Wel­che Über­set­zung soll ich lesen? – Jane Eyre

Charlotte Brontës „Jane Eyre“ ist weltweit einer der am meisten übersetzten Klassiker. Über zwanzig Mal wurde der Roman allein ins Deutsche übertragen. Doch welche Übersetzung lohnt sich? Von

Die Autorin Charlotte Brontë, porträtiert von Evert A. Duyckinck. Bild: Unsplash.
Die Autorin Charlotte Brontë, porträtiert von Evert A. Duyckinck. Bild: Unsplash.

Wie ent­schei­det man, wel­che Über­set­zung man liest? Vor die­ser Fra­ge dürf­ten die meis­ten von uns irgend­wann ste­hen. Oft ist der Zufall aus­schlag­ge­bend: Wir lesen die Über­set­zung, die der Buch­la­den unse­res Ver­trau­ens ver­kauft. Manch­mal lesen wir die Über­set­zung, die bei Eltern oder Freund:innen im Regal steht. Oder wir lesen die Über­set­zung, die als Geschenk unterm Weih­nachts­baum liegt.

Mei­ne Jane-Eyre-Über­set­zung gehör­te eigent­lich mei­ner Tan­te. Ich hat­te als Teen­ager Aus­schnit­te einer Ver­fil­mung im Fern­se­hen gese­hen und in der Fami­lie gefragt, ob jemand die­se Jane Eyre ken­ne. Beim nächs­ten Besuch brach­te mir mei­ne Tan­te den Roman mit, der seit­dem in mei­nem Besitz ist. Dass es sich bei der Aus­ga­be nicht nur um irgend­ei­ne, son­dern kon­kret um die Über­set­zung von Ingrid Rein han­delt, fand ich erst her­aus, als ich das Buch für die­sen Bei­trag aus dem Regal holte.

Jane Eyre steht in sehr vie­len Bücher­re­ga­len die­ser Welt. Literaturwissenschaftler:innen schät­zen, dass der Roman über 600 Mal über­setzt wur­de und das in über 60 Spra­chen. Allein im Deut­schen gibt es wohl über zwan­zig Über­set­zun­gen und Bear­bei­tun­gen. Mir hät­ten damals also vie­le ande­re Jane-Eyre-Über­set­zun­gen in die Hän­de fal­len kön­nen. Es war aber viel­leicht ein Glücks­fall, dass es die Über­set­zung von Ingrid Rein war.

Denn unab­hän­gig davon, wie ich die­se Fas­sung aus heu­ti­ger Sicht bewer­ten wür­de, ist eines klar: Ich konn­te den Roman damals dank man­geln­der Sprach­kennt­nis­se nur in der Über­set­zung ent­de­cken. Und dass mich das Buch wie so vie­le Ande­re in den Bann der Bron­të-Schwes­tern gezo­gen hat, ver­dan­ke ich sei­ner Über­set­ze­rin. Jane Eyre wur­de bis Ende des 20. Jahr­hun­derts wie so vie­le Klas­si­ker gekürzt, adap­tiert oder gar gänz­lich umge­schrie­ben. Ver­mut­lich hät­te ich mit einer „Johan­na Ehre“ – so deutsch­te man den Namen in einer der ers­ten Über­set­zun­gen ein – weni­ger anfan­gen kön­nen als mit Reins moder­ner Heldin.

Char­lot­te Bron­tës zwei­ter Roman Jane Eyre war bereits kurz nach sei­ner Erst­ver­öf­fent­li­chung im Jahr 1847 ein Hit. Wil­liam M. Tha­ckeray (des­sen Toch­ter berich­te­te, ganz Lon­don habe das Buch nicht weg­le­gen kön­nen) bezeich­ne­te den Roman als das „Meis­ter­werk eines gro­ßen Genies“. Sei­ne Autorin, deren wah­re Iden­ti­tät man trotz ihres Pseud­onyms „Cur­rer Bell“ nach dem Tod der Schwes­tern schnell auf­deck­te, wur­de über Nacht berühmt. Ers­te Über­set­zun­gen erschie­nen nur weni­ge Mona­te nach Erschei­nen der Erst­aus­ga­be. Auch in Deutsch­land, wo Bücher aus Eng­land in Mode waren, wur­de bereits 1848 eine ers­te Über­set­zung veröffentlicht.

Laut der Lite­ra­tur­wis­sen­schaft­le­rin Lyn­ne Tat­lock gehör­te Jane Eyre damit also bereits um 1900 zur Stan­dard­lek­tü­re der Deut­schen, obgleich vie­le nur Zugang zu stark gekürz­ten Ver­sio­nen hat­ten. Der Text wur­de als Büh­nen­stück auf­be­rei­tet, was zu dem Erfolg bei­trug. Beliebt waren außer­dem Adap­tio­nen für Kin­der und Jugend­li­che, in denen die  deli­ka­ten oder kon­tro­ver­sen Stel­len gestri­chen wur­den. Eine sol­che Pra­xis war nicht nur in Deutsch­land weit ver­brei­tet; auch in vie­len ande­ren Kul­tur­räu­men pass­te man den Text den jewei­li­gen Zwe­cken und Ziel­grup­pen an, wie das Oxfor­der For­schungs­pro­jekt „Pris­ma­tic Jane Eyre“ anschau­lich auf­zeigt. Jane Eyre ver­fügt als Über­set­zung gewis­ser­ma­ßen über ein Eigen­le­ben, das nicht immer vie­le Gemein­sam­kei­ten mit Char­lot­te Bron­tës Ori­gi­nal aufweist.

Aktu­ell sind etwa sechs deut­sche Über­set­zun­gen von Jane Eyre im Han­del erhält­lich. Die Ältes­te stammt von Maria von Borch, die im 19. Jahr­hun­dert vor allem skan­di­na­vi­sche Lite­ra­tur (dar­un­ter sehr viel von Hen­rik Ibsen) ins Deut­sche brach­te. Ihre Über­set­zung erschien um 1887 bei Reclam und wird noch immer von klei­ne­ren Ver­la­gen ver­legt. Außer­dem ist sie auf Guten­berg ein­seh­bar. Alle wei­te­ren hier von mir bespro­che­nen Über­set­zun­gen sind in den letz­ten fünf­zig Jah­ren ent­stan­den. Ingrid Reins Über­set­zung wur­de 1990 eben­falls von Reclam ver­legt und im Rah­men der „Klassikerinnen“-Reihe neu auf­ge­legt. Die Über­set­ze­rin ver­füg­te zu dem Zeit­punkt bereits über Bron­të-Erfah­rung; nur vier Jah­re zuvor hat­te sie näm­lich Emi­ly Bron­tës Sturm­hö­he neu übersetzt.

1998 leg­te dtv mit einer wei­te­ren Über­set­zung von Gott­fried Röckel­ein nach, die noch immer ver­legt wird. Hel­mut Kos­sodo hat­te Jane Eyre in den Sieb­zi­gern über­setzt; sei­ne Fas­sung (Insel Ver­lag) war noch lan­ge im Umlauf und ist auch noch immer als Taschen­buch­aus­ga­be erhält­lich. Inzwi­schen hat der Insel Ver­lag eine Über­tra­gung von Mela­nie Walz (2015) her­aus­ge­bracht, bei der es sich gewis­ser­ma­ßen um die aktu­ells­te Neu­über­set­zung han­delt. Außer­dem gibt es noch die Über­set­zung von Andrea Ott, die 2001 bei Manes­se erschien. 

Bei all die­sen Übersetzer:innen han­delt es sich um Pro­fis. Wer gern eng­li­sche Klas­si­ker liest, soll­te sich die Namen notie­ren, denn gemein­sam sind sie für sehr vie­le Neu­über­set­zun­gen der ver­gan­ge­nen Jah­re ver­ant­wort­lich. Ob Jane Aus­ten, Geor­ge Eli­ot oder Hen­ry James – vie­le ihrer Wer­ke stam­men auf Deutsch aus der Feder von den genann­ten Übersetzer:innen. Neben den erwähn­ten Jane-Eyre-Über­set­zun­gen gibt es noch min­des­tens zehn wei­te­re Fas­sun­gen. In die­sem Bei­trag berück­sich­ti­ge ich aber nur Über­set­zun­gen, die der­zeit auf ein­fa­chem Wege zu kau­fen sind.

