nen­tes The­ma ist, wur­den die Sámi, die u. a. von der Ren­tier­jagd leb­ten, aus ihren alt­ein­ge­ses­se­nen Gebie­ten ver­drängt, auch herrsch­te infol­ge von Dar­wins Evo­lu­ti­ons­theo­rie die irri­ge Auf­fas­sung, sie sei­en ein nied­rig ent­wi­ckel­tes Volk. Sie wur­den gezwun­gen, Schwe­disch zu sprechen.

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Medan lap­par­na språ­ka­de som bäst vid kaf­fe­kop­pen, kom en båt roen­de från Kiruna­si­dan och lade till vid lapp­läg­ret. Ur båten steg en arbe­ta­re och en fli­cka, som kun­de vara mel­lan tret­ton och fjor­ton år gam­mal. Lapp­hun­dar­na rusa­de emot dem under högt skall, och en av lap­par­na stack ut huvu­det genom täl­töpp­nin­gen för att se vad som stod på. Han blev glad, när han fick se arbe­ta­ren. Det var en god vän till lap­par­na, en vän­lig och språk­sam man, som kun­de tala lapska […]

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Wäh­rend die Lap­pen sich beim Kaf­fee unter­hiel­ten, kam ein Boot von der Kiru­na­sei­te ange­ru­dert und leg­te beim Lap­pen­la­ger an. Aus dem Boot stie­gen ein Arbei­ter und ein Mäd­chen, das zwi­schen drei­zehn und vier­zehn Jah­ren alt sein moch­te. Die Lap­pen­hun­de lie­fen ihnen unter lau­tem Gebell ent­ge­gen, und einer der Lap­pen streck­te den Kopf aus der Zelt­öff­nung, um zu sehen, was denn dort los sei. Er freu­te sich, als er den Arbei­ter sah. Er war ein guter Freund der Lap­pen, ein freund­li­cher und red­se­li­ger Mann, der Lap­pisch spre­chen konnte.

(Stein­feld 2014)

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Wäh­rend sich die Lap­pen über ihren Kaf­fee­tas­sen unter­hiel­ten, kam ein Boot von der Kiru­na­sei­te her­über und leg­te beim Lap­pen­la­ger an. Aus dem Boot stie­gen ein Arbei­ter und ein Mäd­chen, das zwi­schen drei­zehn und vier­zehn Jah­re alt sein moch­te. Die Lap­pen­hun­de stürz­ten ihnen mit lau­tem Gebell ent­ge­gen und einer der Lap­pen steck­te sei­nen Kopf aus der Zelt­öff­nung um zu sehen, was los war. Er freu­te sich, als er den Arbei­ter sah. Er war ein guter Freund der Lap­pen, ein hei­te­rer und gesprä­chi­ger Mann, der die Spra­che der Lap­pen beherrschte.

(Kutsch 2016)

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An die­ser Text­pas­sa­ge, die nicht nur in den Bear­bei­tun­gen von Hechelm­ann, Nies­sen und Luhn fehlt, son­dern auch bei Per­let, lässt sich able­sen, wie­so die Bezeich­nung „Lap­pe“ heut­zu­ta­ge nicht mehr benutzt wer­den soll­te (das Wör­ter­buch der Schwe­di­schen Aka­de­mie emp­fiehlt statt­des­sen „same“). Die Sámi, schreibt Lager­löf an einer ande­ren Stel­le, wun­dern sich über die Neu­an­kömm­lin­ge, die sich auf der ande­ren Sei­te des Sees extra Häu­ser errich­ten, anstatt wie sie ein­fach in Zel­ten zu wohnen.

