Töd­lich verwoben

In Carla Bessas Erzählband „Urubus“, aus dem Brasilianischen übersetzt von Lea Hübner, sind gefiederte Todesboten das entscheidende Bindeglied zwischen den Geschichten. Von

Hintergrundbild: Nmaslak/WikiCommons

Die Thea­ter­re­gis­seu­rin, Schau­spie­le­rin, Über­set­ze­rin und Autorin Car­la Bes­sa stammt ursprüng­lich aus Rio de Janei­ro, lebt aber schon seit lan­gem in Deutsch­land. Daher ist es nur pas­send, dass ihr 2019 erschie­ne­ner, in Bra­si­li­en mehr­fach preis­ge­krön­ter Kurz­ge­schich­ten­band Uru­bus jetzt auch auf Deutsch in der Über­set­zung von Lea Hüb­ner erschie­nen ist.

Der Ori­gi­nal­ti­tel ist in der Über­set­zung bei­be­hal­ten wor­den. Das Wort „Uru­bu“ stammt aus der indi­ge­nen Spra­che Tupi-Gua­ra­ni, die umfang­rei­che Spu­ren im bra­si­lia­ni­schen Por­tu­gie­sisch hin­ter­las­sen hat. Uru bedeu­tet „gro­ßer Vogel“ und bu „schwarz“. Die Uru­bus sind also gro­ße schwar­ze Vögel, Aas­gei­er, die in Nord‑, Mit­tel- und Süd­ame­ri­ka behei­ma­tet sind und weit über die­se Gren­zen hin­aus bei den meis­ten Men­schen eine schnel­le Abfol­ge nega­ti­ver Asso­zia­tio­nen her­vor­ru­fen. Allen vor­an Lei­chen­fres­ser, im Deut­schen schon am Namen erkenn­bar und somit immer ein Vor­bo­te, ein Beglei­ter, ein Pro­fi­teur des Todes. 

Die Bedro­hung durch den Tod oder das kon­kre­te Able­ben spie­len dann auch in jeder Geschich­te, in jedem Schick­sal der Figu­ren eine zen­tra­le Rol­le. Die Aas­gei­er, die Uru­bus, tau­chen gleich am Anfang der ers­ten Geschich­te auf, krei­sen über der Müll­de­po­nie. Ein lei­der von nicht weni­gen Bra­si­lia­nern häu­fig auf­ge­such­ter Ort, auf der Suche nach Lebens­mit­tel­res­ten oder noch ver­wert­ba­ren Gegenständen: 

Ao puxar o sapa­to vem jun­to uma per­na esgar­ça­da. Mas não é só de cal­ça des­memb­ra­da do dono, não. Tem gen­te den­tro, car­ne, osso. Tem sexo. Dá para ver direit­in­ho que tem tudo isso ali den­tro da per­na daque­la cal­ça. É homem. É, ou foi. Será que está vivo ou mor­to? Mas antes de se ocu­par dis­so a mão­zin­ho ain­da gord­in­ha de crian­ça apal­pa, esca­ra­fun­cha-se para den­tro do bol­so, quem sabe não tem din­hei­ro por aqui. Já teve vári­as vezes, tan­tos fun­dos de cal­ça rechea­dos ali no lixão. Ao sen­tir-se cavou­ca­do, o qua­dril lá den­tro da rou­pa se contorce, vira de bru­ços, a mão­zin­ho do ladrão­zin­ho fica imprensada, vai jun­to, ai meu deus. Cam­baleia-tro­pe­ça o meni­no por cima do cor­po que, caram­ba tá vivo mes­mo. O chei­ro é: não tem nem como descrever, é é é aze­do, é é é insuportável.

