Die Theaterregisseurin, Schauspielerin, Übersetzerin und Autorin Carla Bessa stammt ursprünglich aus Rio de Janeiro, lebt aber schon seit langem in Deutschland. Daher ist es nur passend, dass ihr 2019 erschienener, in Brasilien mehrfach preisgekrönter Kurzgeschichtenband Urubus jetzt auch auf Deutsch in der Übersetzung von Lea Hübner erschienen ist.
Der Originaltitel ist in der Übersetzung beibehalten worden. Das Wort „Urubu“ stammt aus der indigenen Sprache Tupi-Guarani, die umfangreiche Spuren im brasilianischen Portugiesisch hinterlassen hat. Uru bedeutet „großer Vogel“ und bu „schwarz“. Die Urubus sind also große schwarze Vögel, Aasgeier, die in Nord‑, Mittel- und Südamerika beheimatet sind und weit über diese Grenzen hinaus bei den meisten Menschen eine schnelle Abfolge negativer Assoziationen hervorrufen. Allen voran Leichenfresser, im Deutschen schon am Namen erkennbar und somit immer ein Vorbote, ein Begleiter, ein Profiteur des Todes.
Die Bedrohung durch den Tod oder das konkrete Ableben spielen dann auch in jeder Geschichte, in jedem Schicksal der Figuren eine zentrale Rolle. Die Aasgeier, die Urubus, tauchen gleich am Anfang der ersten Geschichte auf, kreisen über der Mülldeponie. Ein leider von nicht wenigen Brasilianern häufig aufgesuchter Ort, auf der Suche nach Lebensmittelresten oder noch verwertbaren Gegenständen:
Ao puxar o sapato vem junto uma perna esgarçada. Mas não é só de calça desmembrada do dono, não. Tem gente dentro, carne, osso. Tem sexo. Dá para ver direitinho que tem tudo isso ali dentro da perna daquela calça. É homem. É, ou foi. Será que está vivo ou morto? Mas antes de se ocupar disso a mãozinho ainda gordinha de criança apalpa, escarafuncha-se para dentro do bolso, quem sabe não tem dinheiro por aqui. Já teve várias vezes, tantos fundos de calça recheados ali no lixão. Ao sentir-se cavoucado, o quadril lá dentro da roupa se contorce, vira de bruços, a mãozinho do ladrãozinho fica imprensada, vai junto, ai meu deus. Cambaleia-tropeça o menino por cima do corpo que, caramba tá vivo mesmo. O cheiro é: não tem nem como descrever, é é é azedo, é é é insuportável.
Beim Zerren am Schuh kommt ein zerschlissenes Bein mit. Offenbar mehr als eine Hose ohne Besitzer. Da steckt wer drin, Fleisch, Knochen. Geschlechtsteil. Dass all das in dem Hosenbein steckt, ist gut zu erkennen. Ein Mann ist das. Oder war das. Lebt der oder ist der tot? Bevor das geklärt wird, gleitet die speckige Kinderhand in die Hosentasche, tastet, wer weiß, ob da Geld drin ist? Schon mehrmals war das so gewesen, zig Hosen auf dem Müll mit gehaltvollem Innenleben. Durch das Gefummel kommt die Hüfte in der Hose in Bewegung, dreht bäuchlings, nimmt die kleine Hand mit, drückt sie platt, ach du Gott. Der Junge stolpertaumelt über den Körper, der, verflixt nochmal, tatsächlich lebt. Der Geruch ist: unmöglich ihn zu beschreiben, er ist ist ist säuerlich, ist ist ist unerträglich.
So bekommt die Leserschaft gleich zu Beginn einen sehr guten Eindruck von der dichten, kompakten Sprache Carla Bessas, die Lea Hübner in ein rasant lesbares Deutsch überträgt. Sie findet für die Wortneuschöpfung „cambaleia-tropeçada“ mit „stolpertaumelt“ eine sehr gut funktionierende Lösung und übernimmt die Wiederholungen, wie zum Beispiel „é é é / ist ist ist“.
In Urubus setzt Carla Bessa 18 Geschichten, in der deutschen Ausgabe 17 Geschichten (warum eine nicht übersetzt wurde, bleibt unklar) zu einer Art sozialem Panorama zusammen, in dem manchmal subtil und angedeutet, manchmal ganz direkt die Parameter sozialer Status, Hautfarbe, Geschlecht, sexuelle Orientierung und Alter in der heutigen brasilianischen Gesellschaft verhandelt werden, immer vor dem Hintergrund der ganz individuellen Geschichte, des nahen Blicks auf jede und jeden einzelnen.
