Wie entscheidet man, welche Übersetzung man liest? Vor dieser Frage dürften die meisten von uns irgendwann stehen. Oft ist der Zufall ausschlaggebend: Wir lesen die Übersetzung, die der Buchladen unseres Vertrauens verkauft. Manchmal lesen wir die Übersetzung, die bei Eltern oder Freund:innen im Regal steht. Oder wir lesen die Übersetzung, die als Geschenk unterm Weihnachtsbaum liegt.
Meine Jane-Eyre-Übersetzung gehörte eigentlich meiner Tante. Ich hatte als Teenager Ausschnitte einer Verfilmung im Fernsehen gesehen und in der Familie gefragt, ob jemand diese Jane Eyre kenne. Beim nächsten Besuch brachte mir meine Tante den Roman mit, der seitdem in meinem Besitz ist. Dass es sich bei der Ausgabe nicht nur um irgendeine, sondern konkret um die Übersetzung von Ingrid Rein handelt, fand ich erst heraus, als ich das Buch für diesen Beitrag aus dem Regal holte.
Jane Eyre steht in sehr vielen Bücherregalen dieser Welt. Literaturwissenschaftler:innen schätzen, dass der Roman über 600 Mal übersetzt wurde und das in über 60 Sprachen. Allein im Deutschen gibt es wohl über zwanzig Übersetzungen und Bearbeitungen. Mir hätten damals also viele andere Jane-Eyre-Übersetzungen in die Hände fallen können. Es war aber vielleicht ein Glücksfall, dass es die Übersetzung von Ingrid Rein war.
Denn unabhängig davon, wie ich diese Fassung aus heutiger Sicht bewerten würde, ist eines klar: Ich konnte den Roman damals dank mangelnder Sprachkenntnisse nur in der Übersetzung entdecken. Und dass mich das Buch wie so viele Andere in den Bann der Brontë-Schwestern gezogen hat, verdanke ich seiner Übersetzerin. Jane Eyre wurde bis Ende des 20. Jahrhunderts wie so viele Klassiker gekürzt, adaptiert oder gar gänzlich umgeschrieben. Vermutlich hätte ich mit einer „Johanna Ehre“ – so deutschte man den Namen in einer der ersten Übersetzungen ein – weniger anfangen können als mit Reins moderner Heldin.
Charlotte Brontës zweiter Roman Jane Eyre war bereits kurz nach seiner Erstveröffentlichung im Jahr 1847 ein Hit. William M. Thackeray (dessen Tochter berichtete, ganz London habe das Buch nicht weglegen können) bezeichnete den Roman als das „Meisterwerk eines großen Genies“. Seine Autorin, deren wahre Identität man trotz ihres Pseudonyms „Currer Bell“ nach dem Tod der Schwestern schnell aufdeckte, wurde über Nacht berühmt. Erste Übersetzungen erschienen nur wenige Monate nach Erscheinen der Erstausgabe. Auch in Deutschland, wo Bücher aus England in Mode waren, wurde bereits 1848 eine erste Übersetzung veröffentlicht.
Laut der Literaturwissenschaftlerin Lynne Tatlock gehörte Jane Eyre damit also bereits um 1900 zur Standardlektüre der Deutschen, obgleich viele nur Zugang zu stark gekürzten Versionen hatten. Der Text wurde als Bühnenstück aufbereitet, was zu dem Erfolg beitrug. Beliebt waren außerdem Adaptionen für Kinder und Jugendliche, in denen die delikaten oder kontroversen Stellen gestrichen wurden. Eine solche Praxis war nicht nur in Deutschland weit verbreitet; auch in vielen anderen Kulturräumen passte man den Text den jeweiligen Zwecken und Zielgruppen an, wie das Oxforder Forschungsprojekt „Prismatic Jane Eyre“ anschaulich aufzeigt. Jane Eyre verfügt als Übersetzung gewissermaßen über ein Eigenleben, das nicht immer viele Gemeinsamkeiten mit Charlotte Brontës Original aufweist.