Beim Zer­ren am Schuh kommt ein zer­schlis­se­nes Bein mit. Offen­bar mehr als eine Hose ohne Besit­zer. Da steckt wer drin, Fleisch, Kno­chen. Geschlechts­teil. Dass all das in dem Hosen­bein steckt, ist gut zu erken­nen. Ein Mann ist das. Oder war das. Lebt der oder ist der tot? Bevor das geklärt wird, glei­tet die spe­cki­ge Kin­der­hand in die Hosen­ta­sche, tas­tet, wer weiß, ob da Geld drin ist? Schon mehr­mals war das so gewe­sen, zig Hosen auf dem Müll mit gehalt­vol­lem Innen­le­ben. Durch das Gefum­mel kommt die Hüf­te in der Hose in Bewe­gung, dreht bäuch­lings, nimmt die klei­ne Hand mit, drückt sie platt, ach du Gott. Der Jun­ge stol­per­tau­melt über den Kör­per, der, ver­flixt noch­mal, tat­säch­lich lebt. Der Geruch ist: unmög­lich ihn zu beschrei­ben, er ist ist ist säu­er­lich, ist ist ist unerträglich.

So bekommt die Leser­schaft gleich zu Beginn einen sehr guten Ein­druck von der dich­ten, kom­pak­ten Spra­che Car­la Bes­sas, die Lea Hüb­ner in ein rasant les­ba­res Deutsch über­trägt. Sie fin­det für die Wort­neu­schöp­fung „cam­baleia-tro­pe­ça­da“ mit „stol­per­tau­melt“ eine sehr gut funk­tio­nie­ren­de Lösung und über­nimmt die Wie­der­ho­lun­gen, wie zum Bei­spiel „é é é / ist ist ist“. 

In Uru­bus setzt Car­la Bes­sa 18 Geschich­ten, in der deut­schen Aus­ga­be 17 Geschich­ten (war­um eine nicht über­setzt wur­de, bleibt unklar) zu einer Art sozia­lem Pan­ora­ma zusam­men, in dem manch­mal sub­til und ange­deu­tet, manch­mal ganz direkt die Para­me­ter sozia­ler Sta­tus, Haut­far­be, Geschlecht, sexu­el­le Ori­en­tie­rung und Alter in der heu­ti­gen bra­si­lia­ni­schen Gesell­schaft ver­han­delt wer­den, immer vor dem Hin­ter­grund der ganz indi­vi­du­el­len Geschich­te, des nahen Blicks auf jede und jeden einzelnen. 

Car­la Bes­sa lässt alle Figu­ren mehr­mals auf­tau­chen, kün­digt sie an, führt ihre Bio­gra­fie in ande­ren Geschich­ten wei­ter. Gegen­stän­de wie ein Dame-Spiel, ein Tage­buch oder eine Schei­be Schin­ken tau­chen an ver­schie­de­nen Orten auf und ver­bin­den so die ein­zel­nen Epi­so­den. Ein­mal lässt die Autorin eine Kurz­ge­schich­te mit dem­sel­ben Satz begin­nen, mit dem sie die vor­he­ri­ge hat enden las­sen. Es ist pro­blem­los mög­lich, jede Geschich­te ein­zeln zu lesen, sie könn­ten für sich allein ste­hen, aber beson­ders viel Ver­gnü­gen macht das Ent­de­cken von Ver­bin­dun­gen, das Auf­de­cken von Zusammenhängen. 

Die­se Tech­nik des Ver­we­bens fin­det sich auch in ein­zel­nen Sze­nen wie­der. In der Geschich­te „Vul­ka­ne“ ver­schränkt sie das Essen eines Apfels mit den Bedeu­tun­gen des Ver­schlu­ckens, Ersti­ckens, der unver­dau­li­chen Lebensentscheidungen:

Num reflexo enfiou uma fatia gros­sa na boca, engo­liu sem mor­der. Engas­gou-se com a fru­ta e com lem­bran­ça do vel­ho e de toda uma não-vida uma escol­ha mal­fei­ta, que bur­ri­ce dob­rei a esquin­ha erra­da. Asfi­xiou com aque­la cer­te­za atrasa­da, tram­bol­ho fechan­do a gar­gan­ta ain­da mais que a maçã. Queria esque­cer, mas era mui­ta acumulação.

Reflex­ar­tig schob sie sich eine dicke Apfel­schei­be in den Mund, schluck­te ohne zu kau­en. Ver­schluck­te sich an dem Stück Apfel und an den Erin­ne­run­gen an den Alten und an ihr gan­zes Nicht­le­ben, eine ein­zi­ge schlecht getrof­fe­ne Wahl, wie blöd ich doch war, an der fal­schen Ecke abzu­bie­gen. Sie erstick­te an die­ser ver­spä­te­ten Erkennt­nis, einem Bro­cken, der ihr stär­ker zu schaf­fen mach­te als der Apfel. Sie woll­te ver­ges­sen, aber da hat­te sich zu vie­les angesammelt.

