
Psychospiele aus Israel
Dror Mishani / Markus Lemke: Die Möglichkeit eines Verbrechens
In diesem Buch ist nichts, wie es auf den ersten Blick scheint. Kaum ist Inspektor Avi Avraham von einer mehrmonatigen Auszeit in Brüssel zurück in Tel Aviv, muss er herausfinden, wer eine Bombenattrappe vor einem Kindergarten deponiert hat. Und das schnell, denn ein anonymer Anruf warnt, die Attrappe sei erst der Anfang. Bald gerät ein Kindergartenvater ins Visier, der eine Leiche im Keller hat – aber ist es auch die richtige? Überhaupt spielen Familien in Form von verschwundenen Frauen, schweigsamen Vätern und überfürsorglichen Müttern eine wichtige Rolle.
Dass Dror Mishani Literaturwissenschaftler mit Spezialgebiet Geschichte der Kriminalliteratur ist, merkt man daran, wie er die Versionen vom Tathergang geschickt konstruiert und wieder dekonstruiert. Sein Übersetzer Markus Lemke greift den sachlichen, beinahe schon distanzierten Tonfall auf, in dem die Ermittlungen geschildert werden. Inspektor und Hauptverdächtiger wechseln sich als Erzähler ab – doch der vermeintliche Wissensvorsprung erhöht nur die Spannung. Ein alter Fall lässt Avraham nicht los und überschattet den jetzigen, ihm unterlaufen gravierende Fehler und er zweifelt, ob er diesmal auf der richtigen Spur oder wieder auf dem Holzweg ist. Schicht um Schicht trägt er die Lügen um sich herum ab, um der Wahrheit ein Stück näher zu kommen. Hanne
Sherlock Holmes in Japan
Seishi Yokomizo / Ursula Gräfe: Die rätselhaften Honjin-Morde
Als True-Crime-Fan könnte man von mir erwarten, dass ich viele Krimis lese. Ich muss aber zugeben, dass dies mein erster japanischer Krimi ist. Die Honjin-Morde erinnern an Agatha Christie und forderten mich in vieler Hinsicht heraus. Kurz zu den Kernereignissen: Am Tag nach ihrer Hochzeit 1937 werden Kenzo Ichiyanagi und Katsuko Kubo ermordet aufgefunden, und zwar im besten Stil eines klassischen Locked-Room-Murder-Mystery: Alle Fenster und Türen sind von innen verschlossen, die Mordwaffe befindet sich außerhalb des Gebäudes und es sind keine Fußspuren zu finden, die vom Haus weg führen. Die Lösung des Rätsels verrate ich natürlich nicht, aber wie bei Christie muss man bei der Lektüre auf jedes einzelne Detail achten. Und Ursula Gräfes Übersetzung trägt gekonnt zum Ratespiel bei! Ich hatte ständig das Gefühl: In diesem Satz steckt bestimmt ein Hinweis – und das hat mir den größten Spaß beim Lesen gemacht.
Auch das Glossar und das Personenregister sind für Japanischneulinge wie mich eine große Hilfe. Die Japanismen stehen in einem angenehm ausbalancierten Verhältnis mal für sich allein (Koto, Tatami), mal werden sie kurz erklärt („die Okamisan, also die Wirtin“). Besonders unterhaltsam und gelungen umgesetzt fand ich die verschiedenen Erzählerstimmen, die mal mehr, mal weniger zuverlässig berichten. Die vielen metafiktionalen Anspielungen auf Kriminalliteratur und das Krimischreiben sind genauso spannend wie die Arbeit des berühmten Privatdetektivs Kosuke Kindaichis selbst, dem wir letztendlich die Lösung des Rätsels verdanken. Susana
Maritimes Doppelpack
Mathijs Deen / Andreas Ecke: Der Holländer und Der Taucher
Der Holländer von Mathijs Deen bildete 2022 den Startschuss für eine vielversprechende neue Krimireihe, die an der Grenze zwischen den Niederlanden und Deutschland spielt. Liewe Cupido, als Sohn eines Niederländers und einer Deutschen auf Texel aufgewachsen, ist ein wortkarger Kommissar, der für die Bundespolizei See in Cuxhaven arbeitet und von seinen Kollegen „der Holländer“ genannt wird. Als auf einer Sandbank im Grenzgebiet eine Leiche gefunden wird, wärmt das einen jahrzehntealten Grenzkonflikt auf. Kommissar Cupido wird heimlich als Ermittler losgeschickt, um herauszufinden, wie der Wattwanderer zu Tode gekommen ist. Während sein erster Fall in die spezielle Welt des Wattwandersports einführt, dreht sich sein zweiter Fall – wie der Titel schon verrät – um das Tauchen. Bei der Suche nach einem ins Meer gefallenen Container wird an einem alten Schiffswrack eine Leiche gefunden, die mit Handschellen an das Wrack gekettet wurde. Diesmal führen die Ermittlungen den Kommissar sogar kurz nach Münster, was mich natürlich besonders gefreut hat.