Aktuell sind etwa sechs deutsche Übersetzungen von Jane Eyre im Handel erhältlich. Die Älteste stammt von Maria von Borch, die im 19. Jahrhundert vor allem skandinavische Literatur (darunter sehr viel von Henrik Ibsen) ins Deutsche brachte. Ihre Übersetzung erschien um 1887 bei Reclam und wird noch immer von kleineren Verlagen verlegt. Außerdem ist sie auf Gutenberg einsehbar. Alle weiteren hier von mir besprochenen Übersetzungen sind in den letzten fünfzig Jahren entstanden. Ingrid Reins Übersetzung wurde 1990 ebenfalls von Reclam verlegt und im Rahmen der „Klassikerinnen“-Reihe neu aufgelegt. Die Übersetzerin verfügte zu dem Zeitpunkt bereits über Brontë-Erfahrung; nur vier Jahre zuvor hatte sie nämlich Emily Brontës Sturmhöhe neu übersetzt.
1998 legte dtv mit einer weiteren Übersetzung von Gottfried Röckelein nach, die noch immer verlegt wird. Helmut Kossodo hatte Jane Eyre in den Siebzigern übersetzt; seine Fassung (Insel Verlag) war noch lange im Umlauf und ist auch noch immer als Taschenbuchausgabe erhältlich. Inzwischen hat der Insel Verlag eine Übertragung von Melanie Walz (2015) herausgebracht, bei der es sich gewissermaßen um die aktuellste Neuübersetzung handelt. Außerdem gibt es noch die Übersetzung von Andrea Ott, die 2001 bei Manesse erschien.
Bei all diesen Übersetzer:innen handelt es sich um Profis. Wer gern englische Klassiker liest, sollte sich die Namen notieren, denn gemeinsam sind sie für sehr viele Neuübersetzungen der vergangenen Jahre verantwortlich. Ob Jane Austen, George Eliot oder Henry James – viele ihrer Werke stammen auf Deutsch aus der Feder von den genannten Übersetzer:innen. Neben den erwähnten Jane-Eyre-Übersetzungen gibt es noch mindestens zehn weitere Fassungen. In diesem Beitrag berücksichtige ich aber nur Übersetzungen, die derzeit auf einfachem Wege zu kaufen sind.
Wer die Geschichte bereits kennt, kann die nächsten zwei Absätze gern überspringen. Für alle Jane-Eyre-Neulinge hier aber eine kurze Einführung in den Roman, bevor wir uns den Übersetzungen widmen: Die Frage, welche Art von Roman Jane Eyre ist, beschäftigt die Literaturwissenschaft schon seit Jahrzehnten. Es handelt sich im weitesten Sinne um einen Bildungsroman: Jane wächst als Waise (der Roman ist auch unter dem Titel Die Waise von Lowood bekannt) im Haus ihrer kaltherzigen Tante Mrs. Reed auf, wo sie von ihren Cousins schikaniert wird. Nach einer Auseinandersetzung schickt man sie auf die Mädchenschule Lowood, die von Typhus heimgesucht und von dem Geistlichen Mr. Brocklehurst streng geführt wird. Jane erhält dort zwar wenig zu essen, bekommt aber Zugang zu einer soliden Ausbildung. Mit 18 Jahren verlässt sie schließlich das Internat, um in Thornfield Hall als Gouvernante zu arbeiten.
Thornfield Hall gehört einem gewissen Mr. Rochester, der sich als Byronic Hero entpuppt – er ist von mürrischer Natur und trägt einige dunkle Geheimnisse mit sich; Jane verliebt sich trotzdem in ihren Hausherren. In Thornfield Hall kommt es zu merkwürdigen Vorfällen: Immer wieder hört Jane nachts ein seltsames Gelächter, eines Abends fangen Rochesters Bettvorhänge Feuer und ein Besucher wird attackiert. Der Roman zählt damit auch zur Schauerliteratur, die in England eine große Tradition hat. Anders als ihre Vorgänger:innen wie Horace Walpole oder Ann Radcliffe verlegt Brontë den Schauplatz des Grauens jedoch in das häusliche Setting ihres Heimatlands, und gibt ihm einen realen Ursprung: Es ist Rochesters weggesperrte Ehefrau, die in Thornfield Hall ihr Umwesen treibt und von ihm als „verrückt“ eingestuft wird. Als Jane am Tag der geplanten Hochzeit mit Mr. Rochester davon erfährt, läuft sie über Nacht davon.