Eine beson­de­re Rol­le im Band spielt die Frau mit dem Bün­del (O embrul­ho), nach der eine der Kurz­ge­schich­ten benannt ist. Selbst wenn die Über­set­zung „Päck­chen“ viel­leicht übli­cher gewe­sen wäre, hilft Lea Hüb­ner dem Leser mit der Ent­schei­dung für „das Bün­del“, zumal es mit Stoff umwi­ckelt ist und nicht mit kan­ti­ger Pap­pe, ein wenig auf die Sprün­ge und deu­tet des­sen Inhalt bereits an. Auf­ge­löst wird die­ses Rät­sel jedoch erst in der letz­ten Geschichte. 

Wir ler­nen den ver­lieb­ten Bus­fah­rer Wel­ling­ton ken­nen, der auf sei­ner Rou­te zum Bus­bahn­hof über­fal­len wird und spä­ter für den ent­stan­de­nen Scha­den auch noch selbst auf­kom­men muss. Einer sei­ner Fahr­gäs­te ist eben die­se Frau mit ihrem Bün­del, umhüllt von einem Tuch, nicht zufäl­lig mit Vögeln bestickt.

Con­sta­ta: fora um par de gatos pin­ga­dos sur­fan­do lá para as ban­das do cos­tão, a pra­ia vazia. Apal­pa a bol­sa para cer­ti­fi­car-se de que o embrul­ho con­ti­nua ali, con­ti­nua. Enro­la­do num pon­cho azul com pas­sar­in­hos bord­ados baten­do asin­has no com­pas­so da sua tre­me­dei­ra. O Pon­cho: espó­lio da mãe que nem con­he­cer direi­to con­he­ceu. Nos últi­mos tem­pos vin­ha pen­san­do mui­to­nela, essa mãe que não teve.

Sie stellt fest: Bis auf ein paar ver­lo­re­ne Sur­fer drau­ßen vor der Bran­dung ist der Strand leer. Sie greift nach der Tasche um sich zu ver­si­chern, dass das Bün­del noch da ist. Ja, ist noch da. Ein­ge­wi­ckelt in einen Pon­cho, blau, mit Vögeln bestickt, die im Takt mit ihrem ner­vö­sen Zit­tern die klei­nen Flü­gel schla­gen. Der Pon­cho: Die Aus­steu­er der Mut­ter, die sie gar nicht rich­tig kann­te. In letz­ter Zeit hat sie öfter an sie den­ken müs­sen, an die­se Mut­ter, die sie nicht hatte.

Die­se Beschrei­bung der zit­tern­den Flü­gel haucht dem Bün­del auf ganz unheim­li­che Wei­se Leben ein und deu­tet die Ver­bin­dung zwi­schen der Frau und ihrem Bün­del an, was das bal­di­ge Ver­schar­ren am Strand noch ein biss­chen unheim­li­cher, ja grau­sa­mer macht. Das gan­ze Aus­maß der Tra­gö­die, wahr­schein­lich des Trau­mas, wird durch zwei sehr inten­si­ve Absät­ze deutlich:

Sob a pres­são da alça o ombro come­ça a doer. A cada vez o embrul­ho pare­ce mai­or, mais sem-jei­to de car­re­gar. Ou era ela fican­do vel­ha, fican­do fra­ca. Ao tro­car de bra­ço o olhar var­re o inte­ri­or da bol­sa. Os pas­sar­in­hos tre­me­li­cam. Sem tirá-la do ombro, se aco­co­ra. Esfre­ga um pun­ha­do de areia ent­re os dedos, leva à boca.
O tapa da mãe, paff!, acer­tou em cheio a orel­ha. Paff! Ficou sem ouvir por vári­as horas. O tabe­fe era uma das pou­cas lem­bran­ças que tin­ha daque­la que saiu de sua vida ain­da tão cedo, ela não sabia direi­to se viva ou se mor­ta, nin­guém nun­ca dis­se. Paff! Quan­tos anos teria, qua­t­ro, cin­co? Em todo caso, uma meni­no­ta. Mal tin­ha enfia­do a mão­zada de areia na boca e já o tapa. Sem tem­po de sen­tir dor, o estalo veio antes e a ensurdeceu.

