In dieser Reihe stellen Übersetzer:innen Bücher aus „ihrem“ Land vor – spannend, wegweisend, romantisch, subtil, haarsträubend oder urkomisch – und in jedem Fall lesenswert. Ob Klassiker oder Zeitgenössisches, Krimis, Poesie oder Kinderbücher … mit dieser ganz persönlichen Leseliste könnt ihr die literarische Landschaft des Landes vom Sofa aus bereisen. Viel Spaß beim Schmökern!
Krimi
Indrek Hargla: Apotheker Melchior und das Rätsel der Olaikirche
Aus dem Estnischen übersetzt von Uta Kührt. CEP Europäische Verlagsanstalt 2014
Ende 2023 erscheint der zweite Hansekrimi des estnischen Erfolgsautors Indrek Hargla auf Deutsch. Höchste Zeit also, den ersten Band zu lesen! Hargla wurde zunächst mit Science-Fiction bekannt und startete 2010 eine Krimireihe, die inzwischen auf sieben Bände angewachsen und teilweise auch verfilmt worden ist. Ermittler ist der Tallinner Apotheker Melchior, der im 15. Jahrhundert reihenweise rätselhafte Morde in seiner Heimatstadt aufklärt. Dank Harglas Liebe zum Detail wird die ganze mittelalterliche Pracht der alten Hansestadt vor dem Auge des Publikums ausgebreitet, und wer danach in die estnische Hauptstadt reist, wird so manches wiedererkennen. Wer Tallinn bereits kennt, findet in den spannenden Romanen immer wieder Anknüpfungspunkte, da die Altstadt (UNESCO-Weltkulturerbe!) bekanntlich sehr gut erhalten ist und man auch heute noch zwischen Häusern aus dem 15. oder 14. Jahrhundert herumspazieren kann. Die durchweg stimmigen und komplizierten Plots werden in altbewährter Agatha-Christie-Manier entwickelt und in genialen Showdowns aufgelöst. Die Übersetzerin Uta Kührt hat die verschachtelten Sätze von Hargla in ein hervorragend lesbares Deutsch umgewandelt, das durchaus mittelalterlich, aber niemals antiquiert wirkt.
Gedichte
Juhan Liiv: Schnee stiebt, singe ich
Aus dem Estnischen übertragen von Sophie Reyer in Zusammenarbeit mit Jüri Talvet. Löcker edition pen 2019
Für viele Estinnen und Esten beginnt die moderne estnischsprachige Lyrik mit Juhan Liiv, dem tragischen Dichter, der zeitweise geistig umnachtet war und an seinen Wahnvorstellungen letztlich auch zugrunde gegangen ist: Er hielt sich für den legitimen Prätendenten der polnischen Krone und trat 1913 ohne Fahrkarte die Reise nach Warschau an, woraufhin er vom Schaffner in eiskalter Nacht erbarmungslos aus dem Zug geworfen wurde. An den Folgen der bald darauf ausbrechenden Lungentuberkulose starb der Dichter im Herbst desselben Jahres. Seine Gedichte sind ohne allzu viele äußere Einwirkungen entstanden, es handelt sich um im Kopf des Poeten entstandene Verdichtungen von Gefühlen, Eindrücken, Empfindungen, Ideen, Hoffnungen und Ängsten. Der Liiv-Biograph Friedebert Tuglas stellte dazu treffend fest, Liiv habe seine Gedichte nicht gedichtet, sondern gelitten. Liivs Sprache ist metaphern- und bildreich, wodurch er zum wahren Erneuerer der estnischen Lyrik wurde. Auch über hundert Jahre nach ihrer Entstehung kann man die zeitlosen Perlen estnischer Wortkunst genießen. Die österreichische Dichterin Sophie Reyer konnte sich auf Interlinearübersetzungen des estnischen Liiv-Kenners Jüri Talvet stützen und hat auch ohne Kenntnis des Estnischen den richtigen Ton getroffen.
