Knapp 40 Seiten, und das auch nur dank der großen, luftig gesetzten Schrift auf recht kleinem Format. Annie Ernaux’ neue autobiographische Erzählung Der junge Mann, erschienen Ende Januar in der Übersetzung von Sonja Finck im Suhrkamp Verlag, ist ein so schmaler Band, dass man ihn verwundert hin und her wendet, bevor man mit der Lektüre beginnt. Das soll alles sein? Und kaum hat man dann angefangen, ist der Text auch schon wieder ausgelesen. Das ist alles – aber es steckt eine ganze Menge in diesem schmalen Band.
Trotzdem sind wohl allein wegen der extremen Kürze des Textes die Reaktionen nach Erscheinen der deutschen Übersetzung für Ernaux-Verhältnisse ungewöhnlich gemischt. Vielen sonst begeisterten Ernaux-Leser*innen sind die knapp 40 Seiten schlicht zu wenig. Der französischen Originalausgabe ist es ähnlich ergangen. Die ist allerdings schon im Mai 2022 erschienen, also vor Ernaux’ Auszeichnung mit dem Literaturnobelpreis im letzten Herbst. Auch wenn bei deutschsprachigen Leser*innen vielleicht der Eindruck entstehen mag – mit dem erwartbaren Anstieg der Verkaufszahlen nach der Preisvergabe hat die Entscheidung, den Text als eigenständiges Buch zu drucken, also nichts zu tun. Nachvollziehbar ist die Enttäuschung vieler Leser*innen aber zumindest in einer Hinsicht: Man wäre Ernaux’ Überlegungen zum vordergründigen Thema der Erzählung gerne noch länger gefolgt. Sie erzählt in Der junge Mann von der leidenschaftlichen Beziehung, die sie als ältere Frau mit einem jüngeren Mann eingegangen ist – und die sie wichtige Momente ihrer Vergangenheit noch einmal durchleben lässt.
Viele Leser*innen scheinen sich schwer damit zu tun, dass Ernaux’ Darstellung dieser Beziehung mit der gewohnten analytischen Schärfe und schonungslosen Genauigkeit, also recht nüchtern, erfolgt. Andere sehen gerade in der unumwundener Darstellung dieses so intimen Themas einen emanzipatorischen Befreiungsschlag, wie Marie Schmidt, die in einem Artikel für die Süddeutsche Zeitung die Erzählung der Beziehung zwischen Ernaux und dem „jungen Mann“ im Kontext anderer literarischer und filmischer Darstellungen von Beziehungen zwischen ‚älteren‘ Frauen und ‚jüngeren‘ Männern seit Mitte des vergangenen Jahrhunderts betrachtet. Der Text selbst aber sei „kein Hauptwerk, eher eine Notiz“, findet sie.
Deutlich abfälliger urteilt Jörg Magenau im RBB. Der junge Mann sei „allenfalls eine Fußnote im Werk von Annie Ernaux“. Man möchte ihm raten, das „Büchlein“ doch einfach gleich nochmal zu lesen. Denn der Text ist nicht nur kurz, sondern auch sehr dicht und hat mehr zu bieten als das Thema des – zu Magenaus Enttäuschung – heutzutage gar nicht mehr ganz so skandalösen Liebeslebens einer nicht mehr ganz jungen Frau: Er ist, wie Katharina Borchardt und Kristine Harthauer im Gespräch im SWR feststellen, weit mehr als „ein PS“, „eher ein Schlüssel zum Werk, eine Art Essenz.“ Der junge Mann eröffnet einen ganz neuen Blick auf Annie Ernaux’ Werk. Aber dazu später mehr.
Zunächst also erzählt Annie Ernaux in Der junge Mann von der leidenschaftlichen Liebesbeziehung, die sie als Mittefünfzigjährige mit einem Mittezwanzigjährigen in den Jahren 1998 und 1999 erlebt. „A.“ ist Student in Rouen, der Stadt, in der auch Ernaux in den 1960er Jahren Studentin gewesen ist. Er ist in einem ganz ähnlichen Milieu aufgewachsen wie sie dreißig Jahre früher, kommt aus einer Arbeiterfamilie, aus der Provinz in die Stadt und an die Universität. A. lebt in einer kleinen, zugigen Wohnung gegenüber des Hôtel-Dieu-Krankenhauses, in das Ernaux gebracht wurde, als sie 1964 nach einer heimlichen Abtreibung fast verblutet wäre.
Die Geschichte dieser Abtreibung erzählt Ernaux bereits in dem 2000 erschienen Roman L’événement (auf Deutsch 2021 erschienen als Das Ereignis, ebenfalls in der Übersetzung von Sonja Finck). In einer unvergesslichen Szene beschreibt sie, wie sie, nachdem ihr Körper den Embryo abgestoßen hat, in ihrem Zimmer im Studentinnenwohnheim die Nabelschnur durchtrennt, ohne die Blutung zu stoppen. Sie ist alleine und weiß es nicht besser. Und das hätte sie fast das Leben gekostet.
