Stefano D’Arrigos 1975 erstmals veröffentlichter Roman Horcynus Orca ist das Ergebnis einer gigantischen Anstrengung. 1956 begann D’Arrigo mit der Arbeit an einem episch angelegten Text mit dem Titel La testa del delfino (Der Kopf des Delphins). Zwei Jahre darauf gewann er für zwei Auszüge aus dieser Prosa den Cino del Duca-Preis. Elio Vittorini, eines der Jurymitglieder, fragte D’Arrigo, ob er beide Texte in seiner Zeitschrift Il Menabò veröffentlichen wolle, und der Verleger Mondadori bot ihm einen Vertrag für das gesamte Manuskript an. 1960 erschienen die Auszüge dann in besagter Zeitschrift, jetzt unter dem Titel I giorni della fera (Die Tage der Fere). Italo Calvino, Mitherausgeber von Il Menabò, wünschte sich aufgrund der Komplexität der Begrifflichkeiten des Textes ein Glossar, aber D’Arrigo weigerte sich. Die Verlage Einaudi, Garzanti und Feltrinelli meldeten ebenfalls Interesse am ganzen Roman an, aber D’Arrigo blieb Mondadori treu.
1961, bei Abgabe des Manuskripts, gab es dann wieder einen neuen Titel, das Buch sollte jetzt I fatti della fera (Die Geschichten der Fere) heißen. Für die Durchsicht der Druckfahnen setzte Mondadori D’Arrigo eine Frist von vier Wochen. Allerdings nahm die Bearbeitung nicht weniger als fünfzehn Jahre in Anspruch. Erst 1975 erschien bei Mondadori der Roman unter dem endgültigen Titel Horcynus Orca.
Mit 80.000 verkauften Exemplaren wurde das Buch zum Bestseller. „Die italienische Antwort auf Moby Dick“, schrieb George Steiner 2003 im Corriere della Sera und hob insbesondere den Stil des Romans hervor: Der Autor verwendet den sizilianischen Dialekt, und das auf sehr originelle Weise, mit großem Feingefühl für die ästhetische Wirkung der Sprache. Worte und Motive wiederholen sich, aber die Sätze sind nie monoton: Sie wogen auf und ab wie das Meer, sind hervorgegangen aus dem Sizilien, das sie beschreiben und mythologisieren.
Wovon handelt Horcynus Orca? Der Roman erzählt vom Matrosen ’Ndrja Cambría und seiner viertägigen Reise durch „den Landstrich der Feminoten an den Meeren zwischen Skylla und Charybdis“ nach Sizilien. Die Geschichte spielt im Oktober 1943. ’Ndrja möchte zurück in sein Heimatdorf Cariddi und trifft unterwegs auf diverse Persönlichkeiten: einerseits die Fischer, die durch den Krieg ihre Lebensgrundlage verloren haben, andererseits die „Feminoten“, geheimnisumwobene, sirenenartige Frauengestalten. Sie sind die Einzigen, die den Männern übers Meer helfen können, da sämtliche Fähren zerstört worden sind. Nach einer kräftezehrenden Überfahrt findet ’Ndrja wieder zu seinem Vater, der inzwischen alt und krank ist.
Zur gleichen Zeit hält der titelgebende Orca Einzug in die Meerenge – eine schlechte Nachricht für die Fischer, weil sich der Wal vom Schwertfisch ernährt, ihrer Haupteinkommensquelle. Engländer und Delphine (im Roman „Feren“ genannt) greifen den Orca an, was ihm schweren Schaden zufügt. Aber aufatmen können die Fischer deswegen noch lange nicht, denn sie brauchen ein neues Boot. Da taucht eine seltsame Figur auf, der Malteser. Er schlägt ’Ndrja vor, an einer Regatta teilzunehmen, die die Engländer in Messina veranstalten. Mit dem Preisgeld könnte die Fischer sich ein neues Boot kaufen. Nach einer wortreichen Diskussion geht ’Ndrja auf das Angebot ein, wird aber, als er auf dem Meer ist, von einer englischen Wache erschossen.
