Die Nacht der Acht wird als „Horrorthriller für Jugendliche“ beworben. Das macht neugierig, denn zum einen ist die Verbindung von Horror und Krimi ungewöhnlich, zumal nicht viele Romane dieses Genres aus dem Französischen übersetzt sind, zum anderen geht es hier keineswegs nur um Gruseleffekte, vielmehr stellt der französische Autor Philip Le Roy eine thematische Verbindung zu Kunst und Kultur her. Das zeigt sich an der Wahl seiner Protagonisten: acht literarisch und musisch gebildeten Jugendlichen mit kreativen Ambitionen. „Die Acht“, so nennt sich eine Clique von Gymnasiasten, die sich als Elite der Abschlussklasse verstehen und entsprechend arrogant auftreten. Sie alle sind intelligent, schön oder in irgendeiner Weise besonders – und vor allem lassen sie niemanden in ihren erlauchten Zirkel.
Quentin lädt die Clique zu einer Gruselparty ins schicke Landhaus seiner Eltern ein. Die zu einer Architektenvilla ausgebaute ehemalige Schäferei liegt abgeschieden in den Bergen rund um den südfranzösischen Col de Vence, also in einer mondänen und teuren Gegend im Hinterland von Nizza. Die Freundinnen und Freunde verabreden, dass sich jeder etwas einfallen lassen müsse, um den Rest der Gruppe dazu zu bringen, sich zu gruseln – damit klingen verschiedene literarische Referenzen an: Man denke an das Märchen von einem, der auszog das Fürchten zu lernen, an die Gruppe von jungen Adligen, die sich in Boccaccios Dekameron im kultivierten Ambiente eines italienischen Landhauses die Zeit mit dem Erzählen von Geschichten vertreiben, während draußen die Pest wütet, oder aber an Mary Shelleys Frankenstein.1 In Die Nacht der Acht gilt folgende Devise: Wer Angst zeigt, muss etwas trinken.
Quelques secondes plus tard, le tonnerre gronda au-dessus d’eux. La maison trembla.
– Vu! dit Julien en pointant Camille du doigt. Tu as eu peur, tu dois boire quatre gorgées.
Quentin lui servit un verre de wodka […]
Einige Sekunden später grollte der Donner direkt über ihnen. Das Haus bebte.
„Erwischt!“ Julien zeigte auf Camille. „Du hast Angst gehabt, also musst Du trinken.“
Quentin brachte ihr ein Glas Wodka.
Man fragt sich, weshalb in der deutschen Übersetzung „quatre gorgées“, also „vier Schlucke“, weggelassen wurde. Schien die Menge dem Lektorat zu viel für ein Jugendbuch ab 14, zumal es sich um Wodka handelt? Wenn das so ist, wäre es ein Beispiel für die leider um sich greifende moralisierende Entschärfung von Jugendliteratur. Die Darstellung der unter Jugendlichen verbreiteten Mode der Trinkspiele scheint jedenfalls realistisch.
Nach und nach wird ein anfänglich harmloses Vergnügen zum Horror. Nicht nur, dass die Clique immer betrunkener wird, weil sich jeder etwas besonders Originelles einfallen lässt, um die anderen zu erschrecken. Vielmehr wird, was anfänglich nur als Scherz gedacht war, schneller zum bitteren Ernst, als es sich die Jugendlichen träumen lassen. Während viele Gruselmomente – abgeschnittene blutige Finger, eine als Geist verkleidete Frau – bald als geschickt eingefädelter Ulk enttarnt werden, können sich die Jugendlichen andere Phänomene nicht erklären: Plötzlich liegen große Steine herum, die niemand abgelegt haben will, zuvor geschlossene Türen stehen offen, man hört immer wieder Schritte, obwohl doch alle beisammen sind. Maja von Vogels Übersetzung bedient sich wie das französische Original des gesamten klassischen Gruselvokabulars, wie auch die nachstehende Passage eindrücklich zeigt (wenngleich das Verb „gémir“ vielleicht noch etwas unheimlicher mit einem ebenfalls anthropomorphisierenden Verb wie z. B. „stöhnen“ oder „seufzen“ zu übersetzen wäre):
Au même moment, ils entendirent un bruit de pas rapides et saccadés. On aurait dit que quelqu’un courait avec des béquilles. […] La tempête faisait claquer les bâches de chantier, se froisser les frondaisons, craquer la charpente et gémir les huisseries.
Im selben Moment hörten sie das Geräusch schneller ungleichmäßiger Schritte. Es klang, als würde jemand mit Krücken laufen. […] Der Sturm ließ die Planen auf der Baustelle knattern, das Laub in den Bäumen rauschte, die Balken knackten und die Fensterrahmen knarrten.
