In dieser Reihe stellen Übersetzer:innen und Expert:innen Bücher aus „ihrem“ Land vor – spannend, wegweisend, romantisch, subtil, haarsträubend oder urkomisch – aber in jedem Fall lesenswert. Ob Klassiker oder Zeitgenössisches, Krimis, Poesie oder Kinderbücher … diese ganz persönliche Leseliste lädt dazu ein, die literarische Landschaft des Landes vom Sofa aus zu bereisen. Viel Spaß beim Schmökern!
Gedichte
Anneke Brassinga: Fata Morgana, dürste nach uns
Übersetzt von Ira Wilhelm. Matthes & Seitz
Die Gedichte von Anneke Brassinga erforschen auf höchst eigensinnige Art und Weise das Material der Sprache: Klänge, Assoziationen, alte, in Vergessenheit geratene Ausdrücke und nie da gewesene Komposita, das Spiel mit Paradoxen und Ambiguitäten machen ihre Zeilen zu einem wahren Abenteuer. Sie lässt sich dabei nicht nur von der niederländischen Natur und von weitläufigen Landschaften und Städten inspirieren, sondern schreibt auch Verse über die Liebe, die Erinnerung, die Worte selbst und sogar über ihr Mobiliar. Der Spielplatz ihrer Sprache sprüht vor Lebenskraft und Humor, umfasst aber auch stille, fast mystisch anmutende Gedichte. Fata Morgana, dürste nach uns präsentiert eine Auswahl ihres dichterischen Werkes von 1987–2015, von Ira Wilhelm voller Sprachfreude übersetzt.
Roman
Louis Paul Boon: Der Kapellekensweg
Übersetzt von Gregor Seferens. Luchterhand
Dreimal wurde der Roman Der Kapellekensweg des flämischen Autors Louis Paul Boon ins Deutsche übersetzt, doch erst in der dritten Übersetzung aus dem Jahr 2002 von Gregor Seferens entfaltet sich die Stimmgewalt des Originals. Eine dieser Stimmen ist die des Fabrikmädchens Ondine, die im 19. Jahrhundert in der kleinen Industriestadt Ter-Muren aufwächst und davon träumt, die soziale Leiter zu erklimmen. Ihr Leben, eingebettet in das Setting des aufkommenden Sozialismus, wird mit Geschichten über den rücksichtslosen Reineke Fuchs und den gutgläubigen Isegrim verwoben – Geschichten von Profiteuren und Opfern. Das alles wird vom Autor selbst kommentiert, der in der Figur des Boontje auftritt und zusammen mit seinen Freunden ein Buch schreibt, das das Leben so darstellen soll, wie es wirklich ist, ein Buch wie „ein See, ein Ozean, ein Chaos“. Mit diesem 1953 erschienenen Roman erreichte die niederländischsprachige Nachkriegsliteratur einen Höhepunkt, der einer ganzen Generation flämischer Autoren zum Vorbild diente.
Essays
Charlotte Mutsaers: Kirschenblut
Übersetzt von Marlene Müller-Haas. Hanser
Wie überraschend, elegant, originell, inspirierend, lustig und verspielt Essays sein können und gleichzeitig auch zum Nachdenken anregen, zeigt der Essayband Kirschenblut aus der Feder von Charlotte Mutsaers, einer der spannendsten niederländischen Autor:innen der Gegenwart. Tausendsassa Mutsaers verzückt die Leser mit Prosatexten, die sich an der Grenze zwischen Bild und Text bewegen, sie jongliert mit unerwarteten Verknüpfungen von weit auseinanderliegenden Themen und setzt sich mit flinken Sprüngen über alle Genregrenzen hinweg. Mit Liebe, intelligentem Humor und einem Hauch Melancholie schreibt sie über Virginia Woolf, Dora Carrington, George Perec und viele andere. Diese Sammlung von Texten aus ihren zahlreichen Essaybänden wird mit einem wohlüberlegtem Selbstinterview von und mit der Autorin abgeschlossen – typisch Mutsaers. Für ihre Übersetzung erhielt Marlene Müller-Haas 2002 den Else-Otten-Übersetzerpreis.
Kinderbuch
Bart Moeyaert: Am Anfang
Übersetzt von Mirjam Pressler. Peter Hammer
Bibelgeschichten für Kinder gibt es viele, aber eine Nacherzählung der Schöpfungsgeschichte, die so rührend und lustig von Bart Moeyaert erzählt und so wundervoll von Wolf Erlbruch illustriert wurde, gibt es nur einmal. Die Symbiose des flämischen Kinder‑, Jugend- und Erwachsenenbuchautors und des deutschen Illustrators erinnert auf ganz besondere Weise an „zwei Kinder, die im selben Garten gespielt haben“. In diesem Buch, in dem Gott beim Schöpfungsprozess von einem kritischen Erzähler befragt wird, präsentiert sich der Autor bei der Erschaffung von bedeutungsvollen Räumen und Momenten der Stille als Meister der Suggestivität. Seine Leichtigkeit und der treffsichere Stil machen deutlich, dass sich Kinder- und Jugendliteratur in Bezug auf die literarische Qualität nicht vor anderen Genres verstecken muss. Mirjam Pressler, „seine Stimme in der anderen Sprache“, wie Moeyaert sie liebevoll nannte, hat das 2004 mit dem „Der silberne Griffel“ ausgezeichnete Kinderbuch Am Anfang überzeugend ins Deutsche übersetzt.
Roman
Frank Martinus Arion: Doppeltes Spiel
Übersetzt von Lisa Mensing. Büchergilde
Doppeltes Spiel des aus Curaçao stammenden Autors Frank Martinus Arion erschien 1973 und war damals der allererste antillianische Roman, der komplett aus Schwarzer Perspektive geschrieben war. Die Ereignisse des 400 Seiten starken Buchs spielen sich innerhalb eines Sonntagnachmittags und ‑abends in der Nähe von Willemstad in der ehemaligen niederländischen Kolonie Curaçao ab. Was als unschuldige Runde Domino zwischen vier schwarzen Männern anfängt, entwickelt sich zu einem großen Menschenauflauf und endet mit Mord und Totschlag. Die Geschichte ist mal satirisch, mal tragikomisch, und weil sie von einem distanzierten Erzähler erzählt wird, muss man beim Lesen selbst interpretieren, wie es auf der Insel um die koloniale Geschichte Curaçaos, die politische Situation, Loyalität und Freundschaft, Klassenunterschiede und Männer-Frauen-Verhältnisse bestellt ist. Lisa Mensings Neuübersetzung von 2022 überträgt den Text behutsam und transportiert die Atmosphäre und den Stil des Romans ausgezeichnet ins Deutsche.