Das ist, in groben Zügen, die Handlung des Romans. Aber ‘Ndrja ist nicht ihr einziger Protagonist, auch die Sprache spielt eine entscheidende Rolle. Sie ist völlig neuartig. In seiner Kritik schreibt George Steiner: „Bereits mit einem flüchtigen Blick erkannte ich, dass mein mittelmäßiges Italienisch dem Anspruch D’Arrigos nicht genügen würde.“ Dementsprechend verlangt einem auch die Übersetzung des Textes höchste Konzentration ab, wie Antonio Werli und Monique Baccelli, die beiden französischen Übersetzer:innen des Horcynus Orca, auf der Homepage ihres Verlages schreiben.
D’Arrigos Stil hat drei wesentliche Merkmale: erstens die vielfältige Variation des Registers (Umgangssprache, Fachjargon, …), zweitens zahlreiche Bezüge auf die Entwicklung der italienischen Sprache (Altitalienisch, die Sprechweise der Fischer, italinisierte Sizilianismen) und, drittens, unzählig Wortneuschöpfungen. Hinzu kommt die Schwierigkeit der Sätze selbst: ihre Grammatik, der wellenförmige Rhythmus der Sätze. Diese Herausforderungen machen die Übersetzung des Romans zu einem extrem schwierigen Unterfangen und es überrascht daher nicht, dass bisher nur zwei vollständige Übersetzungen vorliegen, nämlich die deutsche von Moshe Kahn, 2015 von S. Fischer veröffentlicht, und die französische von Antonio Werli und Monique Baccelli, 2023 bei Nouvel Attila erschienen.
Die Übersetzungsgeschichte des Horcynus Orca ist selbst schon eine Odyssee. Im Laufe der Jahre haben sich zahlreiche engagierte Übersetzer:innen daran versucht, die meisten von ihnen mussten ihren Traum allerdings wieder aufgeben. Das ist den Herausforderungen des Textes an sich geschuldet, aber auch den Bedenken der Verlagshäuser gegenüber dem Projekt, und dem Autor selbst, der seine Fristen zur Manuskriptabgabe einfach nicht einhalten konnte. 1960 wurde auf der Frankfurter Buchmesse ein Vertrag geschlossen, in dem vier internationale Verlage die Rechte an dem Roman erwarben: Piper (Deutschland), Éditions du Seuil (Frankreich), Harcourt Brace Jovanovich (für die englischsprachigen Länder) und Ediciones Grijalbo (Spanien). Allerdings bezog sich dieser Vertrag noch auf I fatti della fera, also den Text, den D’Arrigo während der kommenden 15 Jahre beständig erweitern und bearbeiten würde. Die endgültige Fassung war den Verlagen dann zu kompliziert, schien unübersetzbar. Daher gaben sie ihre Rechte wieder auf. Von da an war es einigen wenigen waghalsigen Übersetzer:innen überlassen, eine Heimat für dieses so einzigartige Werk der europäischen Literatur zu suchen.
Einer von ihnen war der für seine Camilleri-Übersetzungen bekannte US-Amerikaner Stephen Sartarelli. Im November 1986 teilte er D’Arrigo mit, dass er gerade ein Sample für den Verlag Weidenfeld & Nicholson übersetze, und dass der Verlag 200 bis 300 „unübersetzbare“ Seiten des Textes streichen wolle. Bedenkt man, dass D’Arrigo eventuellen Kürzungen seines Romans oft zurückhaltend gegenüberstand, ist es bemerkenswert, dass er der Idee seines amerikanischen Übersetzers zustimmte. Sartarelli und D’Arrigo bildeten ein vierhändiges Übersetzungs-„Komitee“. Man könnte sagen, dass der Autor seinen eigenen Text aus dem „Darrighianischen“ ins Italienische übersetzte, damit Sartarelli eine englische Entsprechung finden konnte.