Die Clique sucht für die hier geschilderten Phänomene zunächst erklärbare Begründungen und beweist einmal mehr ihren Hang zur Intellektualität. Im Haus stehen zwei Bücher über paranormale Phänomene am Col de Vence, denen zufolge schon in alten Erzählungen und Legenden die Rede von mysteriösen Vorkommnissen in dieser Gegend gewesen sei. Man merkt, dass der Autor Philip Le Roy in Vence lebt und sich auskennt. Die erwähnten Bücher beziehen sich auf reale Titel, die am Ende des Romans noch einmal aufgeführt werden. Es ist erfreulich, dass die kleine Bibliographie auch in der deutschen Ausgabe eins zu eins übernommen wurde (sogar mit einer deutschen Übersetzung der Buchtitel zum besseren Verständnis), so könnte man den Literaturhinweisen nachgehen; das Buch vielleicht sogar als gruselige Reiselektüre für einen Besuch des Hinterlands von Nizza vorsehen.
Nachdem sich die Jugendlichen in der Annahme bestätigt sehen, dass es in der Gegend spuken könnte, beschließen sie, der unbekannten Bedrohung gemeinsam entgegenzutreten. Die Erklärungen und Vermutungen zu den paranormalen Phänomenen tragen zur Verunsicherung bei und illustrieren somit perfekt Tzvetan Todorovs Definition der phantastischen Literatur: Ihr zufolge basiert das Phantastische in der Literatur auf der Unschlüssigkeit des Lesers, ob die dargestellten Ereignisse rational erklärbar sind oder nicht.2 Immer wieder mischen sich nun Realität und Unbekanntes: Der Geist der toten Mitschülerin Manon taucht auf – was dahintersteckt, soll hier nicht verraten werden. Doch schon bald zeigt das Unerklärbare die Dimension einer äußerst bedrohlichen Realität, nämlich als sich herausstellt, dass das W‑Lan nicht mehr funktioniert und die Telefonleitung gekappt ist. Das Gefühl einer diffusen Angst vor dem nicht Greifbaren macht sich breit. Dies wird insofern gut umgesetzt, als sich nun auch die Leser fragen, wogegen die Jugendlichen eigentlich ankämpfen.
– Des appareils photo qui se bloquent, tu dis ? s’étonna Marie.
– Entre autres phénomènes.
– Le mien a merdé tout à l’heure.
Marie horchte auf. „Fotoapparate, die nicht mehr funktionieren, sagst du?“
„Unter anderem, ja.“
„Meine Kamera hat vorhin auch rumgezickt.“
Das Gespräch wirkt völlig normal. Die lockere Sprache der Jugendlichen, für die im Deutschen gut passende Entsprechungen gefunden werden („merdé“=„rumgezickt“), trägt zum Gefühl bei, es handle sich um eine Alltagssituation. So lässt sich der Roman auch auf einer psychologischen Ebene lesen: Die Angst in uns kann stärker sein als die banale Realität. Das Umschlagen der Stimmung, wenn die Akteure erkennen, dass sie ganz auf sich gestellt sind und plötzlich nicht mehr wissen, ob eine Situation wirklich gefährlich ist oder zum Spiel gehört, erzeugt Spannung. Dem entspricht auf der sprachlichen Ebene ein Wechsel von lockeren Dialogen und Kabbeleien zu knappen und sachlichen Aussagen, wenn aus der lustigen Situation plötzlich Ernst wird:
– On fait un débat ou on continue à sécuriser le périmètre? s’impatienta Mehdi. T’es allé chercher ça où «sécuriser le périmètre»? lui lança Julien.
– T’es allé chercher ça où «sécuriser le périmètre»? lui lança Julien.
– Dans un film.
Il faut bloquer l’escalier, conseilla Maxime.
Ils construisirent une barrière […]
Une mauvaise surprise les attendait dans le bureau. Une pierre avait percuté le moniteur connecté aux caméras de surveillance. L’écran était endommagé.
– Je veux partir, dit Camille en constatant les dégâts.[…]
– Ça ne sert à rien de fuir, dit Mehdi. On n’a nulle part où aller.
„Wollt ihr weiter rumquatschen oder das restliche Haus sichern?“ Mehdi wurde ungeduldig. Julien verdrehte die Augen.
„Das restliche Haus sichern – woher hast Du das?“
„Aus einem Film.“
„Wir sollten die Treppe blockieren“, schlug Maxime vor.
Sie bauten eine Absperrung […]
Im Arbeitszimmer erwartete sie eine böse Überraschung. Jemand hatte mit einem Stein den Monitor zertrümmert, der an die Überwachungskameras angeschlossen war.
