Zur Vorbereitung auf mein Interview mit Olaf Kühl dröhnt lauter Hiphop auf Polnisch aus den Lautsprechern meines Laptops. Mister D. rappt über Brot, glotzende Männer und übers Sterben. Die zentralen Themen des Lebens also.
„On mówi, że jego stara
Chleba nie kupuje, tylko piecze sama
Kiedyś ciągle najebana, teraz uśmiech ma na twarzy
Chleb se wypieka, o śmierci już nie“
„Er sagt, seine alte Dame
Sie kauft kein Brot, sie bäckt es selbst
Früher war sie ständig betrunken, jetzt hat sie ein Lächeln im Gesicht
Sie bäckt ihr eigenes Brot, sie denkt nicht an den Tod“
(Übersetzung von DeepL)
Mister D. ist eine Frau, heißt im wahren Leben Dorota Masłowska und ist Schriftstellerin. Mit 18 veröffentlichte sie ihren Debütroman Wojna polsko-ruska pod flagą biało-czerwoną und wird seither als Polens Literatur-Shootingstar gefeiert.
Die deutsche Stimme der Masłowska
Viele ihrer Romane und Theaterstücke handeln von Drogenexzessen, den Menschen am Rande der polnischen Gesellschaft und den Klischees, die die Leute übereinander erzählen. Ihre Sprache ist rau, zornig und rebellisch, steckt voller Slang, schwarzem Humor und Rap, aber mindestens genauso viel Poesie und Zärtlichkeit. Masłowska, heute 40 Jahre alt, wird gelegentlich verglichen mit anderen literarischen Eigenbrötler:innen wie Irvine Welsh oder Sibylle Berg.
Seit ihrem Debüt übersetzt Olaf Kühl die Bücher von Dorota Masłowska ins Deutsche. Ihm hat Masłowska einen Teil ihres Erfolgs in Deutschland zu verdanken. Selbst dem Feuilleton, das oft blind ist für Übersetzungskritik, fallen seine Leistungen gelegentlich auf. Mit Kühl bin ich verabredet, kurz nach 11 Uhr öffnet sich der digitale Raum zur Zoom-Konferenz. Mir gegenüber sitzt ein schlanker Mann, Jahrgang 1955, in einem dunkelblauen Hemd ohne Ärmel.
Kühl sitzt am Schreibtisch, hinter ihm eine Privatbibliothek in Holzregalen, an der Wand drei gerahmte Porträts. Olaf Kühl wohnt seit seinem Studium in Berlin. Nach unserem Interview macht er sich auf den Weg nach Polen, ins Dörfchen Dominikowo, wo er ein paar Tage mit den Enkelkindern auf dem Land verbringen möchte.
Karriere per Zufall
Kühl gilt als einer der herausragendsten Übersetzer:innen für slawische Sprachen in Deutschland. Seine Übersetzungen aus dem Polnischen, Russischen und Ukrainischen sind schon vielfach ausgezeichnet worden, etwa mit dem Helmut‑M.-Braem-Preis 2018. Unter den übersetzten Autor:innen finden sich zahlreiche renommierte Namen. Neben Dorota Masłowska beispielsweise Szczepan Twardoch, Michail Chodorkowski, Witold Gombrowicz und Andrzej Stasiuk.
Olaf Kühl arbeitete lange Jahre als Russlandreferent für Berlins regierende Bürgermeister. In dieser Zeit beriet er die Politik zu Osteuropa und beobachtete, wie Russland immer mehr in Richtung Diktatur abglitt. In Z. Kurze Geschichte Russlands, vom Ende her gesehen rechnet er auf 224 Seiten mit dem Putin-Regime ab. Es ist Kühls erstes Sachbuch, davor hat er Belletristik verfasst. Für Der wahre Sohn stand er 2013 auf der Longlist des deutschen Buchpreises.
Wie ist Olaf Kühl aber zum Übersetzen gekommen? Kühl holt zu einer Geschichte mit Umwegen aus. Nach dem Abitur wollte er Schriftsteller werden – und raus aus Europa. Zunächst legt er aber einen Zwischenstopp in Paris ein. Dort schlägt er sich durch, will Geld verdienen für einen Transatlantikdampfer nach Argentinien.