Roman
Jaan Kross: Gegenwindschiff
Aus dem Estnischen übersetzt von Cornelius Hasselblatt und Maximilian Murmann. Mit einem Nachwort von Cornelius Hasselblatt. Osburg Verlag 2021
Die langjährige estnische Nobelpreishoffnung Jaan Kross ist vor allem mit seinen historischen Romanen bekannt geworden, allen voran Der Verrückte des Zaren und Das Leben des Balthasar Rüssow. In dieser jüngsten Übersetzung des großen estnischen Erzählers steht der Astro-Optiker Bernhard Schmidt (1879–1935) im Zentrum des Geschehens. Er stammte aus Estland, wo er als Jugendlicher beim Experimentieren mit Schießpulver seine rechte Hand verlor. Nach seiner Ausbildung im sächsischen Mittweida blieb er in Deutschland und wurde ein berühmter Linsenschleifer, dessen Fabrikate bis in das 21. Jahrhundert hinein unerreicht blieben. Kross zeichnet in seinem psychologischen Roman einen verschrobenen, komplizierten, fast unsympathischen Mann, den man am Ende aber trotzdem liebgewonnen hat, weil er letztendlich eine ehrliche Haut ist und zudem im aufkommenden Nationalsozialismus unter nicht ganz geklärten Umständen zu Tode kommt. Durch eine seinerzeit relativ neue Technik – das Original erschien 1987 –, wobei neben der in der Ich-Form nacherzählten Biographie von Schmidt gleichzeitig die Entstehungsgeschichte des Romans anhand von Interviews mit Zeitgenossen mitgeteilt wird, bekommt das Buch eine besonders faszinierende Note. Dabei habe ich die Passagen von Bernhard Schmidts Text übertragen, während Maximilian Murmann die Interviews des Autors mit den Zeitgenossen übersetzte. Auf diese Weise konnten die beiden verschiedenen Stimmen im Buch auch durch zwei verschiedene Übersetzerstile wiedergegeben werden, wenngleich die Unterschiede nicht sehr groß sind.
Graphic Novel
Joonas Sildre: Zwischen zwei Tönen
Aus dem Estnischen übersetzt von Maximilian Murmann. Voland & Quist 2021
Die Entstehung von Estlands berühmtestem Exportartikel, der Musik von Arvo Pärt, kann in dieser Graphic Novel von Joonas Sildre wunderbar nachvollzogen werden. Es beginnt mit Liedern, die ihm seine Mutter vorsingt und die der Knabe bald selbstständig nachsingt. Dann ziehen sie in ein neues Haus und der kleine Arvo entdeckt ein Klavier, bei dem einige Tasten kaputt sind, weswegen man die fehlenden Töne singen muss. Und so geht es weiter: Ausbildung, Exil, Österreich, Berlin, Rückkehr nach Estland. Am besten spielt man dazu ein bisschen Tintinnabulimusik, um ganz und gar in die Klangwelt des großen estnischen Komponisten einzutauchen. Genau wie Musik kennt auch die Graphik von Joonas Sildre keine Grenzen, nur die Wörter mussten vom Estnischen ins Deutsche übertragen werden. Maximilian Murmanns elegante Übertragung lässt einen jedoch vergessen, dass das Buch nicht ursprünglich auf Deutsch abgefasst worden ist.
Roman
Urmas Vadi: Der Ballettmeister
Aus dem Estnischen übersetzt von Cornelius Hasselblatt. Rote Katze Verlag 2023
Ein grotesker Roman über ein vermeintliches Befreiungskommando, das nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs von Estland ins Innere Russlands aufbricht, um den im Juli 1940 nach der Annexion durch die Sowjetunion verhafteten und deportierten Staatspräsidenten Konstantin Päts zurück nach Estland zu bringen. Ausführen sollen den Coup vier Laien, die eigentlich gar nicht tanzen können, auf der Zugfahrt nach Moskau und in der russischen Hauptstadt selbst jedoch wider Erwarten zu einem echten Tanzensemble reifen. In stellenweise absurder Überhöhung zeichnet der Autor augenzwinkernd eine „alternative Geschichte“ auf, in der Parallelen zur Wirklichkeit nicht fehlen. Am Ende des Romans kehren die Helden nach Tallinn zurück, wo sie als mittlerweile berühmte Tänzer jubelnd empfangen werden. Und der Präsident? Kein Spoiler an dieser Stelle, den humorvoll und flott geschriebenen Roman von Urmas Vadi muss man schon selbst lesen! Meine Übersetzung bemüht sich insbesondere um den Erhalt des spezifisch estnischen, trockenen Humors.
Noch mehr zur estnischen Sprache, Literatur und Kultur erfahrt ihr in unserem Beitrag Große kleine Sprache Estnisch!