Camille wurde blass, als sie die Scherben sah. „Ich will hier weg!“ […]
„Flucht ist zwecklos”, stellte Mehdi fest. „Wir können nirgendwohin.“
Es erschließt sich nicht ganz, wieso das geschraubt klingende und daher witzige „sécuriser le périmètre“, also wörtlich „den Perimeter sichern“, mit „Haus sichern“ übersetzt wurde, denn damit kommt der übertriebene Sprachstil nicht zur Geltung. Vielleicht hätte „Umland“ oder „Umgebung“, sogar „Perimeter“ oder eine Wendung der Kriminalsprache hier besser gepasst. Insgesamt ist die Sprache der Jugendlichen im Deutschen aber sehr gut getroffen. Die im Französischen umgangssprachlich verschluckten Silben wie z. B. in „T’es allé“ (statt „Tu es“) sind im Deutschen seltener, dafür wird ab und zu das Endungs‑e im konjugierten Verb weggelassen („Ich hab keine Angst, ich mach mir nur Sorgen“). Die Übersetzerin Maja von Vogel, die als Lektorin in einem Kinderbuchverlag gearbeitet hat, fängt die lockere Jugendsprache sehr gut ein über kurze, klare Sätze und die Wortwahl (z. B. „rumquatschen“).
Während die Clique noch der Frage nachgeht, wer hinter den mysteriösen Vorfällen steckt, verschwindet erst Mathilde, dann Quentin. Und so geht es weiter, einer nach dem anderen, und zwar immer dann, wenn er oder sie einen Augenblick allein ist. Schließlich bleiben nur noch zwei Mädchen übrig, die Nacht scheint kein Ende zu nehmen. Gleich zu Beginn wird Spannung erzeugt, indem der Prolog die Polizei bei der Suche zeigt und uns damit wissen lässt, dass alle acht Jugendlichen an einem Abend aus dem Haus verschwunden sind. Wir ahnen also schon nach dem ersten Verschwinden, dass es bald auch die anderen ereilt und niemand dem unbekannten Horror entkommen kann. Das hohe Erzähltempo unterstützt diesen Wettlauf gegen die Zeit. Das Buch ist in recht kurze Kapitel unterteilt. Es wird schnell erzählt und am Kapitelende werden häufig geschickt Cliffhanger eingesetzt, um die Ungeduld der Leserinnen und Leser weiter zu steigern:
– Il s’arrêta en haut des marches, recula et referma aussitôt la porte devant Camille et lui.
– Qu’estce que t’as ? demanda-t-elle.
– Il y a quelqu’un en bas.
Auf dem Treppenabsatz blieb Quentin wie angewurzelt stehen, wich zurück und schloss hastig die Tür.
„Was ist los?“, fragte Camille.
„Da unten ist jemand.“
Der Autor arbeitet immer wieder mit Überraschungseffekten und das durchaus überzeugend, so dass die Leserschaft bei jedem neuen Trick denkt, oh, was ist das, jetzt wird es aber ernst. Die Anspannung, unter der die Jugendlichen stehen, führt außerdem dazu, dass sie mehr aus sich herausgehen. Es werden Liebeserklärungen gemacht und alte Rechnungen beglichen. Allerdings entspricht nicht jede Aktion der unter den Jugendlichen abgesprochenen Vorgabe, sich auf das übliche Gruselrepertoire zu beziehen: Wenn der arabischstämmige Mehdi plötzlich mit einer Waffe droht und „Allahu Akbar“ schreit und sich in einer durchaus überzeugend klingenden Hasstirade gegen die leichtfertigen Französinnen und die dekadente westliche Welt wendet, fürchtet zwar auch die Leserin einen Moment, dass sich nun ein echter Problemfall outet und die gesellschaftliche Realität des Islamismus die Jugendlichen einholt. Doch auch hier heißt es wieder: Alles nur Spaß, ich habe Euch reingelegt. Wie Mehdi vorspielt, ein islamistischer Attentäter zu sein, ist sehr gelungen dargestellt. Sein Auftritt wirkt überzeugend und jagt den anderen Jugendlichen große Furcht ein, passt aber nicht so recht zu den übrigen aus der Welt der Gothic Novel stammenden Schauereffekten. Die Angst, Mehdi könne ein heimlicher Islamist sein, steht in scharfem Kontrast zum Setting der knarrenden Dielen, der Gespenster und des ums Haus peitschenden Winds und Regens. Es wirkt, als habe der Autor das in Frankreich hochaktuelle Thema des Islamismus an Schulen auch noch in den Roman quetschen wollen, um diesem eine politische Dimension zu verleihen.