Mit Liewe Cupido hat Mathijs Deen eine eigensinnige, aber liebenswürdige Figur geschaffen, die sich nur ungerne an die Vorschriften und die Anweisungen ihrer Vorgesetzten hält und sich lieber auf die früher erteilten Ratschläge seiner Mentorin verlässt. Andreas Ecke hat die Stimme des einsiedlerischen Mannes überzeugend ins Deutsche übertragen und greift auch das gemächliche, aber doch treibende Erzähltempo Deens perfekt auf. Die Krimireihe von Mathijs Deen bietet allen, die das Wattenmeer und die Wattinseln lieben, beste Unterhaltung und eignet sich perfekt als Urlaubslektüre an der Nordsee oder für Zuhausegebliebene, die beim Lesen gerne ans Meer reisen möchten. Lisa
Verbrecherjagd im polnischen Wald
Olga Tokarczuk / Doreen Daume: Der Gesang der Fledermäuse
Eine Frau lebt allein im polnischen Wald und findet ihren Nachbarn, der an einem Rehknochen erstickt ist, tot auf – Der Gesang der Fledermäuse von Olga Tokarczuk beginnt zunächst wie ein klassischer Krimi: Ihre Protagonistin Janina Duszejko, die im nahegelegenen Dorf Englisch unterrichtet und die im Winter leerstehenden Ferienhäuser beaufsichtigt, begibt sich eigenmächtig auf die Suche nach dem Mörder. Des Rätsels Lösung steht für die Hobby-Astrologin in den Sternen und als strenge Vegetarierin hat sie auch die Waldtiere im Verdacht, denn die weiteren Mordopfer – ein Polizeikommissar und der Bürgermeister – waren allesamt Jäger. Janinas Theorien werden jedoch von niemandem besonders ernst genommen, sodass sie in ihrer Rolle als verschrobene Alte dem Ganzen eine höchst komische Note verleiht und eine große Narrenfreiheit besitzt. Nebenbei versucht sie sich übrigens auch als Übersetzerin und überträgt mit einem Bekannten Naturlyrik von William Blake.
Für die Naturbeobachtungen und philosophisch angehauchten Ergüsse ihrer Erzählerin findet Olga Tokarczuk eine atmosphärische und eindrückliche Sprache, die den Roman noch lesenswerter macht als der eigentliche Plot Twist. Funktionieren tut das Ganze vor allem so gut, weil Doreen Daume diesen experimentellen Pseudo-Krimi wunderbar ins Deutsche gebracht hat. Julia
Ukrainische Bürgerkriegsliebe
Andrej Kurkow / Johanna Marx und Sabine Grebing: Samson und Nadjeschda
In Kiew verliert der junge Samson im Bürgerkrieg 1919 seine gesamte Familie und dazu sein rechtes Ohr. Dafür findet er unerwartet eine höchst patente Mitbewohnerin und seine Berufung bei der neuen sowjetischen Polizei. Während um ihn herum ständig der Strom ausfällt, Papiermangel herrscht, Salz und Essenscoupons als begehrte Zahlungsmittel gelten und man sich nachts kaum noch auf die Straßen traut, weil an jeder Ecke Kosaken gegen Rotarmisten kämpfen, versucht Samson seinen ersten Mordfall zu lösen. Darin spielen ein bestohlener Schneider und ein mysteriöser Oberschenkelknochen aus Silber eine wichtige Rolle – und Samsons abgeschlagenes Ohr. Das entwickelt nämlich geradezu erstaunliche Fähigkeiten, die ihm bei seinen Ermittlungen zugutekommen. Johanna Marx und Sabine Grebing haben den ersten Kriminalroman des bekannten ukrainischen Autors Andrej Kurkow im herrlich lesbaren Schmökerstil aus dem Russischen übersetzt. Genau das richtige Buch für alle, die vom Liegestuhl aus gemächlich in andere Zeiten und Welten gleiten wollen. Hanne
Trügerische Island-Idylle
Eva Björg Ægisdóttir: Verschwiegen, Verlogen und Verborgen
Nicht verschweigen wollen wir euch außerdem die preisgekrönte Krimireihe der isländischen Bestsellerautorin Eva Björg Ægisdóttir, die TraLaLit-Redakteurin Freyja Melsted meisterlich übersetzt hat. Bisher erschienen sind Verschwiegen und Verlogen, der dritte Band Verborgen folgt im Frühjahr 2024.