Trotz aller Widrigkeiten handelt es sich bei Jane Eyre um eine der großen Liebesgeschichten der Weltliteratur, und die tief empfundenen Emotionen der beiden Figuren schlagen sich auch in der Sprache nieder, die schon manch einem viktorianischen Kritiker stellenweise zu viel war. Dass Jane Eyre jedoch immer wieder neue Leser:innen findet, liegt vor allem an der eigentümlichen und faszinierenden Erzählstimme. Die große Virginia Woolf hatte beim wiederholten Lesen von Jane Eyre zunächst Angst, dass die Hauptfigur altbacken und zu viktorianisch rüberkommen würde – das Gegenteil war jedoch der Fall.
Gut hundert Jahre nach Woolfs Urteil dürften auch moderne Leser:innen weltweit den Zugang zum Text vor allem über seine Ich-Erzählerin finden. Romane in der Ich-Form waren keine Seltenheit, aber kaum eine Stimme hat für so viel Furore gesorgt wie Jane Eyre. Man munkelte sogar, dass Dickens seinen David Copperfield ähnlich konstruiert hätte (was diesem gar nicht gefiel, denn er konnte mit den Brontë-Schwestern nichts anfangen). Wenn wir uns die Übersetzungen anschauen, ist es erstrebenswert, genau das im Hinterkopf zu behalten: Jane Eyre ist nichts ohne Jane Eyre. Oder wie die Übersetzungswissenschaftlerin Katharina Reiß bekräftigt: „Jedes geschilderte Ereignis im Roman, jede Figur, jede dargestellte Landschaft dient der Konturierung der weiblichen Hauptfigur und muss in ebendiesem Licht gewertet werden.“
Einen ersten Eindruck der Übersetzungen erhält man, wenn man sich zunächst einen der wohl berühmtesten Jane-Eyre-Sätze überhaupt anschaut. Am Ende des Romans (Achtung Spoiler) finden Jane und Mr. Rochester wieder zueinander. Das letzte Kapitel des Romans beginnt daher wie folgt.
Reader, I married him.
Mein teurer Leser, ich heiratete ihn. (Maria von Borch, 1887)
Lieber Leser, wir haben geheiratet. (Helmut Kossodo, 1979)
Lieber Leser, ich habe ihn geheiratet. (Ingrid Rein, 1990)
Liebe Leser: Ich heiratete ihn. (Gottfried Röckelein, 1998)
Ich habe ihn geheiratet, lieber Leser. (Andrea Ott, 2001)
Leser, ich habe ihn geheiratet. (Melanie Walz, 2015)
Und dieser eine Satz hat es in den Übersetzungen in sich. Einige Dinge dürften aufmerksamen Leser:innen direkt ins Auge springen. Fangen wir aber mit dem Offensichtlichen an: In der Übersetzung von Helmut Kossodo wird aus dem „ich“ ein „wir“. Nun könnte man argumentieren, dass Jane vor einigen Kapiteln aufgezeigt hat, dass sie und Mr. Rochester gleichberechtigt sind. Das „wir“ würde demnach beispielsweise Gemeinschaft suggerieren, wäre es an eben dieser Stelle nicht so völlig fehl am Platz.
Streng genommen könnte man Kossodos Übersetzung direkt weglegen, denn offenbar ist dem Übersetzer die Essenz des Romans entgangen. Als finanziell unabhängige Frau, die wenige Kapitel zuvor Teile ihrer Familie wiederentdeckt hat, braucht Jane Eyre keinen Ehemann, sagt sie doch über sich selbst: „Ich bin ein freier Mensch mit einem eigenen Willen“ (Walz). Und dieser eigene Wille macht Jane zu einer der faszinierendsten Heldinnen der englischsprachigen Literaturgeschichte – und den Text zu einem der ersten (auch wenn das in der Literaturwissenschaft durchaus umstritten ist) feministischen Romane.
Interessant ist in dem Satz auch der „Leser“. Es handelt sich dabei keineswegs um die einzige Leseransprache in dem Roman; die Ansprache wird hin und wieder verwendet, um vor Augen zu führen, dass Jane in ihrer fiktiven Welt ihre Autobiographie (der Roman trägt auch den Untertitel „An Autobiography“) schreibt. Melanie Walz hat den Satz wortwörtlich übersetzt. Ihr „Leser“ wirkt im Deutschen aber doch recht karg, fast schon abgehackt. Womöglich war die Überlegung, dass auch im Englischen das gängige „dear“ vor „reader“ fehlt und der Satz vielleicht gerade deshalb so markant ist.