Unter dem Druck des Gur­tes beginnt ihre Schul­ter zu schmer­zen. Jedes Mal scheint das Bün­del grö­ßer, schwie­ri­ger zu tra­gen. Oder sie wird alt, wird schwä­cher mit der Zeit. Als sie den Arm wech­selt, prüft ihr Blick den Taschen­in­halt. Die Vögel zit­tern. Ohne den Gurt von der Schul­ter zu strei­fen, kau­ert sie nie­der. Zer­reibt eine Hand­voll Sand zwi­schen den Fin­gern, führt sie zum Mund.
Die Ohr­fei­ge der Mut­ter, paff!, ein Voll­tref­fer. Paff! Meh­re­re Stun­den war sie taub auf dem Ohr. Der Schlag war eine der weni­gen Erin­ne­run­gen an die Mut­ter, die ihr Leben schon so früh ver­las­sen hat­te, sie weiß nicht, ob leben­dig oder tot, erzählt hat es ihr kei­ner. Paff! Wie alt mag sie gewe­sen sein, vier oder fünf? Auf jeden Fall noch ein klei­nes Mäd­chen. Sie hat­te kaum die Hand in den Mund gesteckt, da kam die Ohr­fei­ge. Ohne Zeit, Schmerz zu emp­fin­den, der Knall kam vor­her und mach­te sie taub.

In der Geschich­te „Zum Bei­spiel Apri­ko­sen“ ent­hüllt Car­la Bes­sa wei­te­re Ein­zel­hei­ten zum Leben der Frau mit dem Bün­del. Nach­dem sie das Bün­del am Strand ver­scharrt hat, setzt sie sich vor einen Kiosk, und wäh­rend sie Toast bestellt und auf ihren hei­ßen Kaf­fee pus­tet, blit­zen die bedrü­cken­den Details durch, die von der ver­schwun­de­nen Mut­ter, von Inzest, dem Miss­brauch durch den „schwa­chen“ ver­las­se­nen Vater berich­ten, der Buli­mie. Beson­ders ver­stö­rend wirkt die unver­mit­tel­te, bei­läu­fi­ge Art, in der sie sich einem frem­den Kiosk­be­sit­zer mit­teilt, des­sen berufs­be­ding­te Zuwen­dung von ihr als Auf­for­de­rung zum Wei­ter­erzäh­len gele­sen wird. Bei­den scheint ohne­hin klar, dass sie über die Trau­ma­ta ihrer Kind­heit den Ver­stand ver­lo­ren hat: „Bin ich ver­rückt? Es ist eine rhe­to­ri­sche Fra­ge und so setzt sie sich ans Ende der Bank beim Kiosk.“

In „Vari­an­te ohne Verb“ beschreibt Car­la Bes­sa den erfolg­lo­sen Ver­such Álva­ros, in des­sen Bäcke­rei sich der­weil der über­fal­le­ne Bus­fah­rer betrinkt, der gera­de Ver­stor­be­nen einen Brief in den Sarg zu legen. Es ist der Brief, in dem er ihr end­lich sei­ne lebens­lan­ge, uner­füll­te Lie­be gesteht. Durch das Weg­las­sen der Ver­ben gelingt es Car­la Bes­sa erneut einen Sog zu erzeu­gen, in dem der Druck und die Ver­zweif­lung Álva­ros, sei­ner letz­ten, ja aller­letz­ten Chan­ce, regel­recht spür­bar wird:

Álva­ro, depois daque­la con­fusão, ago­ra sozin­ho bem per­to do caixão. Quan­do, súbi­to, duas evan­gé­li­cas com cami­se­tas „Jesus-te-ama“ e em fol­has de papel com letras colos­sais: a ora­ção para a mor­ta. As mul­he­res ali, sem con­vi­te nem ver­gon­ha. Fora de hora e de propó­si­to. Umas pene­tras. As pene­tras da pre­ce. Para Álva­ro, mais um estor­vo, mais um obstá­cu­lo ent­re ele e a mor­ta. E depois da reza, o caixão fecha­do, a pro­cis­são, tudo tão rápi­do e Álva­ro para trás com a car­ta de despe­di­da no bol­so e o can­sa­ço de toda uma vida com aque­le amor tijo­lo no pei­to.
Com uma mão no bol­so em vol­ta da car­ta amassa­da e out­ro bra­ço em ris­te: um der­ra­dei­ro ace­no: adeus.