Aber daraus wurde nichts. Kühl, geboren im friesischen Sanderbusch, zieht um nach Westberlin, er möchte dem Dienst an der Waffe entfliehen. Dort immatrikuliert er sich für Psychologie an der Technischen Universität und belegt im ersten Semester einen Russischkurs. „Unsere Dozentin aus Leningrad war knallhart“, sagt er. Sie habe keine Rücksicht darauf genommen, ob irgendjemand im Kurs auch nur ein Wort versteht, sondern einfach drauflosgesprochen.
Warum ausgerechnet Russisch? Darüber rätselt Olaf Kühl bis heute. Er kann nicht erklären, warum er sich für die Sprache entschieden hat. Aber Russisch fasziniert ihn, vor allem der Klang der Sprache. Also bricht er sein Psychologiestudium ab, wechselt an die Freie Universität und schreibt sich am Osteuropainstitut für Slawistik und Osteuropäische Geschichte ein. Russisch wird seine Hauptsprache, daneben lernt er Polnisch und Serbisch.
Erster Auftrag: Gombrowicz
Im Studium sei Kühl ein „wahrer Russlandfreak“ und Kommunist ohne Parteibuch gewesen, sagt er. Er wälzt die Klassiker der sozialistischen Literatur und in der WG-Küche hängt ein goldgerahmter Lenin an der Wand. Erst als er seine Frau heiratete, eine Polin, habe ihn die dazugewonnene Verwandtschaft politisch begradigt. Die Distanz der Pol:innen zu Russland sei Kühl schon früh aufgefallen. „Als ich 1977 zum ersten Mal in Polen war, musste ich im Restaurant lange warten, weil ich mein Essen auf Russisch bestellt hatte“, erinnert er sich.
Als er fertig ist mit dem Studium, existiert die Sowjetunion noch. „Ich dachte, ich finde bestimmt einen Job als Berater“, sagt Kühl. „Aber Pustekuchen.“ Wieder muss er sich durchschlagen, diesmal als Vater zweier Kinder. Kühl arbeitet in verschiedenen Berufen, als Nachtwächter und als Verkäufer in einer Eisdiele.
Dann ruft sein ehemaliger Professor an. „Er fragte mich, ob ich an einer Neuübersetzung von Witold Gombrowicz für den Hanser Verlag mitarbeiten möchte“, sagt Olaf Kühl. Eine Ehre und Herausforderung, denn bis dato hatte er kaum Erfahrung im Übersetzen. „Aber dadurch war ich im Geschäft.“ Sechs Jahre übersetzt Kühl als Freiberufler Literatur. „Damit war ich sehr glücklich. Als literarischer Übersetzer verdient man zwar wenig, aber wenn man viel arbeitet, kann man davon leben.“
25 Jahre in der Politik
1987 macht ihn Karl Dedecius, damals Direktor des Polen-Instituts in Darmstadt, auf eine Stellenausschreibung aufmerksam: Die Senatskanzlei in Berlin suchte einen Übersetzer und Dolmetscher für Russisch, Polnisch, Serbokroatisch und Englisch. Aber als Übersetzer in der Verwaltung versacken, statt Literatur zu übersetzen? „Mich hat das überhaupt nicht gereizt“, gibt Kühl zu.
Und dennoch wirft Kühl am letzten Tag der Bewerbungsfrist ein handgeschriebenes Anschreiben beim Rathaus in Schöneberg ein – in der Hoffnung, dass man sich für das Interesse bedankt und die Bewerbung freundlich ablehnt. Es folgen allerdings ein Auswahlverfahren, eine Sicherheitsprüfung und ein Sprachentest beim Auswärtigen Amt.