Carla Bessa lässt alle Figuren mehrmals auftauchen, kündigt sie an, führt ihre Biografie in anderen Geschichten weiter. Gegenstände wie ein Dame-Spiel, ein Tagebuch oder eine Scheibe Schinken tauchen an verschiedenen Orten auf und verbinden so die einzelnen Episoden. Einmal lässt die Autorin eine Kurzgeschichte mit demselben Satz beginnen, mit dem sie die vorherige hat enden lassen. Es ist problemlos möglich, jede Geschichte einzeln zu lesen, sie könnten für sich allein stehen, aber besonders viel Vergnügen macht das Entdecken von Verbindungen, das Aufdecken von Zusammenhängen.
Diese Technik des Verwebens findet sich auch in einzelnen Szenen wieder. In der Geschichte „Vulkane“ verschränkt sie das Essen eines Apfels mit den Bedeutungen des Verschluckens, Erstickens, der unverdaulichen Lebensentscheidungen:
Num reflexo enfiou uma fatia grossa na boca, engoliu sem morder. Engasgou-se com a fruta e com lembrança do velho e de toda uma não-vida uma escolha malfeita, que burrice dobrei a esquinha errada. Asfixiou com aquela certeza atrasada, trambolho fechando a garganta ainda mais que a maçã. Queria esquecer, mas era muita acumulação.
Reflexartig schob sie sich eine dicke Apfelscheibe in den Mund, schluckte ohne zu kauen. Verschluckte sich an dem Stück Apfel und an den Erinnerungen an den Alten und an ihr ganzes Nichtleben, eine einzige schlecht getroffene Wahl, wie blöd ich doch war, an der falschen Ecke abzubiegen. Sie erstickte an dieser verspäteten Erkenntnis, einem Brocken, der ihr stärker zu schaffen machte als der Apfel. Sie wollte vergessen, aber da hatte sich zu vieles angesammelt.
Eine besondere Rolle im Band spielt die Frau mit dem Bündel (O embrulho), nach der eine der Kurzgeschichten benannt ist. Selbst wenn die Übersetzung „Päckchen“ vielleicht üblicher gewesen wäre, hilft Lea Hübner dem Leser mit der Entscheidung für „das Bündel“, zumal es mit Stoff umwickelt ist und nicht mit kantiger Pappe, ein wenig auf die Sprünge und deutet dessen Inhalt bereits an. Aufgelöst wird dieses Rätsel jedoch erst in der letzten Geschichte.
Wir lernen den verliebten Busfahrer Wellington kennen, der auf seiner Route zum Busbahnhof überfallen wird und später für den entstandenen Schaden auch noch selbst aufkommen muss. Einer seiner Fahrgäste ist eben diese Frau mit ihrem Bündel, umhüllt von einem Tuch, nicht zufällig mit Vögeln bestickt.
Constata: fora um par de gatos pingados surfando lá para as bandas do costão, a praia vazia. Apalpa a bolsa para certificar-se de que o embrulho continua ali, continua. Enrolado num poncho azul com passarinhos bordados batendo asinhas no compasso da sua tremedeira. O Poncho: espólio da mãe que nem conhecer direito conheceu. Nos últimos tempos vinha pensando muitonela, essa mãe que não teve.
Sie stellt fest: Bis auf ein paar verlorene Surfer draußen vor der Brandung ist der Strand leer. Sie greift nach der Tasche um sich zu versichern, dass das Bündel noch da ist. Ja, ist noch da. Eingewickelt in einen Poncho, blau, mit Vögeln bestickt, die im Takt mit ihrem nervösen Zittern die kleinen Flügel schlagen. Der Poncho: Die Aussteuer der Mutter, die sie gar nicht richtig kannte. In letzter Zeit hat sie öfter an sie denken müssen, an diese Mutter, die sie nicht hatte.
Diese Beschreibung der zitternden Flügel haucht dem Bündel auf ganz unheimliche Weise Leben ein und deutet die Verbindung zwischen der Frau und ihrem Bündel an, was das baldige Verscharren am Strand noch ein bisschen unheimlicher, ja grausamer macht. Das ganze Ausmaß der Tragödie, wahrscheinlich des Traumas, wird durch zwei sehr intensive Absätze deutlich:
Sob a pressão da alça o ombro começa a doer. A cada vez o embrulho parece maior, mais sem-jeito de carregar. Ou era ela ficando velha, ficando fraca. Ao trocar de braço o olhar varre o interior da bolsa. Os passarinhos tremelicam. Sem tirá-la do ombro, se acocora. Esfrega um punhado de areia entre os dedos, leva à boca.