Die Zeit ihrer Beziehung zu A. entspricht der Zeit, in der sie Das Ereignis schreibt. Wie schwierig dieser Schreibprozess, der Prozess des Sich-Erinnerns ist, ist in zahlreichen metareflexiven Anmerkungen und Andeutungen im Roman selbstdeutlich spürbar. „Jene Jahre waren mir nur durch eine enorme Abstraktionsleistung zugänglich“, heißt es dort zum Beispiel. Von der zentralen Rolle, die ein gewisser junger Mann für das Verfassen dieses Textes gespielt hat, fehlt allerdings jede Spur.
In Der junge Mann lässt Ernaux von Anfang an keinen Zweifel daran, dass es ihr weniger um den im Titel Genannten geht, als um sich selbst. Um das, was sie mit und durch ihn erlebt – und vor allem um das, was sie durch dieses Erleben endlich aufzuschreiben kann. A. ist letztlich austauschbar. Er erfüllt eine bestimmte Funktion, ist eine Art Katalysator für ihr Schreiben.
Souvent j’ai fait l’amour pour m’obliger à écrire. Je voulais trouver dans la fatigue, la déréliction qui suit, des raisons de ne plus rien attendre de la vie. J’espérais que la fin de l’attente la plus violente qui soit, celle de jouir, me fasse éprouver la certitude qu’il n’y avait pas de jouissance supérieure à celle de l’écriture d’un livre. C’est peut-être ce désir de déclencher l’écriture du livre – que j’hésitais à entreprendre à cause de son ampleur – qui m’avait poussée à emmener A. chez moi boire un verre après un dîner au restaurant où, de timidité, il était resté quasiment muet. Il avait presque trente ans de moins que moi.
Ich hatte schon oft Sex, um mich zum Schreiben zu zwingen. In dem anschließenden Zustand der Erschöpfung, der Verlorenheit wollte ich Gründe dafür finden, nichts mehr vom Leben zu erwarten. Ich hoffte, nachdem die heftigste Erwartung vorbei wäre, die des Orgasmus, würde sich die Gewissheit einstellen, dass es nichts Lustvolleres gibt, als ein Buch zu schreiben. Vielleicht lag es an diesem Bedürfnis, das Schreiben in Gang zu setzten – wegen seines Ausmaßes zögerte ich, das Buch anzugehen –, dass ich A. nach einem Abendessen im Restaurant, wo er vor Schüchternheit kaum etwas sagte, noch auf ein Getränk mit zu mir nahm. Er war fast dreißig Jahre jünger als ich.
Hier kehrt sich ein Verhältnis um, das in umgekehrter Genderrollenverteilung längst zum literarischen Topos geworden ist (und allzu oft mit reichlich Altherrenkitsch daherkommt): der ältere Schriftsteller und seine jüngere Muse. Bei Ernaux bleibt dieses Verhältnis aber nicht bloß Topos, es wird in seinen verschiedenen sozialen Dimensionen genau (wenn vielleicht auch nicht sehr ausführlich) in den Blick genommen.
Mon corps n’avait plus d’âge. Il fallait le regard lourdement réprobateur de clients à côté de nous dans un restaurant pour me le signifier. Regard qui, bien loin de me donner de la honte, renforçait ma détermination à ne pas cacher ma liaison avec un homme «qui aurait pu être mon fils» quand n’importe quel type de cinquante ans pouvait s’afficher avec celle qui n’était visiblement pas sa fille sans susciter aucune réprobation.
Mein Körper hatte kein Alter mehr. Erst der zutiefst missbilligende Blick der Gäste am Nebentisch im Restaurant rief es mir wieder in Erinnerung. Ein Blick, der mich gerade nicht mit Scham erfüllte, sondern mich darin bestärkte, meine Beziehung zu einem Mann, der „mein Sohn hätte sein können“, nicht zu verstecken, wenn jeder Mittfünfzigjährige eine junge Frau an seiner Seite haben konnte, die offensichtlich nicht seine Tochter war, ohne Missbilligung zu erregen.
Wir erleben Annie Ernaux befreit vom Gefühl der Scham, das sie als sozialen Affekt in all seinen Dimensionen in früheren Texten, namentlich Die Scham (La Honte, 1997, dt. Übersetzung, ebenfalls von Sonja Finck, 2020) seziert; die fremden Blicke, die sie in dieser Passage erwähnt, lösen jetzt im Gegenteil sogar eine Art „Triumphgefühl“ in ihr aus. Wir lesen von einer Leidenschaft, die keine Regeln kennt, in der gerade der Altersunterschied konventionelle Rollenverteilungen ein Stück weit außer Kraft zu setzen scheint.