Wer die Geschich­te bereits kennt, kann die nächs­ten zwei Absät­ze gern über­sprin­gen. Für alle Jane-Eyre-Neu­lin­ge hier aber eine kur­ze Ein­füh­rung in den Roman, bevor wir uns den Über­set­zun­gen wid­men: Die Fra­ge, wel­che Art von Roman Jane Eyre ist, beschäf­tigt die Lite­ra­tur­wis­sen­schaft schon seit Jahr­zehn­ten. Es han­delt sich im wei­tes­ten Sin­ne um einen Bil­dungs­ro­man: Jane wächst als Wai­se (der Roman ist auch unter dem Titel Die Wai­se von Lowood bekannt) im Haus ihrer kalt­her­zi­gen Tan­te Mrs. Reed auf, wo sie von ihren Cou­sins schi­ka­niert wird. Nach einer Aus­ein­an­der­set­zung schickt man sie auf die Mäd­chen­schu­le Lowood, die von Typhus heim­ge­sucht und von dem Geist­li­chen Mr. Brock­le­hurst streng geführt wird. Jane erhält dort zwar wenig zu essen, bekommt aber Zugang zu einer soli­den Aus­bil­dung. Mit 18 Jah­ren ver­lässt sie schließ­lich das Inter­nat, um in Thorn­field Hall als Gou­ver­nan­te zu arbeiten.

Thorn­field Hall gehört einem gewis­sen Mr. Roches­ter, der sich als Byro­nic Hero ent­puppt – er ist von mür­ri­scher Natur und trägt eini­ge dunk­le Geheim­nis­se mit sich; Jane ver­liebt sich trotz­dem in ihren Haus­her­ren. In Thorn­field Hall kommt es zu merk­wür­di­gen Vor­fäl­len: Immer wie­der hört Jane nachts ein selt­sa­mes Geläch­ter, eines Abends fan­gen Roches­ters Bett­vor­hän­ge Feu­er und ein Besu­cher wird atta­ckiert. Der Roman zählt damit auch zur Schau­er­li­te­ra­tur, die in Eng­land eine gro­ße Tra­di­ti­on hat. Anders als ihre Vorgänger:innen wie Hor­ace Wal­po­le oder Ann Rad­clif­fe ver­legt Bron­të den Schau­platz des Grau­ens jedoch in das häus­li­che Set­ting ihres Hei­mat­lands, und gibt ihm einen rea­len Ursprung: Es ist Roches­ters weg­ge­sperr­te Ehe­frau, die in Thorn­field Hall ihr Umwe­sen treibt und von ihm als „ver­rückt“ ein­ge­stuft wird. Als Jane am Tag der geplan­ten Hoch­zeit mit Mr. Roches­ter davon erfährt, läuft sie über Nacht davon. 

Trotz aller Wid­rig­kei­ten han­delt es sich bei Jane Eyre um eine der gro­ßen Lie­bes­ge­schich­ten der Welt­li­te­ra­tur, und die tief emp­fun­de­nen Emo­tio­nen der bei­den Figu­ren schla­gen sich auch in der Spra­che nie­der, die schon manch einem vik­to­ria­ni­schen Kri­ti­ker stel­len­wei­se zu viel war. Dass Jane Eyre jedoch immer wie­der neue Leser:innen fin­det, liegt vor allem an der eigen­tüm­li­chen und fas­zi­nie­ren­den Erzähl­stim­me. Die gro­ße Vir­gi­nia Woolf hat­te beim wie­der­hol­ten Lesen von Jane Eyre zunächst Angst, dass die Haupt­fi­gur alt­ba­cken und zu vik­to­ria­nisch rüber­kom­men wür­de – das Gegen­teil war jedoch der Fall. 

Gut hun­dert Jah­re nach Woolfs Urteil dürf­ten auch moder­ne Leser:innen welt­weit den Zugang zum Text vor allem über sei­ne Ich-Erzäh­le­rin fin­den. Roma­ne in der Ich-Form waren kei­ne Sel­ten­heit, aber kaum eine Stim­me hat für so viel Furo­re gesorgt wie Jane Eyre. Man mun­kel­te sogar, dass Dickens sei­nen David Cop­per­field ähn­lich kon­stru­iert hät­te (was die­sem gar nicht gefiel, denn er konn­te mit den Bron­të-Schwes­tern nichts anfan­gen). Wenn wir uns die Über­set­zun­gen anschau­en, ist es erstre­bens­wert, genau das im Hin­ter­kopf zu behal­ten: Jane Eyre ist nichts ohne Jane Eyre. Oder wie die Über­set­zungs­wis­sen­schaft­le­rin Katha­ri­na Reiß bekräf­tigt: „Jedes geschil­der­te Ereig­nis im Roman, jede Figur, jede dar­ge­stell­te Land­schaft dient der Kon­tu­rie­rung der weib­li­chen Haupt­fi­gur und muss in eben­die­sem Licht gewer­tet werden.“

Einen ers­ten Ein­druck der Über­set­zun­gen erhält man, wenn man sich zunächst einen der wohl berühm­tes­ten Jane-Eyre-Sät­ze über­haupt anschaut. Am Ende des Romans (Ach­tung Spoi­ler) fin­den Jane und Mr. Roches­ter wie­der zuein­an­der. Das letz­te Kapi­tel des Romans beginnt daher wie folgt.

Rea­der, I mar­ried him.

Mein teu­rer Leser, ich hei­ra­te­te ihn. (Maria von Borch, 1887)
Lie­ber Leser, wir haben gehei­ra­tet. (Hel­mut Kos­sodo, 1979)
Lie­ber Leser, ich habe ihn gehei­ra­tet. (Ingrid Rein, 1990)
Lie­be Leser: Ich hei­ra­te­te ihn. (Gott­fried Röckel­ein, 1998)
Ich habe ihn gehei­ra­tet, lie­ber Leser. (Andrea Ott, 2001)
Leser, ich habe ihn gehei­ra­tet. (Mela­nie Walz, 2015)

Und die­ser eine Satz hat es in den Über­set­zun­gen in sich. Eini­ge Din­ge dürf­ten auf­merk­sa­men Leser:innen direkt ins Auge sprin­gen. Fan­gen wir aber mit dem Offen­sicht­li­chen an: In der Über­set­zung von Hel­mut Kos­sodo wird aus dem „ich“ ein „wir“. Nun könn­te man argu­men­tie­ren, dass Jane vor eini­gen Kapi­teln auf­ge­zeigt hat, dass sie und Mr. Roches­ter gleich­be­rech­tigt sind. Das „wir“ wür­de dem­nach bei­spiels­wei­se Gemein­schaft sug­ge­rie­ren, wäre es an eben die­ser Stel­le nicht so völ­lig fehl am Platz.

Streng genom­men könn­te man Kos­sodos Über­set­zung direkt weg­le­gen, denn offen­bar ist dem Über­set­zer die Essenz des Romans ent­gan­gen. Als finan­zi­ell unab­hän­gi­ge Frau, die weni­ge Kapi­tel zuvor Tei­le ihrer Fami­lie wie­der­ent­deckt hat, braucht Jane Eyre kei­nen Ehe­mann, sagt sie doch über sich selbst: „Ich bin ein frei­er Mensch mit einem eige­nen Wil­len“ (Walz). Und die­ser eige­ne Wil­le macht Jane zu einer der fas­zi­nie­rends­ten Hel­din­nen der eng­lisch­spra­chi­gen Lite­ra­tur­ge­schich­te – und den Text zu einem der ers­ten (auch wenn das in der Lite­ra­tur­wis­sen­schaft durch­aus umstrit­ten ist) femi­nis­ti­schen Romane. 

Inter­es­sant ist in dem Satz auch der „Leser“. Es han­delt sich dabei kei­nes­wegs um die ein­zi­ge Leser­an­spra­che in dem Roman; die Anspra­che wird hin und wie­der ver­wen­det, um vor Augen zu füh­ren, dass Jane in ihrer fik­ti­ven Welt ihre Auto­bio­gra­phie (der Roman trägt auch den Unter­ti­tel „An Auto­bio­gra­phy“) schreibt. Mela­nie Walz hat den Satz wort­wört­lich über­setzt. Ihr „Leser“ wirkt im Deut­schen aber doch recht karg, fast schon abge­hackt. Womög­lich war die Über­le­gung, dass auch im Eng­li­schen das gän­gi­ge „dear“ vor „rea­der“ fehlt und der Satz viel­leicht gera­de des­halb so mar­kant ist.