O tapa da mãe, paff!, acertou em cheio a orelha. Paff! Ficou sem ouvir por várias horas. O tabefe era uma das poucas lembranças que tinha daquela que saiu de sua vida ainda tão cedo, ela não sabia direito se viva ou se morta, ninguém nunca disse. Paff! Quantos anos teria, quatro, cinco? Em todo caso, uma meninota. Mal tinha enfiado a mãozada de areia na boca e já o tapa. Sem tempo de sentir dor, o estalo veio antes e a ensurdeceu.
Unter dem Druck des Gurtes beginnt ihre Schulter zu schmerzen. Jedes Mal scheint das Bündel größer, schwieriger zu tragen. Oder sie wird alt, wird schwächer mit der Zeit. Als sie den Arm wechselt, prüft ihr Blick den Tascheninhalt. Die Vögel zittern. Ohne den Gurt von der Schulter zu streifen, kauert sie nieder. Zerreibt eine Handvoll Sand zwischen den Fingern, führt sie zum Mund.
Die Ohrfeige der Mutter, paff!, ein Volltreffer. Paff! Mehrere Stunden war sie taub auf dem Ohr. Der Schlag war eine der wenigen Erinnerungen an die Mutter, die ihr Leben schon so früh verlassen hatte, sie weiß nicht, ob lebendig oder tot, erzählt hat es ihr keiner. Paff! Wie alt mag sie gewesen sein, vier oder fünf? Auf jeden Fall noch ein kleines Mädchen. Sie hatte kaum die Hand in den Mund gesteckt, da kam die Ohrfeige. Ohne Zeit, Schmerz zu empfinden, der Knall kam vorher und machte sie taub.
In der Geschichte „Zum Beispiel Aprikosen“ enthüllt Carla Bessa weitere Einzelheiten zum Leben der Frau mit dem Bündel. Nachdem sie das Bündel am Strand verscharrt hat, setzt sie sich vor einen Kiosk, und während sie Toast bestellt und auf ihren heißen Kaffee pustet, blitzen die bedrückenden Details durch, die von der verschwundenen Mutter, von Inzest, dem Missbrauch durch den „schwachen“ verlassenen Vater berichten, der Bulimie. Besonders verstörend wirkt die unvermittelte, beiläufige Art, in der sie sich einem fremden Kioskbesitzer mitteilt, dessen berufsbedingte Zuwendung von ihr als Aufforderung zum Weitererzählen gelesen wird. Beiden scheint ohnehin klar, dass sie über die Traumata ihrer Kindheit den Verstand verloren hat: „Bin ich verrückt? Es ist eine rhetorische Frage und so setzt sie sich ans Ende der Bank beim Kiosk.“
In „Variante ohne Verb“ beschreibt Carla Bessa den erfolglosen Versuch Álvaros, in dessen Bäckerei sich derweil der überfallene Busfahrer betrinkt, der gerade Verstorbenen einen Brief in den Sarg zu legen. Es ist der Brief, in dem er ihr endlich seine lebenslange, unerfüllte Liebe gesteht. Durch das Weglassen der Verben gelingt es Carla Bessa erneut einen Sog zu erzeugen, in dem der Druck und die Verzweiflung Álvaros, seiner letzten, ja allerletzten Chance, regelrecht spürbar wird:
Álvaro, depois daquela confusão, agora sozinho bem perto do caixão. Quando, súbito, duas evangélicas com camisetas „Jesus-te-ama“ e em folhas de papel com letras colossais: a oração para a morta. As mulheres ali, sem convite nem vergonha. Fora de hora e de propósito. Umas penetras. As penetras da prece. Para Álvaro, mais um estorvo, mais um obstáculo entre ele e a morta. E depois da reza, o caixão fechado, a procissão, tudo tão rápido e Álvaro para trás com a carta de despedida no bolso e o cansaço de toda uma vida com aquele amor tijolo no peito.
Com uma mão no bolso em volta da carta amassada e outro braço em riste: um derradeiro aceno: adeus.
Álvaro, nach dem ganzen Chaos allein, ganz dicht am Sarg. Doch plötzlich zwei Pfingstkirchlerinnen mit „Jesus-liebt-dich“ T‑Shirts und auf Zetteln in Riesenlettern: Das Gebet für die Verstorbene. Also diese Frauen, einfach so, ohne Einladung und ohne Skrupel. Sowohl falscher Moment als auch verfehlte Absicht. Eindringlinge. Gebetswütige Eindringlinge. Für Álvaro nicht nur Störung, sondern auch Hürde zwischen ihm und der Toten. Und nach dem Gebet Sarg zu und Abmarsch der Prozession, alles so schnell, und Álvaro ganz hinten, mit dem Abschiedsbrief in der Tasche und der Erschöpfung eines ganzen langen Lebens mit diesem Ziegelstein von Liebe im Herzen.