Im Sinne der Natürlichkeit haben sich aber alle anderen Übersetzer:innen dazu entschieden, den „Leser“ mit einem Zusatz zu versehen. Aufmerksamen Kritiker.innen wird zudem auffallen, dass immer von „Leser“ die Rede ist, obgleich im Deutschen natürlich auch das Wort „Leserin“ existiert. Der Begriff „Reader“ ist im Englischen viel neutraler, und in ihren Anmerkungen schreibt Walz, dass Brontë den Roman zunächst unter der männlichen Pseudonym veröffentlicht und möglicherweise auch ein männliches Publikum vor Augen hatte. Dennoch darf man die Frage stellen, ob nicht inzwischen geschlechtergerechte Sprache an dieser Stelle angebracht wäre – zumal ein Großteil des Lesepublikums von Jane Eyre noch immer primär weiblich sein dürfte.
Aber widmen wir uns schöneren Themen, nämlich der Grammatik und dem Satzbau. Gottfried Röckelein und Maria von Borch übersetzen hier im Präteritum, die restlichen Übersetzer:innen greifen zum Perfekt. Letzteres sorgt dafür, dass der Satz weniger steif wirkt und sogar auf eine gewisse Mündlichkeit verweist. Man kann das direkt testen, indem man den Satz laut liest – „habe geheiratet“ wird dabei deutlich weniger Probleme bereiten als „heiratete“. In Jane Eyre wird ohnehin viel geredet, und auch hier „spricht“ Jane, nur eben nicht mit einer anderen Figur, sondern mit dem „Leser“.
Sehr auffällig ist an dieser Stelle auch, dass Andrea Ott den „Leser“ ans Ende des Satzes schiebt. Der Satzbau wird also gewissermaßen umgekehrt. Das führt jedoch leider dazu, dass der „Leser“ in ihrer Version ein bisschen untergeht und die Deklaration abgeschwächt wird. Grundsätzlich zeigt dieser einzelne Satz allerdings schon ein wichtiges Merkmal von ihrer Übersetzung auf: Otts Übertragung ist tendenziell die freieste. Mitunter war ich überrascht, was sie aus einigen Sätzen gemacht hat, ohne dabei jedoch die Verbindung zum Originaltext zu kappen.
Mit diesen ersten Eindrücken im Hinterkopf schauen wir auf einen weiteren Textausschnitt. An dieser Stelle beschreibt Jane ihr Verhältnis zu Adèle, dem „Mündel“ von Mr. Rochester:
Was Jane da beschreibt, dürfte noch heute manch einen aufhorchen lassen: Eine Frau, die zugibt, dass sie Kinder ganz in Ordnung findet, aber mehr auch nicht? Charlotte Brontë verpackt das alles in eine sehr dichte Sprache. Schon die viktorianische Leserschaft empfand den Stil der Brontës mitunter als gewöhnungsbedürftig, ein bisschen vertrackt oder – abgesehen von den emotionsgeladenen Dialogen – sogar etwas altbacken. Die Einschübe und die Zeichensetzung sind zudem für die recht komplexen Gedankengänge nicht immer von Vorteil; der Hang zur Bildungssprache („par parenthèse“) auch nicht. Gleichzeitig wirkt Brontës Sprachgebrauch an dieser Stelle, wo ihre Erzählerin sich selbst als unvoreingenommene Beobachterin (sie sagt ja nur die Wahrheit!) stilisiert, auch kraftvoll und zielgerichtet.
Maria von Borch ahmt in ihrer Übersetzung, dabei vor allem im ersten Teil, den Satzbau recht akribisch nach und lässt ihn trotz seiner Länge in einem umständlich formulierten Nebensatz („um uns ein gewisses Behagen an unserer gegenseitigen Gesellschaft finden zu lassen“) enden. Im zweiten Teil zieht sie den Einschub („par parenthèse“) zwar nach hinten, aber das dürfte kaum die Lesbarkeit erhöhen. Man müsste die Stelle mehrmals lesen, um sie in Gänze zu begreifen.