Parallel dazu promoviert Kühl in polnischer Literatur. Danach wechselt er 1996 in die analytische Abteilung und arbeitet halbtags als Russlandreferent, bis er 2021 in den Ruhestand geht. „Ich hatte mich beworben, um Karl Dedecius, einer Respektsperson, der ich viel zu verdanken habe, einen Gefallen zu tun“, sagt Olaf Kühl.
Neben der Politik übersetzt Kühl. Zweimal habe die Berliner Verwaltung versucht, ihn von einem Vollzeitjob im öffentlichen Dienst zu überzeugen. Zweimal gelang es ihm, an der Doppelgleisigkeit festzuhalten. Als literarischer Übersetzer hat Olaf Kühl einen massenhaften Output, feinsäuberlich dokumentiert auf seiner Website. Wie schafft er das? „Ich gehe abends nicht in Kneipen“, antwortet Kühl nordisch-knapp.
Masłowska: Begeisterung auf den zweiten Blick
Aber den Kneipenabenden abzuschwören, ist allein kein Erfolgsgarant. Olaf Kühl ist ein arbeitsamer Mensch, sagt er. Ein Werktag ist durchgetaktet: Erst am Nachmittag übersetzt Kühl, davor schreibt er, entweder Tagebuch oder Fiktion. Das sei nicht nur eine Stilübung, sagt er. Obwohl Politik und Übersetzung eine dominante Rolle in seinem Schaffen spielen, sei das Schreiben immer noch das, was er am liebsten mache. Sein Debüt Tote Tiere von 2011 habe vor der Veröffentlichung schon einige Jahre in der Schublade gelegen.
Neben den Werken von Witold Gombrowicz zählen für ihn die Bücher von Dorota Masłowska zu seinen übersetzerischen Highlights. Aber wie kam der Kontakt zu der Starautorin zustande?
2002 habe ihm der ukrainische Schriftsteller Andrij Bondar das Masłowska-Debüt begeistert empfohlen, antwortet Kühl. Als er gerade in einem Hotel in Radom übernachtete, blätterte er durch den Roman. Die Handlung langweilte ihn. Zu Beginn der Geschichte ersäuft der Ich-Erzähler seinen Liebeskummer in Alkohol und betäubt jeden Schmerz mit allerlei Drogen. Nach zehn Seiten warf er das Buch in den Papierkorb. „Das ist ja der letzte Mist, dachte ich.“ Dem Suhrkamp-Verlag riet Kühl von einer Herausgabe ab.
Ein halbes Jahr später meldete sich Kiepenheuer & Witsch bei Kühl. Kurz vorher hatte er Die Mauern von Hebron übersetzt, einen Gefängnisroman von Andrzej Stasiuk mit viel Fäkalsprache und Gefluche. „Ich hatte mir wohl einen Ruf für dreckige Literatur erarbeitet und der Verlag dachte, ich könnte deshalb auch Dorota Masłowska übersetzen“, sagt Kühl. Er gibt dem Roman also eine zweite Chance – und entdeckt darin mehr Fantasie, als er zuerst erwartet hatte. „Als jemand plötzlich Steine in die Badewanne kotzte, war ich gefesselt.“
Hiphop übersetzen
Seitdem ist Olaf Kühl die deutsche Stimme von Dorota Masłowska. An ihrem zweiten Roman Paw królowej habe er drei Jahre gesessen, sagt er. Allein der Titel ist eine Herausforderung. Auf Polnisch bedeutet er „Die Pfauenkönigin“, man kann ihn aber auch als „Die Kotze der Königin“ verstehen. Um diese Doppeldeutigkeit ins Deutsche zu transportieren, machte Kühl daraus Die Reiherkönigin.
Die Unübersetzbarkeit zieht sich aber durch den gesamten Roman. Die Reiherkönigin ist ein Rap von Seite 1 bis Seite 192, verfasst in Rhythmus und Binnenreimen. Olaf Kühl gelingt es dennoch, den Hiphop wirkungsgleich ins Deutsche zu bringen. „Jede Passage, die ich übersetzt hatte, habe ich auf dem Klavier gespielt, um zu schauen, ob der Rhythmus des Raps auf Deutsch funktioniert“, sagt Kühl. Das mache den Reiz der Masłowska-Übersetzungen aus: Sie zwinge ihn immer wieder dazu, kreativ zu werden, um ihre poetische Prosa ins Deutsche zu retten.