Dieser D’Arrigo hat nichts mit dem durch die Kritik der damaligen Zeit propagierten Bild des Autors zu tun: In einer Rezension des Horcynus Orca schreibt Cesare Cases, D’Arrigo habe sich „so sehr in Literatur verwandelt, dass er nur noch Umgang mit seinen Figuren pflegte und seine eigene Frau nicht mehr wiedererkannte“. Ohne die Hilfe seiner Frau Jutta hätte er das Buch wohl niemals fertig geschrieben. Obwohl Sartarelli sich mühte, das Projekt zu einem sicheren Abschluss zu führen, bleibt seine Fassung unzugänglich, denn wie Moshe Kahn in einem im März 2018 veröffentlichten Interview erklärt, ging der Verlag durch schlechtes Management pleite. Eine anvisierte Zusammenarbeit mit New Directions, einem renommierten US-Verlag für übersetzte Literatur, führte ins Leere. Ob das Projekt fortgesetzt wird, steht in den Sternen.
Auch Moshe Kahn, der deutsche Übersetzer des Horcynus Orca, musste sich in Geduld üben, aber seine jahrzehntelangen Bemühungen wurden schließlich mit Erfolg gekrönt: Die Öffentlichkeit begrüßte die Veröffentlichung des letzten großen Romans aus dem 20. Jahrhundert; der Übersetzer selbst wurde mit dem Jane-Scatcherd-Preis und mit dem Deutsch-Italienischen Übersetzerpreis geehrt.
Im Nachwort seiner Übersetzung erzählt Kahn, wie er zum ersten Mal auf diesen Roman aufmerksam wurde. 1975 verbrachte er einige Wochen auf dem Landsitz seines Freundes Donato Sanminiatelli, einem Kunsthistoriker. Der erzählte ihm lebhaft von dem Roman, den er gerade las, und empfahl ihn ihm ebenfalls zur Lektüre. Allerdings fühlte sich Kahn, der zusammen mit Marcella Bagnasco immerhin schon Gedichte von Paul Celan vom Deutschen ins Italienische übersetzt hatte, noch nicht bereit für dieses Buch: „Zuerst musste ich noch mein Italienisch verbessern“, sagt er im Interview. 1979, nach dem Tod seines Freundes, fasste er dann den Entschluss, sich intensiv mit Horcynus Orca auseinanderzusetzen.
Er kam langsam voran, las einzelne Passagen wieder und wieder. „Als ich nach langer Lektüre schließlich ans Ende gelangte“, schreibt er in seinem Nachwort, „hatte ich das klare Bewusstsein, hier einen der fünf oder sechs ganz großen, außerordentlichen, nie vergehenden europäischen Romane des 20. Jahrhunderts in Händen zu halten.“ Zwei Jahre lang las er an dem Buch, und wollte den Autor dann unbedingt kennenlernen. Als er sich mit Mondadori in Verbindung setzte, sagte die Sekretärin zu ihm: „Sie haben dieses Buch wirklich gelesen? Ich habe es nur bis Seite 17 geschafft.“
Im Folgenden schloss der künftige deutsche Übersetzer des Horcynus Orca Freundschaft mit D’Arrigo und unternahm zwei Versuche, einen Verlag für den Roman zu finden: Suhrkamp sagte, der Autor sei „völlig unbekannt“ und das Unternehmen noch dazu „ein wirtschaftliches Risiko“. Und Hanser wollte wissen, ob er denn die negativen italienischen Kritiken gelesen habe. „Ich habe alle Kritiken gelesen“, gab Kahn zur Antwort, „im Gegensatz zu Ihnen, auch die positiven: von Pasolini, Levi und anderen Intellektuellen.“
Erst 23 Jahre später fand Kahn mit dem hochangesehenen Verleger Egon Ammann jemanden, der bereit war, sein Anliegen anzuhören. Diesmal hatte er Erfolg. Vorgesehen war die Übersetzung bereits für 2011, als Jubiläumsausgabe für den 30. Geburtstag des Verlags. Aber 2010 musste Ammann seine Arbeit aus gesundheitlichen Gründen einstellen. Zum Glück erlitt die Übersetzung dadurch keinen Schiffbruch: Ammann hatte das Projekt an S. Fischer weitergegeben, einen weitaus größeren Verlag, und das machte sich bemerkbar.