In eine ganz andere Richtung schlägt hingegen die Übersetzung von Helmut Kossodo, die wir eigentlich eingangs schon zur Seite gelegt hatten. Hier liefert er uns einen weiteren Grund, seine Übersetzung nicht zur Hand zu nehmen: Bei seinen Kolleg:innen fällt der Absatz nämlich deutlich länger aus als das Original, bei ihm wird jedoch alles etwas kürzer. Das betrifft zum einen seine Sätze. Diese lässt er dankenswerter Weise öfter mal in einem Punkt statt einem Komma enden, aber die sich wiederholenden „und“-Konstruktionen sind auch keine besonders gefällige Lösung. Außerdem lässt er einige inhaltliche Dinge unter den Tisch fallen. Warum wurde beispielsweise der Klimax „to flatter parental egotism, to echo cant, or prop up humbug“ nicht vollständig übersetzt?
Bei der Übersetzung von Gottfried Röckelein stechen andere Elemente hervor. Zum Beispiel tendiert der Übersetzer generell zu starken Adjektiven. Von „abgedroschenen Phrasen“ oder “scheinheiligem Gerede” wird hier erzählt; „kühl und distanziert“ ist die „cool language“. Solche Verstärkungen mögen an der zitierten Stelle nicht stören, fallen mit Blick auf die Gesamtübersetzung aber doch negativ auf. So wird Jane von ihrem tyrannischen Cousin in Röckeleins Übersetzung als „Miststück“ („bad animal“, von anderen mit „Biest“ übersetzt) bezeichnet. An anderer Stelle ist von „Luder“ die Rede, obwohl im Original an der Stelle „rat“ („Ratte“) steht – um das zu kontextualisieren: Jane wird von ihrem Cousin gemobbt, sie ist aber erst zehn; ihr Cousin wenige Jahre älter. „Misstück“ ist da ein seltsames Schimpfwort. Noch schlimmer ist lediglich die Stelle, an der Röckelein sie als „unattraktiv“ (im Original steht an der Stelle „quakerish“) bezeichnet. Jane Eyre ist laut den Beschreibungen keine konventionelle Schönheit – das Gegenteil ist der Fall – aber das macht sie noch lange nicht „unattraktiv“, zumal bei seiner Übersetzung des Wortes „quakerish“ noch ganz andere Nuancen verloren gehen.
Auch Andrea Ott weiß eigene Akzente zu setzen. Das gestelzte „par parenthèse“ scheint in ihrer Übersetzung auf den ersten Blick zunächst verschwunden zu sein, wird aber durch den recht eleganten Einschub „nebenbei gesagt“ aufgegriffen. Danach taucht plötzlich die „hehre Lehrmeinung“ auf. In anderen Übersetzungen sind das die „erhabenen“ oder gar „heiligen Doktrinen“. Ott hält sie also nicht blind an den Ausgangstext, nimmt aber alles mit, was das Original zu bieten hat – zumeist ohne Bedeutungsverlust.
Auch Melanie Walz hat als Übersetzerin schon viele alte Texte vom Staub befreit. Das gelingt ihr oftmals durch eine „Weniger-ist-mehr“-Herangehensweise, wie wir bereits bei der ersten zitierten Stelle sehen konnten. Ihre Jane-Eyre-Übersetzung schwankt jedoch zwischen bemerkenswerter Schlichtheit und mitunter merkwürdig umständlichen, altertümlichen Formulierungen wie „bezeigte mir“ oder „unsere Gesellschaft für uns beide erfreulich zu machen“. Auch die Übersetzung „liebedienerische Sprüchlein“ klingt wie aus dem Mund von Mrs. Reed, Jane Eyres Tante, und nicht von der Protagonistin selbst.
Am sichersten wird dieser Absatz von Ingrid Rein übersetzt, die insgesamt ein ausgeprägtes Gespür für Tempo und Rhythmus hat. Im ersten Satz sind die Bezüge und die Verbindungen viel deutlicher als in anderen Übersetzungen, zum einen durch die klar markierte Atempause nach dem „gefaßt“, die sich stark am Original orientiert. Zum anderen wird der Satz nicht durch schlecht platzierte Einschübe überfrachtet. Und auch bei der Wortwahl gibt es nichts zu bemängeln; Rein legt keine Holpersteine in den Weg, die uns stutzig machen könnten.