Entscheidend ist für sie aber nicht einfach, sich jung zu fühlen, sondern sich wieder jung zu fühlen, zurückkatapultiert zu werden und Momente und Aspekte ihrer eigenen Jugend noch einmal zu durchleben. Einerseits, weil ihr das dabei hilft, sich bestimmte Details zu ihrer Abtreibung in Erinnerung zu rufen und diese Zeit für den Roman Das Ereignis zu rekonstruieren. Andererseits aber – und hier tut sich ein ganz neuer Blick auf ihr Schreiben insgesamt auf – weil das Erlebte gerade durch das Gefühl, es noch einmal zu erleben, eine ganz bestimmte, quasi-literarische Qualität erhält:
La principale raison que j’avais de vouloir continuer cette histoire, c’est que celle-ci, d’une certaine manière, avait déjà eu lieu, que j’en étais le personnage de fiction. […]
J’avais conscience qu’envers ce jeune homme, qui était dans la première fois des choses, cela impliquait une forme de cruauté. Invariablement, à ses projets d’avenir avec moi, je répondais : « le présent suffit », ne disant jamais que le présent n’était pour moi qu’un passé dupliqué.
Der Hauptgrund, warum ich unsere Geschichte fortführen wollte, war, dass sie in einem gewissen Sinne bereits stattgefunden hatte und ich darin eine fiktive Figur war. […]
Mir war bewusst, dass all das gegenüber dem jungen Mann, der die Dinge zum ersten Mal erlebte, eine Form der Grausamkeit war. Auf seine Zukunftspläne mit mir antwortete ich unweigerlich: „Die Gegenwart reicht doch“, sagte aber nie, dass die Gegenwart für mich nur eine Täuschung war, ein Duplikat der Vergangenheit.
Hier wird mehr als deutlich, mit welcher Präzision jedes Wort in dieser so dichten wie sprachlich schlichten Erzählung gesetzt ist – und dass Sonja Fincks ebenso kunstvoll-präzise Übersetzung dem Original darin absolut gerecht wird. Dass Der junge Mann – auch, oder vielleicht vor allem − davon erzählt, wie sich Schreiben und (Er)leben gegenseitig durchdringen, ist an feinen Vibrationen im Text sprachlich spürbar, und bleibt es auch in der deutschen Übertragung: „Unsere Geschichte“ („cette histoire“) beispielsweise schwebt zwischen beidem genau wie sich Annie Ernaux in dieser „Geschichte“ mit dem jungen Mann in diesem Zwischenzustand bewegt. Der für Ernaux’ Werke häufig verwendete Begriff ‚Autofiktion‘ erhält hier eine ganz neue Bedeutung.
[…] avec A., j’avais l’impression de rejouer des scènes et des gestes qui avaient déjà eu lieu, la pièce de ma jeunesse. Ou encore celle d’écrire/vivre un roman dont je construisais avec soin les épisodes.
[…] mit A. [hatte ich] den Eindruck, Szenen und Gesten wiederaufzuführen, die bereits stattgefunden hatten, das Theaterstück meiner Jugend. Oder einen Roman zu schreiben/zu erleben, dessen Episoden ich sorgfältig konstruierte.
Es ist mit Sicherheit kein Zufall, dass dieses „zu schreiben/zu erleben“ („d’écrire/vivre“), die einzige Verwendung des Schrägstrichs in diesem sorgfältig konstruierten Text, genau in dessen Mitte steht. Das Verhältnis von Schreiben und Leben und die Tatsache, dass und wie das eine vom anderen nicht unberührt bleibt, ist das zentrale Thema der Erzählung.
Der junge Mann ist wie ein Negativ der zahlreichen in Klammern gesetzten Abschnitte, in denen Ernaux in Das Ereignis den Prozess des Schreibens an diesem Roman kommentiert. Die Erzählung ist keine Randnotiz, kein PS zum Werk, nicht bloß eine „Fußnote“, sondern trifft genau in dessen Mitte. Es braucht und verdient es, als eigenständiges Buch zu erscheinen.
Erscheinen und Entstehen des Textes trennen übrigens etwa 20 Jahre. Zudem ergibt sich für französischsprachige und deutschsprachige Ernaux-Leser*innen eine vielleicht spannende Verschiebung: Während zwischen dem Erscheinen der Originale L’événement und Le jeune homme fast 25 Jahre liegen, sind die Übersetzungen Das Ereignis und Der junge Mann mit nur eineinhalb Jahren Abstand erschienen. Französischsprachige Leser*innen machen also vielleicht auch selbst die Erfahrung, ein lange zurückliegendes (Lese-)Erlebnis noch einmal zu durchleben; deutschsprachige Leser*innen bekommen Der junge Mann zügig ‚nachgeliefert‘, was vielleicht auch den Eindruck, eher ein Nachwort, einen Kommentar zu lesen als eine ganz neue Erzählung, ein wenig nachvollziehbar macht.
Und noch in einer weiteren Hinsicht ist dieser Eindruck berechtigt: Wer mit Der junge Mann zum ersten Mal einen Text von Annie Ernaux liest, dem wird vielleicht tatsächlich etwas fehlen – der wird dann wohl aber umso mehr ins Werk der Autorin eintauchen wollen. Wer nach diesen 40 unglaublich dichten, von Sonja Finck beeindruckend präzise übersetzten Seiten noch nicht genug hat, liest sie also einfach gleich nochmal – und Das Ereignis oder andere Erzählungen von Ernaux gleich dazu.