Im Sin­ne der Natür­lich­keit haben sich aber alle ande­ren Übersetzer:innen dazu ent­schie­den, den „Leser“ mit einem Zusatz zu ver­se­hen. Auf­merk­sa­men Kritiker.innen wird zudem auf­fal­len, dass immer von „Leser“ die Rede ist, obgleich im Deut­schen natür­lich auch das Wort „Lese­rin“ exis­tiert. Der Begriff „Rea­der“ ist im Eng­li­schen viel neu­tra­ler, und in ihren Anmer­kun­gen schreibt Walz, dass Bron­të den Roman zunächst unter der männ­li­chen Pseud­onym ver­öf­fent­licht und mög­li­cher­wei­se auch ein männ­li­ches Publi­kum vor Augen hat­te. Den­noch darf man die Fra­ge stel­len, ob nicht inzwi­schen geschlech­ter­ge­rech­te Spra­che an die­ser Stel­le ange­bracht wäre – zumal ein Groß­teil des Lese­pu­bli­kums von Jane Eyre noch immer pri­mär weib­lich sein dürfte.

Aber wid­men wir uns schö­ne­ren The­men, näm­lich der Gram­ma­tik und dem Satz­bau. Gott­fried Röckel­ein und Maria von Borch über­set­zen hier im Prä­ter­itum, die rest­li­chen Übersetzer:innen grei­fen zum Per­fekt. Letz­te­res sorgt dafür, dass der Satz weni­ger steif wirkt und sogar auf eine gewis­se Münd­lich­keit ver­weist. Man kann das direkt tes­ten, indem man den Satz laut liest – „habe gehei­ra­tet“ wird dabei deut­lich weni­ger Pro­ble­me berei­ten als „hei­ra­te­te“. In Jane Eyre wird ohne­hin viel gere­det, und auch hier „spricht“ Jane, nur eben nicht mit einer ande­ren Figur, son­dern mit dem „Leser“. 

Sehr auf­fäl­lig ist an die­ser Stel­le auch, dass Andrea Ott den „Leser“ ans Ende des Sat­zes schiebt. Der Satz­bau wird also gewis­ser­ma­ßen umge­kehrt. Das führt jedoch lei­der dazu, dass der „Leser“ in ihrer Ver­si­on ein biss­chen unter­geht und die Dekla­ra­ti­on abge­schwächt wird. Grund­sätz­lich zeigt die­ser ein­zel­ne Satz aller­dings schon ein wich­ti­ges Merk­mal von ihrer Über­set­zung auf: Otts Über­tra­gung ist ten­den­zi­ell die frei­es­te. Mit­un­ter war ich über­rascht, was sie aus eini­gen Sät­zen gemacht hat, ohne dabei jedoch die Ver­bin­dung zum Ori­gi­nal­text zu kappen.

Mit die­sen ers­ten Ein­drü­cken im Hin­ter­kopf schau­en wir auf einen wei­te­ren Text­aus­schnitt. An die­ser Stel­le beschreibt Jane ihr Ver­hält­nis zu Adè­le, dem „Mün­del“ von Mr. Rochester:

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She made reasonable pro­gress, enter­tai­ned for me a viva­cious, though per­haps not very pro­found, affec­tion; and by her sim­pli­ci­ty, gay pratt­le, and efforts to plea­se, inspi­red me, in return, with a degree of attach­ment suf­fi­ci­ent to make us both con­tent in each other’s socie­ty. This, par paren­t­hè­se, will be thought cool lan­guage by per­sons who enter­tain solemn doc­tri­nes about the ange­lic natu­re of child­ren , and the duty of tho­se char­ged with their edu­ca­ti­on to con­cei­ve for them an ido­latrous devo­ti­on: but I am not wri­ting to flat­ter paren­tal ego­tism , to echo cant , or prop up hum­bug; I am mere­ly tel­ling the truth.

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Sie mach­te ziem­lich gute Fort­schrit­te, heg­te für mich eine leb­haf­te, wenn auch nicht sehr tief­ge­hen­de Nei­gung, und flöß­te mir ihrer­seits durch ihre Nai­ve­tät, ihr fröh­li­ches Plau­dern und ihre Bemü­hun­gen, mir zu gefal­len, einen Grad von Lie­be ein, wel­cher hin­reich­te, um uns ein gewis­ses Beha­gen an unse­rer gegen­sei­ti­gen Gesell­schaft fin­den zu las­sen. Leu­te, wel­che hei­li­gen Dok­tri­nen über die engel­glei­che Natur der Kin­der hul­di­gen und ver­lan­gen, daß jene, wel­chen ihre Erzie­hung anver­traut ist, eine abgöt­ti­sche Lie­be für die­sel­ben hegen sol­len, wer­den – in Paren­the­se gesagt – mei­ne Wor­te für kalt und gefühl­los hal­ten; aber ich schrei­be nicht, um dem elter­li­chen Ego­is­mus zu schmei­cheln, um Kau­der­welsch und Unsinn nach­zu­be­ten oder Hum­bug zu unter­stüt­zen, – ich erzäh­le nur die Wahrheit.

Maria von Borch, 1887

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Sie mach­te nor­ma­le Fort­schrit­te und hat­te eine leb­haf­te, wenn viel­leicht auch nicht sehr tie­fe Zunei­gung zu mir gefaßt. Und ich moch­te ihre Unge­zwun­gen­heit, ihr fröh­li­ches Geplap­per, ihre Bemü­hun­gen, mir gefäl­lig zu sein: und so kamen wir gut mit­ein­an­der aus. Leu­te, die stets fei­er­lich ver­kün­den, daß ihre Kin­der klei­ne Engel sind und daß die mit ihrer Erzie­hung Beauf­trag­ten sie eigent­lich anhim­meln soll­ten, wer­den mei­ne Wor­te recht kühl fin­den. Aber ich schrei­be nicht, um elter­li­chen Ego­is­mus zu unter­stüt­zen; ich sage ein­fach die Wahrheit.

Hel­mut Kos­sodo, 1979

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Sie mach­te annehm­ba­re Fort­schrit­te und hat­te ein leb­haf­te, wenn auch viel­leicht nicht sehr tie­fe Zunei­gung zu mir gefaßt; und durch ihr Bemü­hen, es mir recht zu machen, weck­te sie auch in mir ein Gefühl der Zunei­gung, das so stark war, daß ich mich in ihrer Gesell­schaft eben­so wohl fühl­te wie sie sich in meiner.
Leu­te – dies par paren­thé­se -, die ernst­haft der Über­zeu­gung anhän­gen, Kin­der sei­en Engel und die mit ihrer Erzie­hung Beauf­trag­ten müß­ten ihnen abgöt­ti­sche Ver­eh­rung ent­ge­gen­brin­gen, wer­den mei­ne Wor­te recht kühl und nüch­tern fin­den. Aber ich schrei­be nicht, um elter­li­cher Selbst­ge­fäl­lig­keit zu schmei­cheln, Heu­che­lei­en zu ver­brei­ten oder irgend­wel­chem Unsinn Vor­schub zu leis­ten; ich sage nur die Wahrheit.

Ingrid Rein, 1990

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Sie mach­te brauch­ba­re Fort­schrit­te, heg­te eine leb­haf­te, wenn viel­leicht auch nicht gera­de tief­emp­fun­de­ne Zunei­gung zu mir und rief im Gegen­zug durch ihre Unkom­pli­ziert­heit, ihr mun­te­res Geschnat­ter und ihre Bemü­hun­gen, mir zu gefal­len, ein gewis­ses Maß an Anteil­nah­me bei mir her­vor, wel­ches aus­reich­te, damit wir uns bei­de in Gesell­schaft der ande­ren wohl fühl­ten. Dies wird – par paren­t­hè­se – von Men­schen, die erha­be­nen Dok­tri­nen von der engels­glei­chen Natur der Kin­der anhän­gen und von der Pflicht derer, die mit ihrer Erzie­hung betraut sind, den­sel­ben eine ver­göt­tern­de Hin­ga­be ent­ge­gen­zu­brin­gen, als kühl und distan­ziert emp­fun­den wer­den. Aber ich schrei­be hier ja nicht, um elter­li­cher Selbst­ge­fäl­lig­keit zu schmei­cheln, um abge­dro­sche­ne Phra­sen und schein­hei­li­ges Gere­de nach­zu­plap­pern oder irgend­wel­chen Unfug zu unter­stüt­zen. Ich erzäh­le nichts wei­ter als die Wahrheit.