Die Rezeption war schlicht und ergreifend euphorisch – genau der Triumph, den D’Arrigo sich für Italien erhofft hatte. Die Literaturkritik war hellauf begeistert, „das letzte Meisterwerk des 20. Jahrhunderts“ entdeckt zu haben. Kahn erinnert sich an Hubert Spiegels Rezension im Deutschlandfunk, die noch vor Erscheinen des Buches gesendet wurde: „eine 25-minütige Lobeshymne“. Die erste Auflage war schnell ausverkauft. S. Fischer hatte nicht erwartet, mehr als 1000 Exemplare zu verkaufen, und sah sich gezwungen, eine weitere Auflage zu drucken.
Die Übersetzerin und Literaturwissenschaftlerin Daria Biagi schreibt in ihrem Artikel über Kahns Übersetzung, dieser würde D’Arrigos Stil weniger „übersetzen“ als ihn „bearbeiten“. Seine deutsche Fassung ist nur dem Anschein nach dialektal; sie ist archaisch, aber aus der Sprache ihrer Zeit wie auch aus D’Arrigos persönlichem Literaturkanon hervorgegangen, in dem Hölderlin eine wichtige Stellung einnimmt. Daher greift die Grammatik auch auf die griechische Syntax zurück. Kahn haucht D’Arrigos Poetik neues Leben ein, indem er den Etymologien deutscher Wörter nachgeht. In Hölderlins Sophokles- und Pindar-Übersetzungen stößt er auf ähnliche Strukturen, wie D’Arrigo sie in seinem italienischen Text einsetzt. Dadurch kann er die Distanz zwischen dem Italienischen, einer romanischen Sprache, und dem Deutschen, einer germanischen Sprache, überwinden. Er denkt sich keine neue Sprache aus, sondern „erfindet neu, indem er sich kontinuierlich auf die eigene literarische Tradition bezieht“, wie Daria Biagi in ihrem Artikel schreibt.
Bereits nach Erscheinen der deutschen Übersetzung erwähnt Moshe Kahn im Interview auch eine geplante französische Übersetzung von D’Arrigos Meisterwerk, die für 2018 vorgesehen sei. Fünf Jahre später, im Herbst 2023, war sie da. Ich habe mit Antonio Werli gesprochen, der den Roman zusammen mit Monique Baccelli ins Französische gebracht hat.
Im Nachwort Ihrer Ausgabe schreibt der Verleger Benoît Virot: „Jeder erinnert sich, wo er zum ersten Mal von Horcynus Orca gehört hat.“ Ich persönlich habe D’Arrigos Roman durch einen Artikel von Hubert Spiegel entdeckt, als ich gerade ein ödes Praktikum in einer Lokalzeitung absolvierte. Und Sie? Wie war Ihr erster Lektüreeindruck?
AW: Ich habe Stefano D’Arrigo zufällig entdeckt, vor ungefähr fünfzehn Jahren, als ich beim Onlinemagazin Fric Frac Club mitarbeitete und regelmäßig Beiträge schrieb. Dort sprachen wir oft über noch nicht ins Französische übersetzte Bücher oder unserer Meinung nach bedeutende, aber in der breiten Öffentlichkeit noch unbekannte Autoren. Es brauchte nicht viel mehr als einen knappen Kommentar zu Horcynus Orca auf einer italienischen Internetseite, schon war meine Neugier geweckt. Zur damaligen Zeit war der Roman in Italien nicht mehr lieferbar. Irgendwie paradox: Glaubte man den Kritiken, war das ein geniales Meisterwerk, das in seinem Heimatland aber schon seit Jahren nicht mehr zu finden war, in Frankreich oder anderen Ländern nahezu unbekannt, noch nie in eine andere Sprache übersetzt. Mehr brauchte ich nicht zu wissen, ich begab mich auf eine echte Schatzsuche!