Die Neu­an­kömm­lin­ge, die Eisen­erz abbau­en wol­len und dafür eine Sied­lung gebaut haben, fra­gen sich ihrer­seits, wie die Sámi es in ihren Zel­ten aus­hal­ten kön­nen. Hier pral­len zwei Wel­ten auf­ein­an­der: einer­seits die der schwe­di­schen Mehr­heits­kul­tur, der im Roman­k­os­mos der Vor­zug gege­ben wird, ande­rer­seits die der Sámi, die eher Befrem­den aus­löst, weil die Tra­di­tio­nen die­ses Vol­kes ein­fach nicht ver­stan­den wer­den und es auch noch eine Sprach­bar­rie­re gibt. (Wobei nicht ganz klar ist, wel­che Spra­che genau: „Das“ Sámische/„Lappische“ gibt es näm­lich gar nicht, son­dern meh­re­re ein­zel­ne Spra­chen, die oben­drein nicht gegen­sei­tig ver­ständ­lich sind.) Wie schon bei ihrer Schil­de­rung der „tat­ta­re“ greift Lager­löf hier auf gän­gi­ge Kli­schees zurück, die dann auch noch in den Über­set­zun­gen zu fin­den sind, manch­mal aber auch, wie das bei Hechelm­ann der Fall ist, in den Bear­bei­tun­gen, die ja oft auf Pau­li­ne Klai­ber-Gott­schaus Fas­sung beruhen.

Gera­de Kin­der­bü­cher soll­ten auf dis­kri­mi­nie­ren­de Spra­che ver­zich­ten, denn sonst set­zen sich schäd­li­che Denk­mus­ter fort. Aber aus­ge­rech­net die­je­ni­gen, die direkt aus dem Schwe­di­schen über­set­zen, also die Geschich­te hin­ter den Wör­tern „tat­ta­re“ und „lapp“ durch­aus ken­nen soll­ten, beden­ken nicht mit, wel­che Wir­kung ihr jewei­li­ges deut­sches Äqui­va­lent unter Umstän­den hat. Dabei wür­de eine Umschrei­bung wie „rei­sen­des Volk“ oder eine zeit­ge­mä­ße Bezeich­nung wie „Sámi“ dem Text nichts wegnehmen.

Das gän­gi­ge Argu­ment, dis­kri­mi­nie­rungs­sen­si­ble Spra­che wür­de das Ori­gi­nal ver­fäl­schen, ihm eine Deu­tung auf­drü­cken, die als Ana­chro­nis­mus zu wer­ten sei, zieht in die­sem Fall näm­lich nicht, denn sonst müss­te man sich ja auch fra­gen, war­um der Text rein sprach­lich ins 21. Jahr­hun­dert und nicht nach 1907 ver­legt wird: ganz ein­fach des­halb, weil das Min­dest­halt­bar­keits­da­tum einer Über­set­zung schnel­ler zu Ende ist als das ihrer Vor­la­ge. Ein­zig Stein­feld ver­sucht, Lager­löfs Roman in einer Art Vin­ta­ge-Stil zu bewah­ren, indem er die alte Recht­schrei­bung bei­be­hält. Man darf jedoch fra­gen, ob er die Vor­la­ge dadurch nicht idea­li­siert, anstatt sie kri­tisch zu befra­gen und sie für die Gegen­wart flott­zu­ma­chen. Die feh­len­de Sen­si­bi­li­tät mit dis­kri­mi­nie­ren­der Spra­che ist ein Indiz dafür („so hat man das frü­her gesagt, des­we­gen über­set­ze ich das auch so“). Das ist scha­de, ist doch Nils Hol­gers­son ein Roman, der unzäh­li­ge Inter­pre­ta­ti­ons­mög­lich­kei­ten anbie­tet und gera­de in Zei­ten der Kli­ma­ka­ta­stro­phe Wich­ti­ges über den Bezug des Men­schen zu sei­ner Umwelt zu sagen hat.