Gott­fried Röckel­ein, 1998

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Sie mach­te ver­nünf­ti­ge Fort­schrit­te, brach­te mir eine leb­haf­te, wenn auch nicht gera­de tie­fe Zunei­gung ent­ge­gen und ent­fach­te mit ihrem schlich­ten Gemüt, ihrem fröh­li­chen Geplap­per und ihrem Bemü­hen, mir zu gefal­len, wie­der­um eine Zunei­gung in mir, die groß genug war, dass wir uns bei­de mit­ein­an­der wohl­fühl­ten. Das mag, neben­bei gesagt, in den Ohren von Men­schen, die einer heh­ren Lehr­mei­nung von der engel­haf­ten kind­li­chen Natur und der Pflicht ihrer Erzie­her zu deren Ver­göt­te­rung anhän­gen, gefühl­los klin­gen; aber ich schrei­be nicht, um elter­li­chem Ego­is­mus zu schmei­cheln, schein­hei­li­ges Gere­de nach­zu­be­ten oder Unsinn zu unter­stüt­zen, ich sage nur die Wahrheit.

Andrea Ott, 2001

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Sie mach­te gute Fort­schrit­te und bezeig­te mir eine leb­haf­te, wenn viel­leicht auch nicht all­zu tie­fe Zunei­gung; und ihre unge­küns­tel­te Art, ihr mun­te­res Geplap­per und ihr Bemü­hen, es mir recht zu machen, flöß­ten mir wie­der­um eine Zunei­gung ein, die genüg­te, unse­re Gesell­schaft für uns bei­de erfreu­lich zu machen.
Dies mag par paren­t­hè­se all jenen herz­los erschei­nen, denen die engels­glei­che Natur von Kin­dern Glau­bens­satz ist und die es als die Pflicht der­je­ni­gen betrach­ten, die für deren Erzie­hung ver­ant­wort­lich sind, sie abgöt­tisch zu lie­ben; doch ich schrei­be nicht, um elter­li­chem Ego­is­mus zu schmei­cheln, lie­be­die­ne­ri­sche Sprüch­lein nach­zu­be­ten oder Hum­bug zu unter­stüt­zen; ich sage nur die Wahrheit.

Mela­nie Walz, 2015

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Was Jane da beschreibt, dürf­te noch heu­te manch einen auf­hor­chen las­sen: Eine Frau, die zugibt, dass sie Kin­der ganz in Ord­nung fin­det, aber mehr auch nicht? Char­lot­te Bron­të ver­packt das alles in eine sehr dich­te Spra­che. Schon die vik­to­ria­ni­sche Leser­schaft emp­fand den Stil der Bron­tës mit­un­ter als gewöh­nungs­be­dürf­tig, ein biss­chen ver­trackt oder – abge­se­hen von den emo­ti­ons­ge­la­de­nen Dia­lo­gen – sogar etwas alt­ba­cken. Die Ein­schü­be und die Zei­chen­set­zung sind zudem für die recht kom­ple­xen Gedan­ken­gän­ge nicht immer von Vor­teil; der Hang zur Bil­dungs­spra­che („par paren­t­hè­se“) auch nicht. Gleich­zei­tig wirkt Bron­tës Sprach­ge­brauch an die­ser Stel­le, wo ihre Erzäh­le­rin sich selbst als unvor­ein­ge­nom­me­ne Beob­ach­te­rin (sie sagt ja nur die Wahr­heit!) sti­li­siert, auch kraft­voll und zielgerichtet. 

Maria von Borch ahmt in ihrer Über­set­zung, dabei vor allem im ers­ten Teil, den Satz­bau recht akri­bisch nach und lässt ihn trotz sei­ner Län­ge in einem umständ­lich for­mu­lier­ten Neben­satz („um uns ein gewis­ses Beha­gen an unse­rer gegen­sei­ti­gen Gesell­schaft fin­den zu las­sen“) enden. Im zwei­ten Teil zieht sie den Ein­schub („par paren­t­hè­se“) zwar nach hin­ten, aber das dürf­te kaum die Les­bar­keit erhö­hen. Man müss­te die Stel­le mehr­mals lesen, um sie in Gän­ze zu begreifen.

In eine ganz ande­re Rich­tung schlägt hin­ge­gen die Über­set­zung von Hel­mut Kos­sodo, die wir eigent­lich ein­gangs schon zur Sei­te gelegt hat­ten. Hier lie­fert er uns einen wei­te­ren Grund, sei­ne Über­set­zung nicht zur Hand zu neh­men: Bei sei­nen Kolleg:innen fällt der Absatz näm­lich deut­lich län­ger aus als das Ori­gi­nal, bei ihm wird jedoch alles etwas kür­zer. Das betrifft zum einen sei­ne Sät­ze. Die­se lässt er dan­kens­wer­ter Wei­se öfter mal in einem Punkt statt einem Kom­ma enden, aber die sich wie­der­ho­len­den „und“-Konstruktionen sind auch kei­ne beson­ders gefäl­li­ge Lösung. Außer­dem lässt er eini­ge inhalt­li­che Din­ge unter den Tisch fal­len. War­um wur­de bei­spiels­wei­se der Kli­max „to flat­ter paren­tal ego­tism, to echo cant, or prop up hum­bug“ nicht voll­stän­dig übersetzt?

Bei der Über­set­zung von Gott­fried Röckel­ein ste­chen ande­re Ele­men­te her­vor. Zum Bei­spiel ten­diert der Über­set­zer gene­rell zu star­ken Adjek­ti­ven. Von „abge­dro­sche­nen Phra­sen“ oder “schein­hei­li­gem Gere­de” wird hier erzählt; „kühl und distan­ziert“ ist die „cool lan­guage“. Sol­che Ver­stär­kun­gen mögen an der zitier­ten Stel­le nicht stö­ren, fal­len mit Blick auf die Gesamt­über­set­zung aber doch nega­tiv auf. So wird Jane von ihrem tyran­ni­schen Cou­sin in Röckel­eins Über­set­zung als „Mist­stück“ („bad ani­mal“, von ande­ren mit „Biest“ über­setzt) bezeich­net. An ande­rer Stel­le ist von „Luder“ die Rede, obwohl im Ori­gi­nal an der Stel­le „rat“ („Rat­te“) steht – um das zu kon­tex­tua­li­sie­ren: Jane wird von ihrem Cou­sin gemobbt, sie ist aber erst zehn; ihr Cou­sin weni­ge Jah­re älter. „Misstück“ ist da ein selt­sa­mes Schimpf­wort. Noch schlim­mer ist ledig­lich die Stel­le, an der Röckel­ein sie als „unat­trak­tiv“ (im Ori­gi­nal steht an der Stel­le „qua­ke­rish“) bezeich­net. Jane Eyre ist laut den Beschrei­bun­gen kei­ne kon­ven­tio­nel­le Schön­heit – das Gegen­teil ist der Fall – aber das macht sie noch lan­ge nicht „unat­trak­tiv“, zumal bei sei­ner Über­set­zung des Wor­tes „qua­ke­rish“ noch ganz ande­re Nuan­cen ver­lo­ren gehen.

Auch Andrea Ott weiß eige­ne Akzen­te zu set­zen. Das gestelz­te „par paren­t­hè­se“ scheint in ihrer Über­set­zung auf den ers­ten Blick zunächst ver­schwun­den zu sein, wird aber durch den recht ele­gan­ten Ein­schub „neben­bei gesagt“ auf­ge­grif­fen. Danach taucht plötz­lich die „heh­re Lehr­mei­nung“ auf. In ande­ren Über­set­zun­gen sind das die „erha­be­nen“ oder gar „hei­li­gen Dok­tri­nen“. Ott hält sie also nicht blind an den Aus­gangs­text, nimmt aber alles mit, was das Ori­gi­nal zu bie­ten hat – zumeist ohne Bedeutungsverlust.

Auch Mela­nie Walz hat als Über­set­ze­rin schon vie­le alte Tex­te vom Staub befreit. Das gelingt ihr oft­mals durch eine „Weniger-ist-mehr“-Herangehensweise, wie wir bereits bei der ers­ten zitier­ten Stel­le sehen konn­ten. Ihre Jane-Eyre-Über­set­zung schwankt jedoch zwi­schen bemer­kens­wer­ter Schlicht­heit und mit­un­ter merk­wür­dig umständ­li­chen, alter­tüm­li­chen For­mu­lie­run­gen wie „bezeig­te mir“ oder „unse­re Gesell­schaft für uns bei­de erfreu­lich zu machen“. Auch die Über­set­zung „lie­be­die­ne­ri­sche Sprüch­lein“ klingt wie aus dem Mund von Mrs. Reed, Jane Eyres Tan­te, und nicht von der Prot­ago­nis­tin selbst.