Gut gelungen ist die Figurenzeichnung, denn jeder Jugendliche hat seine eigenen Charakteristika und ist somit klar unterscheidbar, wiewohl gewisse Stereotypen etwas plakativ daherkommen: Der arabischstämmige Mehdi, der schwule Schönling Julien, Camille, eine blonde Schönheit aus reichem Hause oder die rebellische und freche Mathilde. In der Welt der Acht spielen außerdem die Selbstmörderin und Außenseiterin Manon eine Rolle, sowie der „big looser“ genannte Clément, den sie aus Mitleid zu ihrem Abend eingeladen haben. Es werden gängige Teenagerklischees bedient und jugendliche Leserinnen und Leser können in diesen Figuren, obwohl diese nicht immer sympathisch wirken, leicht Identifikationsmuster finden. Allerdings wirkt es etwas artifiziell, dass alle Jugendlichen unterschiedliche künstlerische Begabungen haben sollen.
Die Übersetzerin Maja von Vogel überträgt die französische Atmosphäre im Roman, indem sie Französisches stehen lässt und in Frankreich bekannte Personen wie die Tänzerin Sylvie Guillem oder den Chansonnier Maurice Chevalier, die den jugendlichen deutschen Leserinnen und Lesern vermutlich nicht so vertraut sind, in einem Glossar erklärt. Dazu gehören die für die großen Internetkonzerne stehenden Akronyme GAFAM und NATU oder auch die in Frankreich unter Jugendlichen verbreitete Geheimsprache Verlan, einem Akronym für „à l’envers“ („anders herum“). Die Jugendlichen stellen Fragen über ein Ouija-Brett – ein spiritistisches Hilfsmittel, um spielerisch mit Geistern in Kontakt zu treten – und erhalten die Antwort „NO MAN“. Sie erinnern sich daran, wie im Verlan Silben vertauscht werden und kommen so auf den Namen „Manon“. Das „typisch“ Französische verstärken literarische Anspielungen wie ein Vers aus einem Drama von Pierre Corneille, und immer wieder die von Sprachwitz geprägten Kabbeleien. Anspielungen auf den Schulalltag der überwiegend aus einer gebildeten Oberschicht stammenden Jugendlichen und flotte Dialoge runden das Ganze ab. Die Nacht der Acht enthält kulturelle Anregungen wie Filme, über die sich die Jugendlichen austauschen, oder Musiktitel, die am Ende in einer Playlist aufgeführt sind. So hat das Buch einen echten Mehrwert, denn Leserinnen und Leser können die Lieder anhören und so die Partysituation nachempfinden. Auf der Playlist stehen nicht nur englische Titel, sondern auch die französische Hiphopband Stupeflip ist vertreten. Frankophile Leser wird das auf jeden Fall ansprechen.
Das Thema der abgehobenen Freundesclique, die sich für Literatur, Antike und Kunst interessiert und in einen Kriminalfall verwickelt ist, wurde mit dem Roman The Secret History (1992) von Donna Tartt (Die geheime Geschichte, Übersetzung von Rainer Schmidt, 1993) zum literarischen Topos. Die Thematik hat mittlerweile ihren festen Platz in der Literatur, in Filmen, Musik und Mode als überwiegend von Jugendlichen kultivierte Subkultur-Ästhetik namens „Dark Academia“: Ihre Elemente sind ein häufig universitäres, elitäres Setting, Intellektualität, dazu der exzessive Konsum von Alkohol und anderen Rauschmitteln, dies alles, um sich in jeder Hinsicht von der als banal empfundenen Welt der Vernunft abzugrenzen.
Die Nacht der Acht basiert auf einer ungewöhnlichen Thrilleridee, die den Dark-Academia-Trend aufgreift, ihn jedoch – weg von englischen oder amerikanischen Internaten – ins südfranzösische Département Alpes-Maritimes verlegt; auch die Übersetzung transportiert geschickt das französische Ambiente. Der Roman ist spannend geschrieben mit einem zwar nicht ganz plausiblen, aber dafür überraschenden Schluss, bei dem der Übeltäter verhältnismäßig gut wegkommt.
Nach der Katastrophe
In eigenen Sphären
Verlorene Kindheit
Im Portrait: Thomas Weiler
Neues von der Meisterin des Minimalismus
„Die Systeme weisen den Menschen bestimmte Rollen zu, nicht umgekehrt“
- „Aber der Sommer stellte sich als nass und unfreundlich heraus, und unablässiger Regen fesselte uns oft tagelang ans Haus. […] ‚Wir wollen alle eine Gespenstergeschichte schreiben‘, sagte Lord Byron, und sein Vorschlag wurde angenommen.“ (Mary Shelley: Frankenstein oder Der moderne Prometheus. Übersetzt von Ursula und Christian Grawe. Reclam 1986; S. 7 f.)
- „Le fantastique, c’est l’hésitation par un être qui ne connaît que les lois naturelles, face à un événement en apparence surnaturel.“ (Tzvetan Todorov: Introduction à la littérature fantastique. Le Seuil 1970, S. 29)