Sally Rooneys neuer Roman Schöne Welt, wo bist du, der kurz nach Erscheinen wenig überraschend auf Platz eins der englischen Bestsellerlisten landete, trägt im Original einen übersetzten Titel. Denn die Zeile „Beautiful world, where are you“ ist eine englische Übersetzung des Schiller-Verses „Schöne Welt, wo bist du?“, der aus dem Gedicht „Die Götter Griechenlands“ stammt. Im Internet lassen sich andere, viel pathetischere Übersetzungen dieser Zeile finden: „Beauteous world, where art thou gone?“, fragt E. A. Bowring, ein Übersetzer des 19. Jahrhunderts, der aus Schiller wohl einen Shakespeare-Verschnitt machen wollte. Noch altertümlicher hört sich „Art thou, fair world, no more?“ von Lord Edward Bulwer-Lytton an, einem weiteren Zeitgenossen. Und selbst Richard Wigmores vergleichsweise simple Übersetzung „Fair world, where are you?“ lässt Schillers Zeile älter wirken als sie in den Ohren deutschsprachiger Leser:innen klingen mag.
„Beautiful world, where are you“ ist eine wortwörtliche Übersetzung von „Schöne Welt, wo bist du“ und damit auf den ersten Blick die am wenigsten kreative Wahl. Trotzdem passt der Titel von Rooneys neuem Roman sowohl zu seiner Autorin als auch zu deren Sprache – altmodische Formulierungen und angestrengte Wortakrobatik sind in Rooneys Prosatexten nämlich eine Seltenheit. Bereits in ihrem Debütroman Gespräche mit Freunden, der 2017 auf Englisch erschien und schon damals ein Erfolg war, setzte Rooney auf Sparsamkeit. Ihre cleveren, aber nicht abgebrühten Dialoge bilden das Zentrum, alle anderen Textelemente werden drum herum arrangiert. Zu ellenlangen Beschreibungen oder ausufernden Erzählerkommentaren ließ sie sich auch in ihrem zweiten Roman Normale Menschen, ihrem bislang größten Erfolg, nicht hinreißen. Ihr Erzählstil ist so „straightforward“, die Dialoge so auf den Punkt, dass man in der BBC-Verfilmung des Romans viele der durchaus einprägsamen Dialoge einfach so übernommen hat, wie sie im Buch stehen. Rooney, die am Drehbuch mitgeschrieben hat, wird dazu ihren Beitrag geleistet haben – sicherlich zur Freude ihrer vielen enthusiastischen Fans.
Ihr dritter Roman Schöne Welt, wo bist du erzählt die Geschichte einer Freundschaft. Zwei junge Frauen, Alice und Eileen, verbringen einen Großteil des Romans damit, ihre Fernbeziehung aufrechtzuerhalten. Sie schreiben lange Mails, in denen sie sich weniger über ihr Privatleben austauschen, sondern in einem Schwall Weltereignisse anschneiden, nur um sie genauso schnell wieder fallen zu lassen. Die großen Krisen der Gegenwart sind in ihren Mails präsent (selbst die Pandemie wurde in den Roman am Schluss noch kurz eingearbeitet), aber sie bilden auf der Leinwand dieser beiden Leben lediglich den Untergrund. Beide jungen Frauen versinken im Mikrokosmos ihrer eigenen Existenzen, die sich im Fall von Alice um ihre Schreibblockade und ihr Tinderdate Felix, im Fall von Eileen um ihre Beziehung mit ihrem Jugendfreund Philipp drehen.