Monatelang ging mir Horcynus Orca nicht aus dem Kopf, bis ich endlich ein PDF der Ausgabe von 1975 in die Finger bekam (danke, Internet!). Dass ich den Roman in der ersten Phase meiner Lektüre nach und nach durch meinen Bürodrucker jagte, machte ihn zweifellos nur noch faszinierender und rätselhafter. Ich fühlte mich privilegiert, Zugang zu einem der bestgehüteten Geheimnisse der Weltliteratur zu haben. Schon die ersten Seiten des Romans waren wunderschön: eine großartige, hochmusikalische Sprache, komplex und reich, aber absolut natürlich, lange, barocke Sätze, eindrückliche Bilder, eine „Opacité“ – um es mit Édouard Glissant zu sagen –, denn der Roman beeindruckte durch seine zahlreichen Neologismen, seine überraschenden Formulierungen, seine Gedankenvielfalt und das Gefühl, vollkommen in einem Erzählstrudel zu versinken. Auch wenn ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht an eine Übersetzung dachte: Ich war bereits vom Horcynus Orca besessen.
In einem Artikel in der Zeitschrift La matricule des anges schreiben Sie: „Man stelle sich etwas vor, das so weit und tief ist wie ein Ozean und so hoch und groß wie ein Berg. Und jetzt stelle man sich vor, dass man nur eines will: dieses Massiv durchqueren.“ Was hat Sie motiviert, dieses Projekt in Angriff zu nehmen? Und wie haben Sie einen Verlag gefunden, der bereit war, sich auf dieses wirtschaftliche Risiko einzulassen?
AW: Ich kannte Benoît Virot, den Verleger von Le Nouvel Attila, schon seit mehreren Jahren, und hatte für ihn gerade Aventuras de un novelista atonal übersetzt, einen urkomischen Roman des Argentiniers Alberto Laiseca. Ganz nebenbei: Dieses Buch erzählt von einem argentinischen Schriftsteller, der an einem monströsen Roman von über 2000 Seiten arbeitet, den ein verrückter und verzweifelter Verleger zur Veröffentlichung annimmt, mit dem einzigen Ziel, daran bankrott zu gehen. Doch dann wird das Buch ein unverhoffter Erfolg! In diesem Roman holt die Fiktion die Wirklichkeit ein: Laiseca selbst ist der Autor von Los Sorias, einer durchgeknallten 1500-Seiten-Dystopie, die in der modernen argentinischen Literatur als Klassiker gilt.
Jedenfalls legte ich Benoît dann eines schönen Tages meinen Fund vor, den Horcynus Orca. Als kleine Provokation und als Anspielung auf Laisecas Roman schlug ich ihm eine Veröffentlichung vor. Zu meiner großen Verblüffung kannte er den Orca bereits. Ich war nämlich nicht der Erste, der ihm davon erzählte: Monique Baccelli, die ebenfalls für Le Nouvel Attila als Übersetzerin tätig gewesen war, hatte sich einige Zeit zuvor mit D’Arrigos Roman an Benoît Virot gewandt. Also brachte er uns miteinander in Kontakt, damit wir eine Probeübersetzung anfertigen konnten. Was zuerst noch nach einer verrückten, ja unmöglichen Idee klang, entwickelte sich nach und nach zu einer ernsten Überlegung, das Buch zu übersetzen und zu veröffentlichen. Natürlich war uns klar, dass sich diese Sache lange hinziehen würde und wir große Opfer bringen müssten (in erster Linie finanzielle, was für den Verlag, aber auch für uns Übersetzer:innen galt), aber dank unserer geballten Motivation konnte wir sämtliche Hindernisse und Rückschläge überwinden. Ich glaube von ganzem Herzen, dass ein Übersetzer, ein Verleger nur einmal im Leben vor einer derartigen Herausforderung steht. Und natürlich waren wir alle drei absolut davon überzeugt, was für ein beeindruckendes, wichtiges Buch Horcynus Orca war. Unser Wunsch, ihn dem französischen Publikum näherzubringen, war größer als alles andere.