Álva­ro, nach dem gan­zen Cha­os allein, ganz dicht am Sarg. Doch plötz­lich zwei Pfingst­kirch­le­rin­nen mit „Jesus-liebt-dich“ T‑Shirts und auf Zet­teln in Rie­sen­let­tern: Das Gebet für die Ver­stor­be­ne. Also die­se Frau­en, ein­fach so, ohne Ein­la­dung und ohne Skru­pel. Sowohl fal­scher Moment als auch ver­fehl­te Absicht. Ein­dring­lin­ge. Gebets­wü­ti­ge Ein­dring­lin­ge. Für Álva­ro nicht nur Stö­rung, son­dern auch Hür­de zwi­schen ihm und der Toten. Und nach dem Gebet Sarg zu und Abmarsch der Pro­zes­si­on, alles so schnell, und Álva­ro ganz hin­ten, mit dem Abschieds­brief in der Tasche und der Erschöp­fung eines gan­zen lan­gen Lebens mit die­sem Zie­gel­stein von Lie­be im Her­zen.
Eine Hand in der Tasche, den zer­knit­ter­ten Brief fest umschlos­sen, die ande­re zum Gruß in der Höhe, ein letz­tes Win­ken: Ade.

Die Über­set­zung die­ser beson­de­ren Kon­struk­ti­on ist Lea Hüb­ner durch­weg gelun­gen. Sie hat ihre eige­nen Satz­struk­tu­ren und Wort­stel­lun­gen im Deut­schen gefun­den, die ohne Sinn­ver­zer­rung oder gar Ver­lust das gan­ze Dra­ma des beschrie­be­nen Unter­fan­gens vermitteln. 

Gene­rell fin­det Lea Hüb­ner immer wie­der geschmei­di­ge und gut funk­tio­nie­ren­de Lösun­gen für idio­ma­ti­sche Wen­dun­gen oder Bil­der und erhält die Fri­sche der Spra­che durch ein heu­ti­ges Deutsch sowie durch die Über­nah­me der teil­wei­se eigen­wil­li­gen Inter­punk­ti­on und der ono­ma­to­poe­ti­schen Krea­tio­nen (aff, glub blub). Für die Neo­lo­gis­men hat sie über­zeu­gen­de Ent­spre­chun­gen gefun­den, bei­spiels­wei­se mit „das Sir­ren der Schlech­tes-Gewis­sen-Schna­ke“ für „o zum-zum da con­sciên­cia-per­ni­lon­go zunindo“.

Es gibt nur weni­ge Aus­nah­men, zum Bei­spiel erscheint die eine oder ande­re Voka­bel im Deut­schen zu brav, viel­leicht alt­ba­cken. So über­setzt sie „garoto“ mehr­mals mit „Gespie­len“, ein nicht nur alt­mo­di­sches, son­dern auch eher sper­ri­ges Wort. Zuge­ge­be­ner­ma­ßen macht es die deut­sche Spra­che der Über­set­ze­rin auch nicht leicht, man­gelt es doch an Begrif­fen, mit denen man jun­ge Men­schen bezeich­net, bei denen aber eine sub­ti­le Kon­no­ta­ti­on und eine fei­ne­re Alters­ab­stu­fung mit­schwin­gen und die weder alt­mo­disch noch all­zu jugend­lich anbie­dernd klin­gen. Eine Wie­der­ho­lung des ein­fa­chen „Jun­gen“ für „garoto“ erscheint da fast unausweichlich. 

Als regel­recht stö­rend könn­te man die Wahl des „Jes­ses Maria“ bezeich­nen, ein regio­nal deut­lich ein­ge­grenz­ter Aus­ruf, bei dem der dies aus­ru­fen­de Bra­si­lia­ner urplötz­lich in Leder­ho­se vor dem inne­ren Auge steht. Ein ver­wir­ren­der Moment, den Lea Hüb­ner hät­te ver­mei­den kön­nen, wenn sie auf über­re­gio­nal ver­brei­te­te Wen­dun­gen wie „mein Gott“ zurück­ge­grif­fen hät­te. Zumal die por­tu­gie­si­schen Ent­spre­chun­gen (z. B. Jesus oder San­tís­si­ma) auch kei­ne ört­li­che Begren­zung aufweisen. 