In einer Mail an Eileen schreibt Alice, die selbst Schriftstellerin ist und stellenweise wie eine Karikatur von Rooney wirkt (auch wenn sich Rooney von dieser Interpretation bereits distanziert hat, wohlwissend dass die scharfe Trennung zwischen Autor und Text hier zu ihrem Gunsten ausgelegt wird): „Das Problem des euro-amerikanischen Gegenwartsromans besteht darin, dass die Grundlage seiner strukturellen Integrität die Verdrängung der gelebten Realität der meisten Menschen auf der Erde ist“. Wer diesen Charakteren wenig wohlwollend gegenüber steht, liest Rooneys Roman vielleicht als eine Kritik an den woken Großstädtern, die in den sozialen Medien zwar zu einem politischen Aktivismus aufrufen, sich jenseits ihres Feeds jedoch ohne viel Federlesen ins Private zurückziehen. Eileen antwortet Alice auf ihre literarische und existenzielle Krise: „… wenn Menschen im Sterben liegen, sprechen sie denn dann nicht immer über ihre Lebenspartner und ihre Kinder? Und ist der Tod nicht einfach die Apokalypse in der ersten Person Singular?“. Anders gefragt: Was nützt es da, die schöne Welt da draußen zu retten, wenn das eigene Leben vergänglich ist? Dieses „Problem“ wird im Roman nicht unironisch kommentiert, obgleich Rooney für ihre Charaktere und deren „First-World-Problems“ viel Verständnis aufbringt, wohl weil sie mit deren Lebenswelten bestens vertraut ist. Im Gespräch mit der Irish Times sagte sie erst vor Kurzem, ihre Roman spielen in einer Welt, die sie kenne („I set my books in a world that I know“). Und weiter: Sie habe nicht genug Fantasie, sich eine völlig neue Welt auszudenken. Dass Rooneys Welt trotzdem zu großen Teilen stimmig ist, liegt daran, dass die Charaktere in Schöne Welt, wo bist du über eine kritische Selbstwahrnehmung verfügen, die gepaart mit einer gewissen Ernsthaftigkeit ihren Erfahrungen eine eindrückliche Prägnanz verleihen. Die große Welt mit ihren Krisen ist in Rooneys Roman draußen vor der Tür, im heimischen Schlafzimmer ist man davon unbetroffen – das ist in einigen Teilen der Welt nunmal die Realität.
Aufgrund der augenscheinlich einfachen Sprache – viele Hauptsätze, wenig Nebensätze, wenig Fremdwörter – und der drehbuchartigen Dialoge wird Rooney hin und wieder als Autorin für die Netflix-Generation bezeichnet. In den wenigsten Fällen ist diese Formulierung positiv gemeint, und auch die Kritik hierzulande ist sich uneinig, ob es sich bei Rooneys Romanen um große Literatur oder triviale Unterhaltungsliteratur handelt. (Obgleich wohl nur hierzulande der Stempel „Unterhaltungsliteratur“ ein Affront ist.) Begeisterte Leser:innen, die im Internet berichten, sie hätten Rooneys Bücher nicht aus den Händen legen können und diese regelrecht verschlungen, haben vielleicht auch einiges zu diesem Vorurteil beigetragen. Trotzdem sollte man Rooney sprachlich nicht unterschätzen, zumal das Register in Schöne Welt, wo bist du oft wechselt, vor allem wenn die Figuren ihre Weltansichten in langen Mails herausarbeiten. Im Original klingt ihre Prosa, die meist ohne jegliche Affektiertheit daherkommt, erfrischend entschlackt und entfaltet gerade dann ihre größte Wirkung, wenn Rooney in wenigen Worten auf den Punkt bringt, wofür andere einen ganzen Absatz brauchen. Kein Wunder also, dass sich ihre Sätze für Instagram und Goodreads anbieten.
Die Sätze in der Übersetzung Schöne Welt, wo bist du, die laut der Süddeutschen Zeitung, „sowohl in der Zeitschrift Merkur als auch in der Bravo druckreif wären“, gehen hingegen auf das Konto ihrer deutschen Übersetzerin Zoë Beck, deren Arbeit an Rooneys Romanen von den meisten Kritiker:innen im Feuilleton völlig ignoriert wird. Dabei hatte die Autorin und Verlegerin bereits die vorherigen Romane von Rooney übersetzt und es wäre vermessen anzunehmen, dass ihre Übersetzungen keinerlei Auswirkungen auf Rooneys (insgesamt positive) Rezeption in Deutschland gehabt hätten. Ihre deutsche Übersetzung von Rooneys neuem Roman erschien Anfang September zeitgleich mit dem Original. Für Übersetzer:innen bedeutet ein solches Timing in der Regel hohen Aufwand, großen Zeitdruck und wahrscheinlich einige schlaflose Nächte. Es ist anzunehmen, dass es Zoë Beck bei dieser Übersetzung ähnlich ergangen ist. Das Resultat: eine insgesamt solide, aber stellenweise durchwachsene Übersetzung.