Eine Übersetzung zu zweit ist eine einzigartige Herangehensweise, aber auch nachvollziehbar, wenn man die Länge des italienischen Originaltextes – 1080 Seiten – bedenkt. Ich kann mir vorstellen, dass es hilfreich ist, die Arbeit gemeinsam anzugehen. Wie haben Sie diese Aufgabe bewältigt?
AW: Monique ist eine großartige, sehr erfahrene Übersetzerin. Zugegeben, ich selbst war noch ein „Nachwuchs-“Übersetzer, ganz schön beeindruckt von ihrer langen Karriere. Trotzdem fanden wir recht schnell einen Arbeitsmodus. Unser Vorgehen entsprach dabei unseren jeweiligen Fähigkeiten und Kenntnissen, die sich wunderbar ergänzten. Ich glaube, bei so einem anspruchsvollen Buch ist eine Co-Übersetzung wirklich sinnvoll (zumal uns das Zeit gespart hat, jedenfalls, wenn man mal vergleicht, wie viele Jahre Moshe Kahn bzw. Stephen Sartarelli an ihren Übersetzungen gesessen haben, und wir uns so bei dieser monumentalen Aufgabe nicht so einsam gefühlt haben).
Die Komplexität und Vielschichtigkeit von D’Arrigos Sprache sind das Ergebnis einer fast 15 Jahre lang andauernden Überarbeitung; sie vermischen die zahlreichen Varianten des Italienischen und erschaffen eine Satzstruktur und eine Erzählstimme, die ständig aus den Gleisen der Standardsprache springt. Ich meine, wir haben auch deshalb ein „dichteres“, „handfesteres“ Ergebnis erzielt, weil wir unser Textverständnis, unsere Leseeindrücke und unsere Deutungen ständig miteinander abgeglichen haben. Das hätten wir nicht geschafft, hätten sie oder ich das Buch alleine übersetzt. Monique war für einen beträchtlichen Teil des ersten Entwurfs verantwortlich; ich selbst habe eine beträchtliche Materialsammlung hinzugefügt und die meisten Verständnisprobleme „beseitigt“.
Wir haben unsere Übersetzungen immer gegengelesen und uns gegenseitig Lösungen vorgeschlagen, die Entwürfe ein- und derselben Episode solange hin und her geschickt, bis wir beide damit zufrieden waren. Aber die Übersetzung des Horcynus Orca ist keinesfalls geradlinig. Als wir bei der letzten Seite angekommen waren, übernahm ich in unserem Zweierteam noch eine weitere Rolle, ich musste nämlich den Text, den Wortschatz, die ganzen kleinen Details, die diesen Roman so besonders machen, harmonisch aufeinander abstimmen und Zusammenhang in sie hineinbringen. Alles von Anfang bis Ende noch einmal durchzugehen, war eine sehr langwierige, mühselige Aufgabe: eine sorgfältige Arbeit an der Zeichensetzung, an der Syntax, den Wortneuschöpfungen, der Musikalität, an D’Arrigos sprachlichen Eigenheiten, überall, die ganze Zeit, wobei meine Richtlinie war, die Sprache „natürlich“ klingen zu lassen.
Die Unterschiede zwischen dem Italienischen und dem Deutschen sind um einiges größer als die zwischen dem Italienischen und dem Französischen. Was war das leitende Prinzip Ihrer Übersetzung?