Neben solchen Auffälligkeiten in der Syntax und im Ausdruck gibt es einen weiteren übersetzerischen Aspekt in Jane Eyre, mit dem man sicherlich eine Dissertation füllen könnte, nämlich die Verwendung von Siezen und Duzen. Mary Frank hat darüber einen ganzen Aufsatz geschrieben, in dem sie sich die Übersetzungen von Melanie Walz, Helmut Kossodo und Maria von Borch anschaut und dort beobachtet, wie sich Einsatz von „Sie“ und „du“ beispielsweise mit dem Verhältnis zwischen Jane und Mr. Rochester verändert. In dieser Hinsicht hat das Deutsche manchmal dem Englischen etwas voraus, weil so Zwischentöne hörbar sind, die der Erzählung auf besondere Art und Weise dienen können. Wie beispielsweise hier:
“What do you want?” I asked, with awkward diffidence.
“Say, ‘What do you want, Master Reed?’” was the answer.
»Da bin ich, was wünscht Ihr?« fragte ich mit schlecht erheuchelter Gleichgültigkeit.
»Sag: was wünschen Sie, Mr. Reed,« lautete seine Antwort.
(Maria von Borch, 1887)
»Was willst du?« fragte ich verlegen und mißtrauisch. »Sag ›Was wünschen Sie, Master Reed?‹« war die Antwort (Helmut Kossodo, 1979)
»Was willst du?« fragte ich zaghaft und verlegen. »Das heißt: ›Was wünschen Sie, Master Reed‹«, lautete die Antwort. (Ingrid Rein, 1990)
»Was willst du?« fragte ich unbeholfen und schüchtern. »Das heißt: ›Was wünschen Sie, Master Reed‹«, lautete die Antwort. (Gottfried Röckelein, 1998)
«Was wollen Sie?», fragte ich unbeholfen und schüchtern. «Sag: ‹Was wünschen Sie, Master Reed?›», gab er zur Antwort. (Andrea Ott, 2001)
»Was willst du?«, fragte ich linkisch und schüchtern. »Das heißt: ›Was wollen Sie, Master Reed?‹«, lautete die Antwort. (Melanie Walz, 2015)
Nicht weniger interessant wäre es, die Übersetzungen mit Blick auf die Darstellung von Kolonialismus und Rassismus zu lesen. Dass der Plot von Jane Eyre mit den kolonialen Ambitionen des Britischen Weltreichs eng verknüpft war, hat erst die postkoloniale Wende in der englischsprachigen Literaturwissenschaft wirklich ins Rampenlicht gerückt. Mr. Rochesters erste Ehefrau Bertha Jorkins stammt aus Jamaica; Jane wiederum erbt Geld von ihrem Onkel in Madeira und wird gefragt, ob sie als Missionarsfrau nach Indien reisen möchte.
Das Überlegenheitsgefühl der Briten äußerte sich jedoch nicht nur über territoriale Expansionen oder kolonialen Reichtum, sondern auch über praktizierten Orientalismus in den eigenen vier Wänden, der Mitte des 19. Jahrhunderts keineswegs ungewöhnlich war. Mr. Rochester lädt zu sich eine Gefolgschaft, bestehend aus Janes Rivalin Ms. Ingram, nach Thornfield Hall ein. Dort vergnügt man sicher auf vielerlei Art und Weisen, unter anderem mit Verkleiden:
Die Personenbeschreibungen funktionieren in Jane Eyre oftmals über die Einordnung der Hautfarbe. Häufig werden Frauen, die Jane als Bedrohung empfindet, als „dark“ bzw. „dunkel“ bezeichnet, beispielsweise Mrs. Reed oder Ms. Ingram. Auch Mr. Rochesters Hautfarbe wird als „dunkel“ (Walz); „braun“ (Ott) oder „bräunlich“ (von Borch) beschrieben. In der Übersetzung von Kossodo fehlt das Adjektiv, auch in der Übersetzung von Maria von Borch wird auf einen solchen Zusatz hin und wieder verzichtet. Ob diese Einordnung von Mr. Rochester positiv oder negativ zu lesen ist, wurde in der Literaturwissenschaft viel debattiert. In jedem Fall findet eine Exotisierung statt, die gleichzeitig auch seine grimme Männlichkeit verstärkt.