Besonders gut gelingt es Zoë Beck die Charaktere des Romans sprachlich in der Moderne zu verordnen. Rooneys Figuren unterbrechen ihre Arbeit, um den Social Media Feed zu aktualisieren und stalken ihre Tinderdates im Internet, das Handy legen sie selten aus der Hand. Es gibt wohl nur wenige Autorinnen, die so nahtlos und ungekünstelt die Textformen unsere Zeit in einen Roman einbetten wie Rooney. Die Sprache des Internets übersetzt Beck vollkommen souverän: In ihrer Übersetzung wird gescrolled, geswiped und geghostet, die Protagonistinnen schicken sich „Screenshots“ und haben „Netflix-Accounts“. Das mag unübersetzt wirken, passt aber zur Sprache der Ende-Zwanzigjährigen, die sich zwischen Dublin, Paris und New York aufhalten und mit dem Internet (und damit auch der englischen Sprache) aufgewachsen sind. Hier ein Beispiel für einige übersetzte (bzw. „unübersetzte“) Chat-Nachrichten:
In a group chat, someone with the username Mick replied: Where the fuck are you lad??? Someone with the username Dave wrote: Hold on are you in ITALY? what the fuck haha. You not at work this week. Felix typed out a reply.
Felix: Roma baby
Felix: Lmao
Felix: Here with some girl I met on tinder, ill tell you when im back
Mick: How are you in rome with someone you met on tinder
Mick: This needs way more explanation hahaha
Im Gruppenchat antwortete jemand mit dem Usernamen Mick: Wo zum Teufel bist du Alter??? Jemand mit dem Usernamen Dave schrieb: moment bist du in ITALIEN? wtf haha. du bist diese woche nicht bei der arbeit. Felix tippte eine Antwort.
Felix: Roma baby
Felix: Lmao
Felix: Bin hier mit ner frau von tinder, erzähl ich euch dann später
Mick: wieso bist du mit jemandem von tinder in rom?
Mick: da gibts ne menge zu erklären hahaha
Gut gewählt ist in der Übersetzung das Akronym „wtf“ anstelle der ausgeschriebenen Variante. Zum einen fügt es sich nahtlos in den gängigen Schreibstil von Whatsapp-Nachrichten ein. Zum anderen findet das Akronym sowohl gesprochen als auch geschrieben in der Jugendsprache häufiger Verwendung als ausformulierte Variante. Nicht weniger stimmig ist die freie, aber wirkungsäquivalente Übersetzung von „where the fuck are you lad“ mit „Wo zum teufel bist du Alter“ (obgleich unklar ist, warum Beck nicht schon bei dem Satz zur Kleinschreibung gewechselt ist).
Wer unter Zeitdruck übersetzt, versucht an bestimmten Stellen Zeit zu sparen. Bei Übersetzungen aus dem Englischen äußert sich das oft darin, dass zu nah am Original übersetzt wird und sich so Formulierungen einschleichen, die an ein, zwei Stellen vielleicht noch akzeptabel sind, nicht aber wenn sie sich durch den gesamten Text ziehen, weil sie nach einer Weile dann doch irritieren. Übersetzungen aus dem Englischen stellen in der Hinsicht also einen Balanceakt dar: Welche englischen Wörter sind schon Teil der deutschen Sprache, welche nicht? Wie viele englische Begriffe können Übersetzer:innen in einen Satz packen, ohne Leser:innen, deren Englisch nicht so gut ist, zu verprellen?
Dieses Maß trifft die Übersetzerin Zoë Beck nicht ganz. Während ein Einschub wie „wtf“ noch natürlich klingt, weil dieser Teil der Jugendsprache ist, sieht es mit zu wortwörtlich aber wenig idiomatisch übersetzten Ausdrücken wie der „menschlichen Population“ („human population“), dem „flachen Ton“ („flat tone“), dem „charakteristisch großzügige[n] Geburtstagsgeschenk“ („characteristically generous birthday gift“) oder dem „speckigen Rädchen ihrer Computermaus“ („greasy roller on the computer mouse“) anders aus. Im besten Fall überliest man solche Stellen getrost, doch das ist nicht immer möglich. Spätestens gegen Ende der Lektüre haben gewiefte Leser:innen das Problem vielleicht schon erkannt: Es sind vor allem die Adjektive, die hier direkt aus dem Englischen ins Deutsche gezogen werden, obwohl es in den allermeisten Fällen stimmigere Alternativen gäbe. Aber auch einfache Sätze wie „bist du ok?“ („are you okay?“) oder „Ich bin eine Idiotin” („I’m an idiot“) wirken vor allem in den Dialogen gekünstelt, weil es sich um untypische Redewendungen im Deutschen handelt. Hier noch ein längeres Beispiel:
All my filial duties are nothing but a series of rituals on my part designed to shield myself from criticism while giving nothing of myself away. It was touching what you said in your last message about our civilisation collapsing and life going on afterwards. And yet I can’t imagine my life that way – I mean whatever goes on, it won’t be my life anymore, not really.