AW: Moshe Kahn spricht von der griechischen Syntax, die ihm als Haltepunkt diente, und von der möglichen Annäherung zwischen D’Arrigos Stil und seiner deutschen Fassung. Das Deutsche und das Französische sind viel weiter voneinander entfernt als das Italienische und das Französische. Das heißt aber nicht, dass die Übersetzung des Horcynus Orca in die eine Sprache einfacher wäre als in die andere. Wenn zwei Sprachen nah beieinander liegen (weil sie romanisch sind oder die Wörter eine ähnliche Herkunft haben), ist es manchmal sogar schwieriger, sich davon freizumachen und die Kreativität spielen zu lassen, denn dann läuft man Gefahr, sich der Ausgangssprache allzu sehr anzupassen.
Ich würde vielleicht nicht von dem einen leitenden Prinzip sprechen, aber wir orientierten uns an einigen in unseren Augen grundlegenden Zielen. Zum Beispiel: keine Fußnoten oder Erklärungen (etwa in Form von Umschreibungen oder einer zu einfachen Übersetzung da, wo das Original undurchsichtig war); und das immer mit dem Hintergedanken, dass die Handlung und die Sprache der Erzählung sich selbst erzeugen, das heißt, dass der Text seine eigenen Erklärungen oder Begründungen (oft erst hunderte Seiten später) mitliefert, man also die „Undurchsichtigkeit“ oder Merkwürdigkeit der Sprache beibehalten muss.
Die meisten Neologismen lassen sich nämlich etymologisch erklären oder erklären sich aus dem Kontext selbst. Man muss ein Verständnis dafür entwickeln, wie D’Arrigo seine Wortneuschöpfungen bildet und wie er den Dialekt zielgerichtet verfremdet. Wenn man als Mikroarchäologe der Sprache arbeitet, wird der Blick aufs Ganze irgendwann freier. Man muss dem Text vertrauen. Ich habe bereits erwähnt, wie „natürlich“ D’Arrigos Sprache ist: Liest man den Horcynus Orca auf Italienisch, dann liest man ein Italienisch, das nicht restlos verständlich ist, aber doch zu keiner Zeit künstlich wirkt. Diese Natürlichkeit (und oft auch Mündlichkeit) galt es unbedingt irgendwie nachzubilden, und zwar durch kleine Abweichungen, die den Leser kitzeln, den Text aber nicht sonderbarer erscheinen lassen, als er es eigentlich ist.
Meiner Meinung nach lässt sich D’Arrigo gut mit Rabelais vergleichen, beide Autoren verstehen die Sprache als organisches Gebilde. Hinzu kommt der besondere Fokus, den D’Arrigo auf die Musikalität der Sprache legt, auf den Klang, auf die Alliterationen und den Ton, den allesentscheidenden Rhythmus. D’Arrigo war Dichter und der Horcynus Orca ist ein überwältigendes Prosagedicht. Ich glaube, dass D’Arrigo einiges gemeinsam hat mit Victor Hugo und José Lezama Lima, zwei ozeanischen Dichtern und Romanautoren, deren Romane wahre Ungetüme sind. Auch wenn sie mir nicht als stilistische Vorbilder dienten, ihre Bücher hatte ich bei der Übersetzung immer im Kopf.
Zum Schluss möchte ich mit Ihnen über eine Textpassage sprechen, in der die Schwierigkeiten des Romans zusammenkommen: der Auftritt des im Titel genannten Orcas. Wenn man Ihre Lösung mit Moshe Kahns vergleicht, dann fällt auf, dass Sie viele von D’Arrigos Neuschöpfungen bewahrt haben (misdea, roncisvellati); der deutsche Übersetzer hingegen hat manche von ihnen (ferone, lancitta) so stehengelassen und andere wiederum (z. B. renarena) „geglättet“. Wie sind Sie zu Ihrer Übersetzung gekommen?