Denn Mr. Rochester ist ein „orientalischer Emir“ oder „arabischer Würdenträger“, wie es bei Andrea Ott heißt. Er herrscht nicht nur über Thornfield Hall; er herrscht gewissermaßen auch über Jane und ist ihr „Master“, gewissermaßen also auch eine potentielle Gefahrenquelle. Die Beschreibung wird durch die „Paynim features“ zusätzlich verstärkt. Das Wort „Paynim“ ist in seiner Bedeutung nicht ganz eindeutig und bezeichnet eine nicht-christliche, in vielen Fällen muslimische Person. Daraus ergibt sich auch die Bandbreite an Bedeutungen in den verschiedenen Übersetzungen. Dort ist von „heidnischen“ (Kossodo), „orientalischen“ (Rein), „muselmanischen“ (Röckelein) oder „östlichen“ (Ott) Zügen die Rede. Auch eine Übersetzung wie „mohammedanischen“ (Walz) ist keineswegs abwegig, sondern recht konsequent. Mr. Rochester wird nämlich noch an zwei anderen Stellen derart charakterisiert.
Für eine weitere übersetzerische Herausforderung sorgt in dem Absatz der Verweis auf eine „Schnur“ oder einen „Pfeil“ (von Borch) ganz am Ende des letzten Satzes. Was ist damit gemeint? Röckelein hat seiner Übersetzung eine Erklärung hinzugefügt und spricht von dem „bevorzugten türkischen Exekutionsutensil“. Helmut Kossodo hingegen hat seine bevorzugte Übersetzungsstrategie angewandt und den Halbsatz direkt unterschlagen, während Andrea Ott den Satz recht anschaulich und explizit aufdröselt. Dankenswerterweise gibt es auch Übersetzungen wie die von Ingrid Rein, die mit einem Anmerkungsapparat versehen ist. Ohne eine solche Anmerkung dürfte der Teilsatz in vielen Übersetzungen schlichtweg untergehen.
Schauen wir uns noch eine letzte Stelle an, bevor wir zu einem finalen Urteil kommen. Bei der folgenden Szene handelt es sich um einen der frühen Schlüsselmomente zwischen Jane und Mr Rochester:
Was Jane Eyre als Heldin auszeichnet, ist an dieser Stelle deutlich erkennbar. Es hält sich das Gerücht, dass Frauen in den vergangenen Jahrhunderten vor allem still in der Ecke gesessen hätten. Und in manchen viktorianischen Romanen ist das tatsächlich so – man denke nur an Dickens Angel in the House Agnes Wickfield oder die blasse Amy Dorrit. Auch Jane Eyre kennt ihren Platz in der Gesellschaft (daher versucht sie, ihre Aussage zu revidieren) und ist in vielerlei Hinsicht eine Außenseiterin. Trotzdem nimmt sie selten ein Blatt vor den Mund und hat mehr Rückgrat als alle anderen Figuren in dem Roman.
Vor allem in den cleveren Dialogen ist Jane Eyre daher bei aller emotionalen Aufrichtigkeit auch sehr witzig und unterhaltsam. Und man darf erleichtert feststellen, dass Jane und Mr. Rochester in all den hier besprochenen Übersetzungen einigermaßen überzeugend flirten. Stutzig wird man höchstens bei dem hervorstechenden „drollig“ in Röckeleins Übersetzung oder dem „putzig“ bei Andrea Ott. Das englische „quaint“ mag ja viele Bedeutungen haben, aber „altmodisch“ (Walz) oder „sittsam“ (Rein) dürfte es besser treffen.
Auffällig ist hier außerdem, dass in der Kossodo-Übersetzung von „Herr Rochester“ und „Fräulein Eyre“ die Rede ist. Das markiert seine Übersetzung noch deutlicher als aus der Zeit gefallen. Und auch sonst lassen sich hier einige andere, bereits angeschnittene Symptome wiederfinden. So „knallt“ Jane in Röckeleins Übersetzung Mr Rochester eine „Entgegnung“ hin, die nicht nur „barsch“, sondern auch „grob“ ist. Man neigt mal wieder leicht zur Übertreibung. Kein Wunder also, dass der Insel Verlag eine Neuübersetzung in Auftrag gegeben hat.