Am sichers­ten wird die­ser Absatz von Ingrid Rein über­setzt, die ins­ge­samt ein aus­ge­präg­tes Gespür für Tem­po und Rhyth­mus hat. Im ers­ten Satz sind die Bezü­ge und die Ver­bin­dun­gen viel deut­li­cher als in ande­ren Über­set­zun­gen, zum einen durch die klar mar­kier­te Atem­pau­se nach dem „gefaßt“, die sich stark am Ori­gi­nal ori­en­tiert. Zum ande­ren wird der Satz nicht durch schlecht plat­zier­te Ein­schü­be über­frach­tet. Und auch bei der Wort­wahl gibt es nichts zu bemän­geln; Rein legt kei­ne Hol­per­stei­ne in den Weg, die uns stut­zig machen könnten. 

Neben sol­chen Auf­fäl­lig­kei­ten in der Syn­tax und im Aus­druck gibt es einen wei­te­ren über­set­ze­ri­schen Aspekt in Jane Eyre, mit dem man sicher­lich eine Dis­ser­ta­ti­on fül­len könn­te, näm­lich die Ver­wen­dung von Sie­zen und Duzen. Mary Frank hat dar­über einen gan­zen Auf­satz geschrie­ben, in dem sie sich die Über­set­zun­gen von Mela­nie Walz, Hel­mut Kos­sodo und Maria von Borch anschaut und dort beob­ach­tet, wie sich Ein­satz von „Sie“ und „du“ bei­spiels­wei­se mit dem Ver­hält­nis zwi­schen Jane und Mr. Roches­ter ver­än­dert. In die­ser Hin­sicht hat das Deut­sche manch­mal dem Eng­li­schen etwas vor­aus, weil so Zwi­schen­tö­ne hör­bar sind, die der Erzäh­lung auf beson­de­re Art und Wei­se die­nen kön­nen. Wie bei­spiels­wei­se hier: 

“What do you want?” I asked, with awk­ward dif­fi­dence.
“Say, ‘What do you want, Mas­ter Reed?’” was the answer.

»Da bin ich, was wünscht Ihr?« frag­te ich mit schlecht erheu­chel­ter Gleich­gül­tig­keit.
»Sag: was wün­schen Sie, Mr. Reed,« lau­te­te sei­ne Ant­wort.
(Maria von Borch, 1887)

»Was willst du?« frag­te ich ver­le­gen und miß­trau­isch. »Sag ›Was wün­schen Sie, Mas­ter Reed?‹« war die Ant­wort (Hel­mut Kos­sodo, 1979)

»Was willst du?« frag­te ich zag­haft und ver­le­gen. »Das heißt: ›Was wün­schen Sie, Mas­ter Reed‹«, lau­te­te die Ant­wort. (Ingrid Rein, 1990)

»Was willst du?« frag­te ich unbe­hol­fen und schüch­tern. »Das heißt: ›Was wün­schen Sie, Mas­ter Reed‹«, lau­te­te die Ant­wort. (Gott­fried Röckel­ein, 1998)

«Was wol­len Sie?», frag­te ich unbe­hol­fen und schüch­tern. «Sag: ‹Was wün­schen Sie, Mas­ter Reed?›», gab er zur Ant­wort. (Andrea Ott, 2001)

»Was willst du?«, frag­te ich lin­kisch und schüch­tern. »Das heißt: ›Was wol­len Sie, Mas­ter Reed?‹«, lau­te­te die Ant­wort. (Mela­nie Walz, 2015)

Nicht weni­ger inter­es­sant wäre es, die Über­set­zun­gen mit Blick auf die Dar­stel­lung von Kolo­nia­lis­mus und Ras­sis­mus zu lesen. Dass der Plot von Jane Eyre mit den kolo­nia­len Ambi­tio­nen des Bri­ti­schen Welt­reichs eng ver­knüpft war, hat erst die post­ko­lo­nia­le Wen­de in der eng­lisch­spra­chi­gen Lite­ra­tur­wis­sen­schaft wirk­lich ins Ram­pen­licht gerückt. Mr. Roches­ters ers­te Ehe­frau Ber­tha Jor­kins stammt aus Jamai­ca; Jane wie­der­um erbt Geld von ihrem Onkel in Madei­ra und wird gefragt, ob sie als Mis­sio­nars­frau nach Indi­en rei­sen möchte. 

Das Über­le­gen­heits­ge­fühl der Bri­ten äußer­te sich jedoch nicht nur über ter­ri­to­ria­le Expan­sio­nen oder kolo­nia­len Reich­tum, son­dern auch über prak­ti­zier­ten Ori­en­ta­lis­mus in den eige­nen vier Wän­den, der Mit­te des 19. Jahr­hun­derts kei­nes­wegs unge­wöhn­lich war. Mr. Roches­ter lädt zu sich eine Gefolg­schaft, bestehend aus Janes Riva­lin Ms. Ing­ram, nach Thorn­field Hall ein. Dort ver­gnügt man sicher auf vie­ler­lei Art und Wei­sen, unter ande­rem mit Verkleiden:

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Sea­ted on the car­pet, by the side of this basin, was seen Mr . Roches­ter, cos­tu­med in shawls, with a tur­ban on his head. His dark eyes and swarthy skin and Pay­nim fea­tures sui­ted the cos­tu­me exact­ly: he loo­ked the very model of an Eas­tern emir, an agent or a vic­tim of the bowstring.

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Zur Sei­te die­ses Mar­mor­bas­sins saß auf dem Tep­pich Mr. Roches­ter, in Shawls gehüllt, einen Tur­ban auf dem Kop­fe. Sei­ne dunk­len Augen, die bräun­li­che Haut­far­be, sei­ne heid­ni­schen Gesichts­zü­ge paß­ten aus­ge­zeich­net zu die­sem Kos­tüm. Er war das gelun­gens­te Bild eines ori­en­ta­li­schen Emirs; der Absen­der oder das aus­er­ko­re­ne Opfer eines Pfeils.

Maria von Borch, 1887

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Neben der Wan­ne, auf dem Tep­pich, saß Herr Roches­ter. Er hat­te sich in Schals gehüllt und trug einen Tur­ban. Sei­ne dunk­len Augen, sei­ne Gesichts­far­be und sei­ne heid­ni­schen Züge paß­ten aus­ge­zeich­net zu dem Kos­tüm. Er sah ganz wie ein Emir aus dem Mor­gen­lan­de aus.

Hel­mut Kos­sodo, 1979

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Auf dem Tep­pich neben die­sem Becken saß Mr. Roches­ter, in Tücher gehüllt und einen Tur­ban auf dem Kopf. Sei­ne schwar­zen Augen, sei­ne dunk­le Haut und ori­en­ta­li­schen Züge paß­ten her­vor­ra­gend zu dem Kos­tüm. Er sah ganz wie ein mor­gen­län­di­scher Emir aus, ein Gebie­ter oder ein Opfer der sei­den­den Schnur.

Ingrid Rein, 1990

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Auf dem Tep­pich neben die­sem Bas­sin sit­zend, war Mr. Roches­ter zu sehen, mit Tüchern und einem Tur­ban ange­tan. Sei­ne dunk­len Augen, der dunk­le Teint und die musel­ma­ni­schen Gesichts­zü­ge paß­ten her­vor­ra­gend zur Kos­tü­mie­rung. Er sah haar­ge­nau wie ein ori­en­ta­li­scher Emir aus, wie ein Voll­stre­cker oder ein Opfer der Sei­den­schnur, dem bevor­zug­ten tür­ki­schen Exekutionsutensil.

Gott­fried Röckel­ein, 1998

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Auf dem Tep­pich neben dem Becken saß Mr. Roches­ter, in Schals gewan­det und mit einem Tur­ban auf dem Kopf. Die dunk­len Augen, die brau­ne Haut und die ein wenig öst­li­chen Gesichts­zü­ge pass­ten her­vor­ra­gend zu sei­nem Kos­tüm; er sah aus wie der Inbe­griff eines ara­bi­schen Wür­den­trä­gers, der mit einer sei­de­nen Schnur erdros­selt wer­den soll oder jemand ande­ren erdros­seln will.

Andrea Ott, 2001

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Neben die­sem Becken saß Mr. Roches­ter auf dem Tep­pich, in Schals gehüllt und einen Tur­ban auf dem Kopf. Sei­ne schwar­zen Augen, sei­ne dunk­le Haut und sei­ne moham­me­da­ni­schen Züge pass­ten her­vor­ra­gend zu der Kos­tü­mie­rung: er sah aus wie das Ide­al­bild eines ori­en­ta­li­schen Emirs, eines Über­brin­gers oder eines Opfers der sei­de­nen Schnur.