Auch in sei­nen Über­set­zun­gen soll­te Lager­löfs Roman so viel­deu­tig blei­ben wie nur irgend mög­lich. Dass das aber nicht so ist, hat der Blick auf die vor­lie­gen­de Stich­pro­be gezeigt. Denn auch wenn es sich an alle Alters­klas­sen rich­tet, ist Nils Hol­gers­son trotz allem immer noch ein Buch, das Kin­dern – aus wel­chem Anlass auch immer – Schwe­dens Topo­gra­phie und Kul­tur nahe­brin­gen soll. Man kann aber nicht pau­schal sagen, dass die eine Fas­sung schlech­ter oder bes­ser sei als die ande­re, denn jede rich­tet sich an unter­schied­li­che Ziel­grup­pen mit jeweils ande­ren Bedürfnissen.

Die­se Tat­sa­che lässt jedoch noch kei­ner­lei Aus­sa­ge über die Qua­li­tät des jewei­li­gen Tex­tes zu. Ein beson­ders mar­kan­tes Bei­spiel hier­für ist Usch Luhns Fas­sung, in der die länd­li­chen und städ­ti­schen Eigen­hei­ten Schwe­dens über­haupt kei­ne Rol­le mehr spie­len. Übrig bleibt nur noch die Erzähl­struk­tur des Mär­chens selbst, die in den ein­zel­nen Kapi­teln unzäh­li­ge Male wie­der­holt wird: Der Held, Nils Hol­gers­son, erfährt eine Man­gel­si­tua­ti­on (er wird von einem Kobold zum Däum­ling geschrumpft), weil er ein Gebot miss­ach­tet hat (er ist ein Laus­bub, der Tie­re quält). Erst, wenn er gelernt hat, ein guter Mensch zu sein, der Ein­sicht in sei­ne Hand­lun­gen hat, fin­det er einen Aus­gang aus sei­ner Verwichtelung.

Bei der Erfül­lung sei­ner Auf­ga­be stel­len sich ihm aber immer wie­der Gegner:innen in den Weg, etwa der Fuchs Smir­re, der hin­ter den Wild­gän­sen her ist, oder das unwirt­li­che Wet­ter, das sei­ne Rei­se beschwer­lich macht. Als ein­fühl­sa­me­rer, ja viel­leicht sogar als got­tes­fürch­ti­ge­rer Mensch kehrt er nach Hau­se zurück, er hat sei­ne Auf­ga­be also erfüllt – die Autorin Luhn eben­so, denn sie hat vier- bis sechs­jäh­ri­gen Kin­dern eine span­nen­de Geschich­te erzählt und ihnen neben­bei noch ein biss­chen Empa­thie vermittelt.

Wenn man eine deut­sche Fas­sung von Nils Hol­gers­son lesen will, hat man die Qual der Wahl zwi­schen rund vier Dut­zend ver­schie­de­nen Aus­ga­ben, die von der Kom­plett­über­set­zung bis zum Schul­buch rei­chen. Die Fra­ge, die man sich stel­len soll­te, lau­tet: Wel­chen Zweck soll die jewei­li­ge Fas­sung erfül­len? Will man sei­nem klei­nen Kind eine span­nen­de Geschich­te vor­le­sen, dann emp­feh­len sich die Fas­sun­gen von Usch Luhn und Sus­an Nies­sen. Will man hin­ge­gen einem lese­be­geis­ter­ten Kind ein dickes Buch zum Schmö­kern, Stau­nen und Ent­de­cken schen­ken, emp­fiehlt sich Fried­rich Hechelm­anns oder Ange­li­ka Kutschs Ver­si­on. Und wer als Erwachsene:r neu­gie­rig auf die Ori­gi­nal­ver­si­on ist, aber kei­ne Lust auf 700 Sei­ten hat, wird an Gise­la Per­lets Fas­sung Gefal­len fin­den. Stein­felds voll­stän­di­ge Über­set­zung ist für alle, die auch nach zahl­rei­chen Bear­bei­tun­gen und gekürz­ten Aus­ga­ben nicht genug von Nils Hol­gers­son bekom­men kön­nen und eine Kar­rie­re in der Hol­gers­so­no­lo­gie in Erwä­gung ziehen.


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