Doch auch seine Nachfolgerin Melanie Walz kramt mit „Meiner Treu!“ noch eine weitere altdeutsche Bezeichnung hervor, die recht fehl am Platz wirkt. Außerdem klingt das „bevor ich es gewahr wurde“ ebenfalls sehr gestelzt. Gleichzeitig übersetzt sie „there is something singular about you“ recht geradlinig mit „Sie sind eine seltsame Person“, vielleicht um die Balance zu halten.
Nicht besonders überzeugend ist die Übersetzung von Maria von Borch. Warum, wird an der zitierten Stelle deutlich: Die Übersetzung ist erstaunlich nah am Original, klingt dadurch aber mitunter im Deutschen wenig idiomatisch. Zum Beispiel, wenn Janes Blick an seine „Physiognomie geheftet“ ist. An anderer Stelle übersetzt sie „she now came upon the scene“ mit „ Jetzt erschien sie auf der Scene“ oder „What the deuce is to do now?“ mit „Was zum Teufel ist jetzt zu machen?“. Außerdem haben es einige Halbsätze schlicht nicht in ihre Übersetzung geschafft – es fehlen also hier und da wichtige inhaltliche Nuancen. Zwar ist die Übersetzung schnell und günstig erhältlich, wird aber oftmals von den jeweiligen Herausgebern überarbeitet, sodass man mitunter nicht sicher sein kann, welchen Text man da eigentlich vor sich liegen hat.
Auch die Übersetzungen von Helmut Kossodo oder Gottfried Röckelein sind nicht zu empfehlen. Erstere, weil auch sie zu stark verknappt wurde (es ist erstaunlich, dass der Insel Verlag die Übersetzung überhaupt noch verkauft), und natürlich wegen der Übersetzung des alles entscheidenden Satzes. Letztere, weil Röckelein zu harschen Übersteigerungen neigt, die letztlich nicht dem Text, und schon gar nicht seiner Erzählerin dienen. Und wir hatten zu Beginn der Übersetzungskritik ja festgestellt, dass gerade im Fall von Jane Eyre jedes noch so kleine Detail der Zeichnung der Hauptfigur dient.
Die Übersetzung von Melanie Walz ist stilistisch leider ebenfalls an einigen Stellen uneben. Dennoch bietet sie mit dem Kommentar der Übersetzerin einen guten Zugang zum Text und lässt sich trotz einiger Ausflüge in die Vergangenheit des deutschen Sprachgebrauchs recht gut lesen. Deutlich besser liest sich jedoch Andrea Otts manchmal etwas ungewöhnliche, aber doch selbstbewusst-unabhängige Übersetzung.
In Otts Übertragung stechen hin und wieder einige Entscheidungen besonders hervor – das aber vor allem im direkten Vergleich mit dem Original und anderen Übersetzungen. Würde man ihre Fassung nur für sich lesen, würde ich behaupten, dass so manch eine Eigentümlichkeit gar nicht weiter auffallen würde. Tatsächlich führt ihre Übersetzung einigermaßen eindrücklich vor Augen, was eine Neuübersetzung im Idealfall zu leisten vermag: nämlich einen geliebten Text in frischer Sprache neu oder wieder zu entdecken.
Wer sich an den Anfang dieser ausführlichen Besprechung erinnert, fragt sich nun vielleicht: Und was ist mit Ingrid Reins Übersetzung? An der gibt es meiner Meinung nach wenig auszusetzen. Tatsächlich ist ihre Übersetzung fünfundzwanzig Jahre älter als die zuletzt erschienene Neuübersetzung, was man ihr aber kaum anmerkt. Reins Version wirkt mitunter frischer als manch eine nachfolgende. Gute Nachrichten also! Meine erste Jane-Eyre-Übersetzung ist mitsamt aller erhellenden Anmerkungen der Übersetzerin genauso fesselnd, wie ich sie in Erinnerung hatte. Und darf weiterhin in meinem Regal stehen.
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