Mela­nie Walz, 2015

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Die Per­so­nen­be­schrei­bun­gen funk­tio­nie­ren in Jane Eyre oft­mals über die Ein­ord­nung der Haut­far­be. Häu­fig wer­den Frau­en, die Jane als Bedro­hung emp­fin­det, als „dark“ bzw. „dun­kel“ bezeich­net, bei­spiels­wei­se Mrs. Reed oder Ms. Ing­ram. Auch Mr. Roches­ters Haut­far­be wird als „dun­kel“ (Walz); „braun“ (Ott) oder „bräun­lich“ (von Borch) beschrie­ben. In der Über­set­zung von Kos­sodo fehlt das Adjek­tiv, auch in der Über­set­zung von Maria von Borch wird auf einen sol­chen Zusatz hin und wie­der ver­zich­tet. Ob die­se Ein­ord­nung von Mr. Roches­ter posi­tiv oder nega­tiv zu lesen ist, wur­de in der Lite­ra­tur­wis­sen­schaft viel debat­tiert. In jedem Fall fin­det eine Exo­ti­sie­rung statt, die gleich­zei­tig auch sei­ne grim­me Männ­lich­keit verstärkt.

Denn Mr. Roches­ter ist ein „ori­en­ta­li­scher Emir“ oder „ara­bi­scher Wür­den­trä­ger“, wie es bei Andrea Ott heißt. Er herrscht nicht nur über Thorn­field Hall; er herrscht gewis­ser­ma­ßen auch über Jane und ist ihr „Mas­ter“, gewis­ser­ma­ßen also auch eine poten­ti­el­le Gefah­ren­quel­le. Die Beschrei­bung wird durch die „Pay­nim fea­tures“ zusätz­lich ver­stärkt. Das Wort „Pay­nim“ ist in sei­ner Bedeu­tung nicht ganz ein­deu­tig und bezeich­net eine nicht-christ­li­che, in vie­len Fäl­len mus­li­mi­sche Per­son. Dar­aus ergibt sich auch die Band­brei­te an Bedeu­tun­gen in den ver­schie­de­nen Über­set­zun­gen. Dort ist von „heid­ni­schen“ (Kos­sodo), „ori­en­ta­li­schen“ (Rein), „musel­ma­ni­schen“ (Röckel­ein) oder  „öst­li­chen“ (Ott) Zügen die Rede. Auch eine Über­set­zung wie „moham­me­da­ni­schen“ (Walz) ist kei­nes­wegs abwe­gig, son­dern recht kon­se­quent. Mr. Roches­ter wird näm­lich noch an zwei ande­ren Stel­len der­art charakterisiert. 

Für eine wei­te­re über­set­ze­ri­sche Her­aus­for­de­rung sorgt in dem Absatz der Ver­weis auf eine „Schnur“ oder einen „Pfeil“ (von Borch) ganz am Ende des letz­ten Sat­zes. Was ist damit gemeint? Röckel­ein hat sei­ner Über­set­zung eine Erklä­rung hin­zu­ge­fügt und spricht von dem „bevor­zug­ten tür­ki­schen Exe­ku­ti­ons­uten­sil“. Hel­mut Kos­sodo hin­ge­gen hat sei­ne bevor­zug­te Über­set­zungs­stra­te­gie ange­wandt und den Halb­satz direkt unter­schla­gen, wäh­rend Andrea Ott den Satz recht anschau­lich und expli­zit auf­drö­selt. Dan­kens­wer­ter­wei­se gibt es auch Über­set­zun­gen wie die von Ingrid Rein, die mit einem Anmer­kungs­ap­pa­rat ver­se­hen ist. Ohne eine sol­che Anmer­kung dürf­te der Teil­satz in vie­len Über­set­zun­gen schlicht­weg untergehen. 

Schau­en wir uns noch eine letz­te Stel­le an, bevor wir zu einem fina­len Urteil kom­men. Bei der fol­gen­den Sze­ne han­delt es sich um einen der frü­hen Schlüs­sel­mo­men­te zwi­schen Jane und Mr Rochester:

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He had been loo­king two minu­tes at the fire, and I had been loo­king the same length of time at him, when, tur­ning sud­den­ly, he caught my gaze fas­ten­ed on his phy­sio­gno­my. “You exami­ne me, Miss Eyre,” said he: “do you think me hand­so­me?” I should, if I had deli­be­ra­ted, have repli­ed to this ques­ti­on by some­thing con­ven­tio­nal­ly vague and poli­te; but the ans­wer somehow slip­ped from my ton­gue befo­re I was awa­re — “No, sir.” “Ah! By my word! the­re is some­thing sin­gu­lar about you,” said he: “you have the air of a litt­le non­net­te; quaint, quiet, gra­ve, and simp­le, as you sit with your hands befo­re you, and your eyes gene­ral­ly bent on the car­pet (except, by-the-bye, when they are direc­ted pier­cin­g­ly to my face; as just now, for ins­tance); and when one asks you a ques­ti­on, or makes a remark to which you are obli­ged to rep­ly, you rap out a round rejoin­der, which, if not blunt, is at least brusque. What do you mean by it?”
“Sir, I was too plain; I beg your par­don. I ought to have repli­ed that it was not easy to give an impromp­tu ans­wer to a ques­ti­on about appearan­ces; that tas­tes most­ly dif­fer; and that beau­ty is of litt­le con­se­quence, or some­thing of that sort.” “You ought to have repli­ed no such thing. Beau­ty of litt­le con­se­quence, indeed! […]”

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Zwei Minu­ten hat­te er ins Feu­er geblickt, und eben­so lan­ge hat­te ich ihn ange­se­hen – da wand­te er sich plötz­lich um und erhasch­te mei­nen Blick, der auf sei­ne Phy­sio­gno­mie gehef­tet gewe­sen. »Sie prü­fen mein Gesicht, Miß Eyre,« sag­te er, »fin­den Sie mich schön?« Wenn ich über­legt hät­te, so wür­de ich auf die­se Fra­ge mit irgend einer kon­ven­tio­nel­len Höf­lich­keit geant­wor­tet haben; aber ehe ich selbst es recht wuß­te, ent­schlüpf­te die Ant­wort mei­nen Lip­pen: »Nein, Sir!« »Ah! Auf mein Ehren­wort, Sie haben etwas ganz eigen­tüm­li­ches,« sag­te er, »Sie sehen aus wie eine klei­ne Non­ne; ein­fach, ruhig, ernst und selbst­be­wußt, wie Sie so mit gefal­te­ten Hän­den da sit­zen und die Bli­cke gewöhn­lich auf den Tep­pich hef­ten – aus­ge­nom­men, neben­bei gesagt, wenn sie durch­drin­gend auf mei­nem Gesicht ruhen wie eben jetzt zum Bei­spiel – und wenn man dann eine Fra­ge an Sie rich­tet oder eine Bemer­kung macht, auf wel­che Sie zu ant­wor­ten gezwun­gen sind, so kom­men Sie mit einer Ent­geg­nung, die, wenn auch nicht gera­de grob, so doch wenigs­tens brüsk ist. Was bezwe­cken Sie eigent­lich damit?«
»Sir, ich war wohl zu deut­lich. Ich bit­te um Ent­schul­di­gung. Ich hät­te ant­wor­ten müs­sen, daß es nicht so leicht ist, eine Steg­reif-Ant­wort auf eine Fra­ge über äuße­re Erschei­nung zu geben; daß der Geschmack ver­schie­den ist; daß Schön­heit wenig bedeu­tet, oder irgend etwas ähnliches.«
»Nein, Sie hät­ten durch­aus nichts ähn­li­ches ant­wor­ten müs­sen. Schön­heit wenig bedeu­ten! In der That! […]«