Eine Hand in der Tasche, den zerknitterten Brief fest umschlossen, die andere zum Gruß in der Höhe, ein letztes Winken: Ade.
Die Übersetzung dieser besonderen Konstruktion ist Lea Hübner durchweg gelungen. Sie hat ihre eigenen Satzstrukturen und Wortstellungen im Deutschen gefunden, die ohne Sinnverzerrung oder gar Verlust das ganze Drama des beschriebenen Unterfangens vermitteln.
Generell findet Lea Hübner immer wieder geschmeidige und gut funktionierende Lösungen für idiomatische Wendungen oder Bilder und erhält die Frische der Sprache durch ein heutiges Deutsch sowie durch die Übernahme der teilweise eigenwilligen Interpunktion und der onomatopoetischen Kreationen (aff, glub blub). Für die Neologismen hat sie überzeugende Entsprechungen gefunden, beispielsweise mit „das Sirren der Schlechtes-Gewissen-Schnake“ für „o zum-zum da consciência-pernilongo zunindo“.
Es gibt nur wenige Ausnahmen, zum Beispiel erscheint die eine oder andere Vokabel im Deutschen zu brav, vielleicht altbacken. So übersetzt sie „garoto“ mehrmals mit „Gespielen“, ein nicht nur altmodisches, sondern auch eher sperriges Wort. Zugegebenermaßen macht es die deutsche Sprache der Übersetzerin auch nicht leicht, mangelt es doch an Begriffen, mit denen man junge Menschen bezeichnet, bei denen aber eine subtile Konnotation und eine feinere Altersabstufung mitschwingen und die weder altmodisch noch allzu jugendlich anbiedernd klingen. Eine Wiederholung des einfachen „Jungen“ für „garoto“ erscheint da fast unausweichlich.
Als regelrecht störend könnte man die Wahl des „Jesses Maria“ bezeichnen, ein regional deutlich eingegrenzter Ausruf, bei dem der dies ausrufende Brasilianer urplötzlich in Lederhose vor dem inneren Auge steht. Ein verwirrender Moment, den Lea Hübner hätte vermeiden können, wenn sie auf überregional verbreitete Wendungen wie „mein Gott“ zurückgegriffen hätte. Zumal die portugiesischen Entsprechungen (z. B. Jesus oder Santíssima) auch keine örtliche Begrenzung aufweisen.
Insgesamt hat es Lea Hübner geschafft, das Kompakte an Carla Bessas Stil genau so dicht und trotzdem fließend und rhythmisch ins Deutsche zu übersetzen und die Geschwindigkeit zu halten, gerade dann, wenn Erinnerungen und gegenwärtige Abläufe regelrecht ineinanderfließen und so ein mitreißendes Tempo erzeugen. Dank dieser umfassenden Qualitäten bei der Übersetzung aus dem brasilianischen Portugiesisch ins Deutsche lesen sich die Geschichten aus Urubus mit Sogkraft und man kann sich gänzlich auf die differenziert gezeichneten Figuren und ihre Lebenswege einlassen. So begegnen uns verpasste Liebesbeziehungen und überbordende Reue am Lebensabend. Ein schwer verliebter Busfahrer. Straßenkinder auf einer Müllkippe. „Ein entzauberter Prinz“, der von seinem käuflichen Freund verlassen wird und sich zurück in einen Frosch verwandelt, der sich nie wieder verlieben soll. Einem Landflüchtling, ehemaliger Schuhputzer, der nun eine Anstellung als Pförtner hat und den so etwas Alltägliches wie seine Verdauung von dem entscheidenden Moment seiner beruflichen Verantwortung abhält. Und wahrscheinlich am eindringlichsten: das Schicksal der Frau ohne Namen, aber mit Bündel in einer Umhängetasche und einer leidvollen Geschichte, die verstört und beunruhigt. Carla Bessa nimmt keine Rücksicht, schont uns nicht, zeigt Wahrheiten, die unbequem, schmerzhaft sind. Aber sie entblößt ihre Figuren nicht und lässt trotz der Schwere des Lebens sogar ein, vielleicht zwei Mal ein wenig Hoffnung aufkommen. Ein berührendes und bereicherndes Leseerlebnis, im Original von Carla Bessa, aber auch als Übersetzung von Lea Hübner.