Inspiration für seine Übersetzung schöpft Olaf Kühl übrigens nicht aus zeitgenössischer Belletristik. Wie anfangs auch Masłowska langweilten ihn viele junge Schriftsteller:innen, sagt er. Die hätten oft in Literaturschulen ein grandioses Handwerk erlernt, aber was haben die schon zu sagen? Mehr als „nur Wasser“ sei das oft nicht. Joseph Roth oder Botho Strauß möge er da zum Beispiel viel lieber. „Als Übersetzer muss man durchaus in der eigenen Literatur belesen sein, weil das der Hallraum ist, in den die Literatur übertragen wird“, sagt er.
Inspiration aus der Straßenbahn
Ein Widerspruch zu seinem Dasein als Masłowska-Übersetzer? Keineswegs. Kühl sagt, Dorota Masłowska sei zwar jung, in ihr stecke aber die Weisheit einer alten Frau. Und die Autorin und ihr Übersetzer haben eine Gemeinsamkeit: Beide fahren oft Straßenbahn, hören zu, was die Menschen um sie herum von sich geben, und schreiben die erlebte Rede in ihren Texten auf. „Da sagen zarte Mädchen zum Beispiel: Sag ihm, er soll sich ficken. Er kann sich das in den Arsch schieben“, sagt Kühl.
Hier stoßen wir auf ein Grundsatzproblem beim Übersetzen slawischer Sprachen: Es gebe zwischen Deutsch und Polnisch etwas, das Kühl eine „Fluchgrenze“ nennt. Chuj oder kurwa seien häufige Flüche im Polnischen, aber fast unübersetzbar. Chuj bedeutet Schwanz, kurwa Nutte: Im Deutschen wäre es ungewöhnlich, mit solchen Ausdrücken Dampf abzulassen. Hier müsse man auf Fäkalschimpfworte zurückgreifen wie Scheiße oder Arschloch, auch wenn sie nicht immer dasselbe aussagen wie ihre polnischen Entsprechungen.
„Ich lüge, wenn ich Polnisch spreche“
Zimperlich darf Olaf Kühl beim Übersetzen also nicht sein. Und doch gibt es ein Genre, dem er sich bisher verweigert hat: die Lyrik. „Ich würde gerne einmal einen Dichter wie Bolesław Leśmian ins Deutsche übersetzen“, sagt Kühl. Doch bislang schreckte er davor zurück. „Entweder man übersetzt Gedichte sehr textnah, dann bleibt vom Reiz wenig übrig. Oder man schreibt sie neu“, sagt er. Beides seien für ihn keine zufriedenstellenden Optionen.
Aber vielleicht wird das ja noch was. Olaf Kühl sagt, bislang seien nur Bruchteile der polnischen Literatur ins Deutsche übersetzt worden, die Verlage reagierten sehr offen auf Autor:innen aus dem östlichen Nachbarland. Beim Publikum sei das ein bisschen anders. Beispiel Masłowska: Ihr Debüt Schneeweiß und Russenrot sei mit 40.000 verkauften Exemplaren ein echter Bestseller gewesen. Ein Erfolg, der sich seitdem nicht wiederholt hat.
Was beim Blick auf die Vita von Olaf Kühl am meisten überrascht: Polnisch ist nicht seine Lieblingssprache. „Das ist Russisch“, sagt er. Wenn er in Polen ist, fielen ihm nach einigen Tagen seine Fehler auf. Es sei, als würde sein Unterbewusstsein gegen die Sprache aufbegehren. Ganz einverleibt hat er sich das Polnische also nicht. „Manchmal habe ich das Gefühl, ich lüge, wenn ich Polnisch spreche“, sagt er. Aber vielleicht ist es kein Nachteil, sich ein wenig Fremdheit und Distanz zu bewahren, wenn man als Übersetzer:in Erfolg haben will.