Meine töchterlichen Pflichten verrichte ich als eine Abfolge von Ritualen, die mich vor Kritik schützen sollen, während ich nichts von mir selbst gebe. Es war bewegend, was du in deiner letzten Nachricht über den Zusammenbruch unserer Zivilisation geschrieben hast und wie das Leben danach weitergeht. Und doch kann ich mir mein Leben so nicht vorstellen – ich meine, was immer es auch ist, was dann weitergeht, es ist nicht mehr mein Leben, nicht wirklich.
Es ist liegt nahe, sich bei einem solchen Absatz vor allem auf die Übersetzung der bedeutungsschwangeren Wörter wie „civilisation collapsing“ zu stürzen. Viel interessanter sind aber die zunächst unscheinbaren Teilsätze. „Während ich nichts von mir selbst gebe“ lässt uns stolpern – lautet die im Deutschen typische Redewendung nicht „etwas preisgeben“ und hinterlässt diese Formulierung nicht ein vielleicht ungewolltes Fragezeichen in den Köpfen der Leser:innen? Klingt „es war bewegend“ nicht seltsam kitschig, auch wenn es sich an sich um eine völlig korrekte Übersetzung handelt? Und was ist mit dem doppelten Einschub „was immer es auch ist, was dann weitergeht“, der aufgrund seiner ungelenken Struktur hervorsticht?
Nicht in allen Übersetzungen stört es, wenn die Ausgangssprache noch erkenntlich ist und Formulierungen entstehen, die zunächst ungewöhnlich klingen. Bei weniger gängigen Sprachen kann eine solche Übersetzungsstrategie unter Umständen funktionieren, weil die Leser:innen in der Regel nicht in der Lage sind, jedes Wort sofort rückzuübersetzen. Bei Übersetzungen aus dem Englischen ist jedoch meist das Gegenteil der Fall, denn die englische Sprache hat einen so starken Einfluss auf die deutsche, dass sie mit hoher Wahrscheinlichkeit ohnehin in irgendeiner Form in der Übersetzung präsent ist (und in einem Roman, der im Internetzeitalter spielt, ist das gegeben). Wenn unübersetzte englische Wörter ohnehin schon im Text sind und zusätzlich noch Formulierungen aus dem Englischen wortwörtlich übernommen werden, die im Deutschen aber wenig typisch sind, dann wirkt die Übersetzung schnell überfrachtet. Wer gut Englisch kann und permanent den englischen Satzbau als Schablone vor sich hat, fragt sich beim Lesen von Schöne Welt, wo bist du: Ist es nicht besser, den Roman im Original zu lesen? Wer nicht gut Englisch kann, könnte sich an so einigen Stellen fragen, was damit gemeint ist und ist die Frage einmal gestellt, zieht sie sich durch die gesamte Lektüre.
So natürlich Becks Übersetzung an einigen Stellen klingt, so gekünstelt klingt sie widerum an anderen, was sich auch auf die Charakterisierung der Figuren auswirkt, deren pseudo-philosophisches Geplauder im Deutschen deutlich angestrengter wirkt. Man möchte zugestehen, dass es sich dabei nicht um eine bewusste Strategie handelt, sondern der mutmaßliche Zeitdruck daran Schuld ist, dass einige Formulierungen in den weniger entscheidenden Passagen hastig ins Deutsche übertragen wurden, in der Hoffnung, dass sie niemandem auffallen. In dem leider gängigen Fall tragen die Übersetzer:innen nicht die alleinige Verantwortung, sondern auch die Verlage. Aus kommerzieller Sicht mag das zeitgleiche Erscheinen von Original und Übersetzung Sinn ergeben. Es besteht wohl immer die Angst, dass das Zielpublikum sonst unter Umständen zum Original greift. Und dennoch: Tut es das nicht auch, wenn die Übersetzung nicht gänzlich überzeugt? Und sollte die Qualität der Übersetzung daher nicht umso wichtiger sein? Der englische Titel „Beautiful World, Where Are You“ beweist, dass eine wortwörtliche Übersetzung nicht zwangsläufig die uneleganteste Wahl ist, aber aus dieser Vorgehensweise sollte kein Programm werden.