Maria von Borch, 1887

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Er hat­te eini­ge Minu­ten lang ins Feu­er geschaut, und ich hat­te ihn wäh­rend die­ser Zeit betrach­tet, als er sich plötz­lich umwand­te und mei­nen Blick wahr­nahm. »Sie schau­en mich prü­fend an, Fräu­lein Eyre«, sag­te er. »Fin­den Sie mich schön?« Wenn ich es mir über­legt hät­te, wäre mei­ne Ant­wort vage und höf­lich aus­ge­fal­len, aber irgend­wie rutsch­te es aus mir her­aus, ehe ich mir des­sen voll bewußt war: »Nein, Herr Roches­ter«. »Ach! Sieh mal an! Es ist doch merk­wür­dig mit Ihnen«, sag­te er. »Sie sehen aus wie ein klei­nes Nönn­lein; sitt­sam, ruhig, ernst und ein­fäl­tig sit­zen Sie da, die Hän­de im Schoß und den Blick auf den Boden gehef­tet (wenn Sie mir nicht gera­de, wie jetzt, ins Gesicht star­ren); und wenn man Ihnen eine Fra­ge stellt oder eine Bemer­kung macht, die eine Ant­wort for­dert, dann plat­zen Sie mit einer schlag­fer­ti­gen Ent­geg­nung her­aus, die, wenn auch nicht gera­de grob, so doch immer­hin schroff ist. Was mei­nen Sie damit?« »Bit­te ent­schul­di­gen Sie mich. Ich war zu offen. Ich hät­te sagen sol­len, daß es nicht leicht ist, auf eine sol­che Fra­ge aus dem Steg­reif zu ant­wor­ten, daß die Geschmä­cker ver­schie­den sind und daß Schön­heit kei­ne gro­ße Bedeu­tung hat oder der­glei­chen.« »Nein, so hät­ten Sie nicht ant­wor­ten sol­len! Schön­heit kei­ne gro­ße Bedeu­tung! Was Sie nicht sagen! […]«

Hel­mut Kos­sodo, 1979

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Er hat­te eini­ge Zeit ins Feu­er geschaut, und ich hat­te ihn wäh­rend­des­sen ein­ge­hend betrach­tet. Als er sich plötz­lich umwand­te, bemerk­te er, daß mein Blick auf ihm ruh­te. »Sie sehen mich so prü­fend an, Miss Eyre«, sag­te er. »Fin­den Sie, daß ich gut aus­se­he?« Hät­te ich ein wenig über­legt, so wäre mei­ne Ant­wort aus­wei­chend und höf­lich aus­ge­fal­len, wie es bei sol­chen Fra­gen nun ein­mal üblich ist; aber irgend­wie rutsch­te sie mir her­aus, ehe ich mir des­sen rich­tig bewußt war: »Nein, Sir.« »Ach, es ist doch merk­wür­dig mit Ihnen«, sag­te er. »Wenn sie so mit gefal­te­ten Hän­den dasit­zen, den Blick auf den Tep­pich gerich­tet (sofern Sie mich nicht gera­de damit durch­boh­ren wie eben jetzt zum Bei­spiel), sehen sie aus wie eine non­net­te – sitt­sam, ruhig, ernst und schlicht. Stellt man Ihnen aber eine Fra­ge oder macht man eine Bemer­kung, auf die Sie etwas erwi­dern müs­sen, dann plat­zen Sie mit einer unver­blümt offe­nen Ant­wort her­aus, die, wenn auch nicht gera­de grob, so doch recht schroff ist. Was mei­nen Sie damit?“ »Ich war vor­schnell, Sir, bit­te ver­zei­hen Sie. Ich hät­te sagen sol­len, daß es nicht leicht ist, eine Fra­ge über das Äuße­re eines Men­schen aus dem Steg­reif zu beant­wor­ten, daß sich über Geschmack strei­ten läßt und daß Schön­heit kei­ne gro­ße Bedeu­tung zukommt oder etwas Ähn­li­ches.« »Nichts der­glei­chen hät­ten Sie ant­wor­ten sol­len. Schön­heit kei­ne gro­ße Bedeu­tung! Was Sie nicht sagen! […]«

Ingrid Rein, 1990

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»Sie taxie­ren mich, Miss Eyre«, sag­te er. »Hal­ten Sie mich für gut­aus­se­hend?« Hät­te ich zuvor über­legt, hät­te ich die­se Fra­ge auf die gän­gi­ge Wei­se irgend­wie aus­wei­chend und höf­lich beant­wor­tet. So aber ent­schlüpf­te es mir ein­fach, ehe ich es rich­tig bemerk­te: »Nein, Sir.« »Ach! So wahr ich Roches­ter hei­ße: Sie sind wirk­lich ein­ma­lig«, sag­te er. »Sie haben einer­seits etwas von einer non­net­te an sich, wie Sie so drol­lig, still, ernst und brav mit den Hän­den auf dem Schoß dasit­zen, den Blick zumeist auf den Tep­pich gesenkt (es sei denn, natür­lich, Sie rich­ten ihn gera­de ste­chend auf mein Gesicht, wie bei­spiels­wei­se vor­hin). Aber wenn man Ihnen ande­rer­seits eine Fra­ge stellt oder eine Bemer­kung macht, auf die Sie reagie­ren müs­sen, dann knal­len Sie einem eine direk­te Ent­geg­nung hin, die, wenn nicht barsch und grob, dann zumin­dest brüsk ist. Was bezwe­cken Sie damit?« »Sir, ich war ein­fach zu frei­her­aus; ich bit­te um Ver­zei­hung. Ich hät­te ent­geg­nen sol­len, daß eine Fra­ge nach dem äuße­ren Erschei­nungs­bild aus dem Steg­reif nicht so ohne wei­te­res zu beant­wor­ten ist, daß man sich über Geschmack strei­ten kann, daß es auf Schön­heit letzt­lich nicht ankommt oder irgend etwas in die­ser Art.« »Sie hät­ten nichts der­glei­chen ent­geg­nen sol­len. ›Auf Schön­heit kommt es letzt­lich nicht an‹ – daß ich nicht lache!

Gott­fried Röckel­ein, 1998

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Er hat­te minu­ten­lang ins Feu­er geblickt, und ich hat­te ihn die gan­ze Zeit ange­schaut. Nun wand­te er sich abrupt um und fing mei­nen Blick auf, der unver­wandt auf sei­nem Gesicht ruh­te. «Sie schau­en mich so prü­fend an, Miss Eyre», sag­te er, «fin­den Sie, dass ich gut aus­se­he?» Bei eini­ger Beson­nen­heit hät­te ich auf die­se Fra­ge kon­ven­tio­nell unver­bind­lich und höf­lich geant­wor­tet, aber irgend­wie rutsch­te mir unver­se­hens ein «Nein, Sir» her­aus. «Ach! Sie sind wahr­haf­tig unge­wöhn­lich!», sag­te er. «Wenn Sie so dasit­zen, die Hän­de im Schoß und die Augen in der Regel auf den Tep­pich gerich­tet (außer ab und zu, wenn Sie mir ins Gesicht star­ren, wie zum Bei­spiel eben jetzt), sehen Sie aus wie ein Nönn­chen, put­zig, still, ernst und beschei­den, doch kaum fragt man Sie etwas oder macht eine Bemer­kung, die eine Stel­lung­nah­me erfor­dert, sto­ßen Sie eine unver­blüm­te Ant­wort her­vor, die, wenn nicht gera­de grob, so doch zumin­dest schroff ist. Was wol­len Sie mir sagen?» «Sir, ich war zu deut­lich, ich bit­te um Ver­zei­hung. Ich hät­te ant­wor­ten sol­len, dass es nicht leicht sei, aus dem Steg­reif auf Fra­gen nach dem Aus­se­hen zu ant­wor­ten, dass der Geschmack ver­schie­den und Schön­heit bedeu­tungs­los ist oder etwas in der Art.» «Nichts der­glei­chen hät­ten Sie ant­wor­ten sol­len! Schön­heit bedeu­tungs­los, na, so was!

Andrea Ott, 2001

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Er hat­te seit zwei Minu­ten ins Feu­er geblickt, und ich hat­te ihn in die­ser Zeit ange­se­hen, als er sich plötz­lich umwand­te und mich dabei ertapp­te, dass ich sein Gesicht beob­ach­te­te. »Sie stu­die­ren mich, Miss Eyre«, sag­te er. »Sehe ich für Ihre Begrif­fe gut aus?« Hät­te ich über­legt, hät­te ich gewiss eine vage und höf­li­che Aller­welts­ant­wort gege­ben, doch die Ant­wort ent­schlüpf­te mir unwill­kür­lich, bevor ich es gewahr wur­de: »Nein, Sir.« »Ha! Mei­ner Treu! Sie sind eine selt­sa­me Per­son«, sag­te er. »Sie wir­ken wie eine klei­ne non­net­te, so alt­mo­disch, still und ernst­haft, wie Sie da sit­zen, die Hän­de im Schoß und den Blick für gewöhn­lich auf den Tep­pich gesenkt (übri­gens, außer er ist durch­drin­gend auf mein Gesicht gerich­tet wie in eben­die­sem Augen­blick), und wenn man Ihnen eine Fra­ge stellt oder eine Bemer­kung macht, auf die Sie ant­wor­ten müs­sen, war­ten Sie mit einer unver­blüm­ten Erwi­de­rung auf, die brüsk ist, wenn schon nicht grob. Was wol­len Sie mit Ihrem Nein sagen?« »Sir, ich war zu offen; ver­zei­hen Sie. Ich hät­te erwi­dern müs­sen, es sei nicht leicht, aus dem Steg­reif eine Fra­ge über Äußer­lich­kei­ten zu beant­wor­ten, Schön­heit habe wenig zu bedeu­ten und der­glei­chen mehr.« »Sie hät­ten nichts der­glei­chen erwi­dern sol­len. Schön­heit habe nichts zu bedeu­ten, wahrhaftig!