AW: Misdea (misdée) und roncisvellati (roncevalé) sind zwei hochinteressante Beispiele. Das ist genau die Art von Neologismus, die später durch den Text selbst erhellt wird (wie etwa fera, pellesquadra, spiaggiatore – fère, pellisquale, rivagier [und in Moshe Kahns Übersetzung: Fere, Pellisquadre, Strandvagabund] – um nur einige zu nennen). Ohne an dieser Stelle auf die Details einzugehen, bei solchen Begriffen denke ich oft, dass D’Arrigo ein neues italienisches Wort erfindet, indem er von etwas ausgeht, das nicht existiert, oder eine derart spezifische Anspielung einbaut, dass sie dem Großteil der Leser entgeht, dabei aber immer genau vor Augen hat, was gemeint ist. Es schien mir logisch und keineswegs verfehlt, dasselbe zu machen, also lieber ans Französische anzugleichen als mich für ein vorhandenes Wort mit ähnlicher Bedeutung zu entscheiden: Der Kontext erschafft das Wort. Der Gegenstand oder das Bild erzeugt seine eigene Bezeichnung. Man wird nie so ganz genau wissen, woraus sich das französische Wort „misdée“ ableitet (die tatsächliche Etymologie ist auch den Italiener:innen selbst ein Rätsel, aber eine Passage des Horcynus Orca liefert eine frei erfundene Wortherkunft), aber aus dem Kontext versteht man am Ende doch, was gemeint ist: Massaker, Gemetzel, Katastrophe.
In anderen Fällen haben wir uns anders entschieden. Zum Beispiel haben wir manchen Dialekten einzelne Wörter entlehnt und auch sie, wo nötig, ans Französische angepasst. Oder wir haben Ausdrücke aus der Alltagssprache leicht verfälscht, sie abgewandelt, mit Suffixen und Präfixen gespielt. Wir haben nach alten, seltenen Ausdrücken gesucht, aus dem Argot oder einer nicht mehr gebräuchlichen gehobenen Sprache. Durch diese kleinen Verfremdungseffekte, besonders die Wiederholungen und die sprachlichen „Tics“, die D’Arrigo ganz bewusst einsetzt, entsteht eine ganz eigene Sprache.
Eine weitere Besonderheit des Romans ist die Verdopplung von Substantiven und Adjektiven (hier renarena), eine Überzeichnung des Italienischen, wie es im Süden des Landes gesprochen wird, oder auch des Sizilianischen. Manche dieser Wiederholungen setzt D’Arrigo auch gezielt als adverbiale Formen ein. Dieses Textmerkmal wollten wir bewahren, allerdings lassen sich diese Wortwiederholungen im Französischen nur schwer in ein System bringen: Zum Beispiel haben wir uns bei fittofitto für „serré-serré“ entschieden [etwa: „intensiv“]; den Gedankenstrich, etwa bei „tout-sable“ für renarena [„dem ganzen … Sand“] haben wir uns aus dem Altfranzösischen geborgt; und an anderen Stellen haben wir, je nach Kontext, selbst Wörter erfunden, scuroscuro, was „in der Dunkelheit“ bedeutet, wurde mal zu „noirobscur“, mal zu „plein-ombre“ oder „pleine-nuit“ …
Ich glaube wirklich, dass es dutzende Möglichkeiten zur Übersetzung dieser Neuschöpfungen gibt. Das meiner Ansicht nach Entscheidende ist allerdings nicht, für welche Wörter sich die jeweiligen Übersetzer entscheiden, sondern wie sie sie verwenden, welche Partitur sie aus ihnen komponieren. Ich habe den Eindruck, dass D’Arrigo wie ein Besessener daran gearbeitet hat, Harmonie in die Hunderte von Seiten zu bringen, Ausdrücke, Neologismen absichtlich zu wiederholen, sie so zu bearbeiten, wie die Brandung die Kieselsteine am Meeresgrund hin und her bewegt. Dieses ständige Kommen und Gehen ist in meinen Augen der wichtigste Aspekt des Textes: Die Sprache der Pellisquadre und der Feminoten ist geformt vom Wogen der Wellen und den Strömungen der Meerenge von Messina.
Das Interview wurde auf Französisch geführt und ins Deutsche übersetzt.