Ins­ge­samt hat es Lea Hüb­ner geschafft, das Kom­pak­te an Car­la Bes­sas Stil genau so dicht und trotz­dem flie­ßend und rhyth­misch ins Deut­sche zu über­set­zen und die Geschwin­dig­keit zu hal­ten, gera­de dann, wenn Erin­ne­run­gen und gegen­wär­ti­ge Abläu­fe regel­recht inein­an­der­flie­ßen und so ein mit­rei­ßen­des Tem­po erzeu­gen. Dank die­ser umfas­sen­den Qua­li­tä­ten bei der Über­set­zung aus dem bra­si­lia­ni­schen Por­tu­gie­sisch ins Deut­sche lesen sich die Geschich­ten aus Uru­bus mit Sog­kraft und man kann sich gänz­lich auf die dif­fe­ren­ziert gezeich­ne­ten Figu­ren und ihre Lebens­we­ge ein­las­sen. So begeg­nen uns ver­pass­te Lie­bes­be­zie­hun­gen und über­bor­den­de Reue am Lebens­abend. Ein schwer ver­lieb­ter Bus­fah­rer. Stra­ßen­kin­der auf einer Müll­kip­pe. „Ein ent­zau­ber­ter Prinz“, der von sei­nem käuf­li­chen Freund ver­las­sen wird und sich zurück in einen Frosch ver­wan­delt, der sich nie wie­der ver­lie­ben soll. Einem Land­flücht­ling, ehe­ma­li­ger Schuh­put­zer, der nun eine Anstel­lung als Pfört­ner hat und den so etwas All­täg­li­ches wie sei­ne Ver­dau­ung von dem ent­schei­den­den Moment sei­ner beruf­li­chen Ver­ant­wor­tung abhält. Und wahr­schein­lich am ein­dring­lichs­ten: das Schick­sal der Frau ohne Namen, aber mit Bün­del in einer Umhän­ge­ta­sche und einer leid­vol­len Geschich­te, die ver­stört und beun­ru­higt. Car­la Bes­sa nimmt kei­ne Rück­sicht, schont uns nicht, zeigt Wahr­hei­ten, die unbe­quem, schmerz­haft sind. Aber sie ent­blößt ihre Figu­ren nicht und lässt trotz der Schwe­re des Lebens sogar ein, viel­leicht zwei Mal ein wenig Hoff­nung auf­kom­men. Ein berüh­ren­des und berei­chern­des Lese­er­leb­nis, im Ori­gi­nal von Car­la Bes­sa, aber auch als Über­set­zung von Lea Hübner.

Uru­bus

Im bra­si­lia­nisch-por­tu­gie­si­schen Ori­gi­nal: Uru­bus

Tran­sit 2021 ⋅ 112 Sei­ten ⋅ 16 Euro


Buchcover des Romans Tiepolo Blau von James Cahill. Auf dem Cover ist eine Büste auf blauem Grund zu sehen, die an der Nasenwurzel abgeschnitten ist.

Das Blau des Himmels

In James Cahills Roman­de­büt „Tie­po­lo Blau“ wird ein zurück­ge­zo­gen leben­der Pro­fes­sor von einem moder­nen Kunstwerk… 
Cover von Pol Guaschs Roman Napalm im Herzen. Illustration eines jungen Menschen mit dunklen Haaren in grellen Rottönen.

Nach der Katastrophe

In „Napalm im Her­zen“ erzählt der kata­la­ni­sche Autor Pol Guasch eine que­e­re Lie­bes­ge­schich­te in einem… 
Cover von Samantha Harveys Roman Umlaufbahnen. Im Hintergrund ist ein Foto der Erdatmosphäre.

In eige­nen Sphären

In ihrem Roman „Umlauf­bah­nen“ hin­ter­fragt Saman­tha Har­vey die mensch­li­che Exis­tenz im Uni­ver­sum – und erhielt… 

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