Mela­nie Walz, 2015

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Was Jane Eyre als Hel­din aus­zeich­net, ist an die­ser Stel­le deut­lich erkenn­bar. Es hält sich das Gerücht, dass Frau­en in den ver­gan­ge­nen Jahr­hun­der­ten vor allem still in der Ecke geses­sen hät­ten. Und in man­chen vik­to­ria­ni­schen Roma­nen ist das tat­säch­lich so – man den­ke nur an Dickens Angel in the House Agnes Wick­field oder die blas­se Amy Dor­rit. Auch Jane Eyre kennt ihren Platz in der Gesell­schaft (daher ver­sucht sie, ihre Aus­sa­ge zu revi­die­ren) und ist in vie­ler­lei Hin­sicht eine Außen­sei­te­rin. Trotz­dem nimmt sie sel­ten ein Blatt vor den Mund und hat mehr Rück­grat als alle ande­ren Figu­ren in dem Roman.

Vor allem in den cle­ve­ren Dia­lo­gen ist Jane Eyre daher bei aller emo­tio­na­len Auf­rich­tig­keit auch sehr wit­zig und unter­halt­sam. Und man darf erleich­tert fest­stel­len, dass Jane und Mr. Roches­ter in all den hier bespro­che­nen Über­set­zun­gen eini­ger­ma­ßen über­zeu­gend flir­ten. Stut­zig wird man höchs­tens bei dem her­vor­ste­chen­den „drol­lig“ in Röckel­eins Über­set­zung oder dem „put­zig“ bei Andrea Ott. Das eng­li­sche „quaint“ mag ja vie­le Bedeu­tun­gen haben, aber „alt­mo­disch“ (Walz) oder „sitt­sam“ (Rein) dürf­te es bes­ser treffen. 

Auf­fäl­lig ist hier außer­dem, dass in der Kos­sodo-Über­set­zung von „Herr Roches­ter“ und „Fräu­lein Eyre“ die Rede ist. Das mar­kiert sei­ne Über­set­zung noch deut­li­cher als aus der Zeit gefal­len. Und auch sonst las­sen sich hier eini­ge ande­re, bereits ange­schnit­te­ne Sym­pto­me wie­der­fin­den. So „knallt“ Jane in Röckel­eins Über­set­zung Mr Roches­ter eine „Ent­geg­nung“ hin, die nicht nur „barsch“, son­dern auch „grob“ ist. Man neigt mal wie­der leicht zur Über­trei­bung. Kein Wun­der also, dass der Insel Ver­lag eine Neu­über­set­zung in Auf­trag gege­ben hat.

Doch auch sei­ne Nach­fol­ge­rin Mela­nie Walz kramt mit „Mei­ner Treu!“ noch eine wei­te­re alt­deut­sche Bezeich­nung her­vor, die recht fehl am Platz wirkt. Außer­dem klingt das „bevor ich es gewahr wur­de“ eben­falls sehr gestelzt. Gleich­zei­tig über­setzt sie „the­re is some­thing sin­gu­lar about you“ recht gerad­li­nig mit „Sie sind eine selt­sa­me Per­son“, viel­leicht um die Balan­ce zu halten.

Nicht beson­ders über­zeu­gend ist die Über­set­zung von Maria von Borch. War­um, wird an der zitier­ten Stel­le deut­lich: Die Über­set­zung ist erstaun­lich nah am Ori­gi­nal, klingt dadurch aber mit­un­ter im Deut­schen wenig idio­ma­tisch. Zum Bei­spiel, wenn Janes Blick an sei­ne „Phy­sio­gno­mie gehef­tet“ ist. An ande­rer Stel­le über­setzt sie „she now came upon the sce­ne“ mit „ Jetzt erschien sie auf der Sce­ne“ oder „What the deuce is to do now?“ mit „Was zum Teu­fel ist jetzt zu machen?“. Außer­dem haben es eini­ge Halb­sät­ze schlicht nicht in ihre Über­set­zung geschafft – es feh­len also hier und da wich­ti­ge inhalt­li­che Nuan­cen. Zwar ist die Über­set­zung schnell und güns­tig erhält­lich, wird aber oft­mals von den jewei­li­gen Her­aus­ge­bern über­ar­bei­tet, sodass man mit­un­ter nicht sicher sein kann, wel­chen Text man da eigent­lich vor sich lie­gen hat.

Auch die Über­set­zun­gen von Hel­mut Kos­sodo oder Gott­fried Röckel­ein sind nicht zu emp­feh­len. Ers­te­re, weil auch sie zu stark ver­knappt wur­de (es ist erstaun­lich, dass der Insel Ver­lag die Über­set­zung über­haupt noch ver­kauft), und natür­lich wegen der Über­set­zung des alles ent­schei­den­den Sat­zes. Letz­te­re, weil Röckel­ein zu har­schen Über­stei­ge­run­gen neigt, die letzt­lich nicht dem Text, und schon gar nicht sei­ner Erzäh­le­rin die­nen. Und wir hat­ten zu Beginn der Über­set­zungs­kri­tik ja fest­ge­stellt, dass gera­de im Fall von Jane Eyre jedes noch so klei­ne Detail der Zeich­nung der Haupt­fi­gur dient.

Die Über­set­zung von Mela­nie Walz ist sti­lis­tisch lei­der eben­falls an eini­gen Stel­len uneben. Den­noch bie­tet sie mit dem Kom­men­tar der Über­set­ze­rin einen guten Zugang zum Text und lässt sich trotz eini­ger Aus­flü­ge in die Ver­gan­gen­heit des deut­schen Sprach­ge­brauchs recht gut lesen. Deut­lich bes­ser liest sich jedoch Andrea Otts manch­mal etwas unge­wöhn­li­che, aber doch selbst­be­wusst-unab­hän­gi­ge Übersetzung. 

In Otts Über­tra­gung ste­chen hin und wie­der eini­ge Ent­schei­dun­gen beson­ders her­vor – das aber vor allem im direk­ten Ver­gleich mit dem Ori­gi­nal und ande­ren Über­set­zun­gen. Wür­de man ihre Fas­sung nur für sich lesen, wür­de ich behaup­ten, dass so manch eine Eigen­tüm­lich­keit gar nicht wei­ter auf­fal­len wür­de. Tat­säch­lich führt ihre Über­set­zung eini­ger­ma­ßen ein­drück­lich vor Augen, was eine Neu­über­set­zung im Ide­al­fall zu leis­ten ver­mag: näm­lich einen gelieb­ten Text in fri­scher Spra­che neu oder wie­der zu entdecken.

Wer sich an den Anfang die­ser aus­führ­li­chen Bespre­chung erin­nert, fragt sich nun viel­leicht: Und was ist mit Ingrid Reins Über­set­zung? An der gibt es mei­ner Mei­nung nach wenig aus­zu­set­zen. Tat­säch­lich ist ihre Über­set­zung fünf­und­zwan­zig Jah­re älter als die zuletzt erschie­ne­ne Neu­über­set­zung, was man ihr aber kaum anmerkt. Reins Ver­si­on wirkt mit­un­ter fri­scher als manch eine nach­fol­gen­de. Gute Nach­rich­ten also! Mei­ne ers­te Jane-Eyre-Über­set­zung ist mit­samt aller erhel­len­den Anmer­kun­gen der Über­set­ze­rin genau­so fes­selnd, wie ich sie in Erin­ne­rung hat­te. Und darf wei­ter­hin in mei­nem Regal stehen. 

Wei­te­re Bei­trä­ge der Rei­he „Wel­che Über­set­zung soll ich lesen“ fin­det ihr hier.


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