Die 90er sind zurück – und das nun schon seit mindestens zehn Jahren. Während die Generation Y Jugendjahren ohne Internet nachtrauert, ist die Romantisierung der 90er durch die nachfolgende Generation weniger nachvollziehbar. Denn streng genommen wurde ein Teil der Gen Z (stark vertreten auf Plattformen wie Tiktok, wo der Hashtag 1990s Millionen von Aufrufen hat) zwar Ende der 90er geboren, aber im Prinzip kennen sie das Jahrzehnt nur vom Hörensagen. Das macht aber nichts: Erfolgreiche Serien werden weiterhin rege wiederbelebt, Musik wiederentdeckt oder nachgeahmt.
Auch die Literatur macht vor diesem Trend nicht halt. Der britische Autor Max Porter, selbst Jahrgang 1981, lässt seinen neuen, experimentellen Roman Shy Mitte der 90er Jahre spielen. Porter erzählt die Geschichte von Shy, einem fünfzehn Jahre alten Teenager mit der dazugehörigen Portion Probleme. Shy redet nicht viel, dafür prügelt er sich, nimmt hin und wieder Drogen, und hat schlechten Sex. Er fristet also ein Durchschnittsteenagerdasein und lebt in einer Art Anstalt, dem dramatisch klingenden „Last Chance“, wo aus ihm wieder ein vorzeigbarer junger Mann gemacht wird.
Einen klassischen Plot hat Shy, übersetzt von Uda Strätling und Matthias Göritz, nicht. Wir begegnen dem Protagonisten in den späten Abendstunden, als er sich aus dem Haus schleicht. Auf dem Weg zum nahe gelegenen See driftet er durch Erinnerungen, durch Szenen mit Freunden, Familie oder seinen Therapeuten, deren Stimmen alle in seinem Kopf präsent sind. Dadurch sind Leser:innen nicht zwangsläufig an Shys Perspektive gebunden, aber sie überwiegt. Leidenschaftlich ist Shy – der ravt, Mixtapes macht und mit seinem Walkman durch die Gegend läuft – nur beim Thema Musik: „Ich kann euch von der Musik erzählen, die ich liebe, wie sie entstand, ich kann euch Acid House, Hardcore, Dancehall und Hip-Hop erklären“, behauptet er.
Wie auch schon in seinen früheren Romanen Lanny (2019) oder Trauer ist das Ding mit Federn (2015) beweist Max Porter in Shy ein ausgeprägtes Interesse an Form und Sprache. Mit dem gängigen Romanaufbau und dem vorherrschenden Schreibstil westlicher Literatur könne er nichts anfangen, sagt Porter in Interviews: „Ich kann so nicht schreiben und will es auch nicht“. Genau wie seine Hauptfigur ist auch er ein Musik-Fanatiker, der mit seiner Jugend in den 90er Jahren unübertroffene musikalische Höhepunkte verbindet. Dementsprechend ist Musik auch die größte Inspirationsquelle für seinen Umgang mit Sprache.
Porters Übersetzungsduo Matthias Göritz und Uda Strätling, das gemeinsam bislang alle seine Romane ins Deutsche gebracht hat, dürfte Shy besonders gefordert haben. Einen ersten Eindruck verschafft ihr Toledo-Journal, in dem sie abschnittsweise sogar den Stil nachahmen, den sie für ihre Übersetzung gefunden haben. Ihr „Mixtape“ vereint Jugendsprache und Slang mit Elementen aus Hip-Hop sowie elektronischer Musik. Der Roman erinnert dabei weniger an Porters literarische Vorbilder, Dichter wie Ted Hughes oder Anne Carson, sondern eher an das inzwischen ausgereizte Genre der Slam Poetry, bei dem rege gereimt und aneinandergereiht wird. Sowohl die Übersetzung als auch das Original klingen besser, wenn man sie laut vorliest:
Good riddance, boys.
Peace out, ghosts.
Bm-psh – bm-psh
bm-psh – bm-psh
his spitty internal beatbox
walking in time
step by darkstep nod and step,
one, two, gumf, click,
palate snare,
throat kick, sneaking away from the Last Chance.
Das wars, ihr Penner, ich bin weg.
Bis später, Gespenster.
Bm-psh – bm-psh
bm-psh – bm-psh
Die Beatbox in seinem Innern zischt
weiter im Takt
step, darkstep nod, step,
eins, zwei, gumpf, klick,
Gaumen-Snaredrum,
Kehlen-Schlag, – auf Schleichpfaden fort vom fucking Last Chance.
Die Übersetzenden mussten sich gezwungenermaßen vom Ausgangstext wegbewegen, was allein in der deutlich längeren ersten Zeile bereits offensichtlich wird. „Good riddance“ kann weder stehen bleiben (wie viele andere englische Formulierungen) noch lässt sich dafür leicht ein deutsches Äquivalent finden – höchste Kreativität war also gefragt. Strätling und Göritz nutzen hierfür Schimpfwörter und Beleidigungen, die sich ohnehin durch den gesamten Text ziehen. Interpretatorisch lehnen sie sich dabei ein Stück weit aus dem Fenster und markieren den Sprecher (und auch die Adressaten) deutlicher als das Original. Auch Shys „Last Chance“ büßt in der letzten Zeile an Doppeldeutigkeit ein, da das vorangestellte „vom“ klarer einen Ort markiert.
Während die erste Zeile noch idiomatisch klingt, verwundert die zweite Zeile. „Peace out“ wird mit „bis später“ schwach übersetzt und wirkt in Kombination mit „Gespenster” albern. Und auch die letzte Zeile sticht aufgrund des Kontrasts im Register hervor: „auf Schleichpfaden“ bewegen sich tendenziell eher Shys Großeltern oder eine andere Erzählinstanz; ein „fucking“ muss her, um wieder im Mikrokosmos eines wütenden Teenagers zu landen.
Solche übertriebenen bzw. untertriebenen Übertragungen sind für die Übersetzung insgesamt symptomatisch. Stellen wie das zitierte Beispiel gibt es in Porters Text einige, doch im Sinne der Lesbarkeit sind nicht alle Passagen in Jugendsprache formuliert oder so stark rhythmisiert wie die obenstehende. Wenn dann in der Übersetzung bei vergleichsweise normalen Beschreibungen von Emotionen oder Handlungen plötzlich auch jugendlicher Slang auftaucht, wirkt das mitunter bemüht und büßt an Natürlichkeit ein. Aus „he’s excited“ wird in der Übersetzung „er ist geflasht“; aus „They try and figure each other out“ wird „Sie checken sich gegenseitig ab“.
An anderer Stelle schlägt die Übersetzung plötzlich ins Gegenteil um:
They ignore the others leaping about, they don’t even look at the front of the house.
Die beiden beachten die anderen herumtollenden Jungs gar nicht, auch nicht die Herrenhausfassade.
„Die beiden“ sind hier Steve und Amanda, Shys Betreuer, die auf Shy zugehen. Dieser hatte zuvor die Fenster des Hauses eingeschlagen. Doch woher kommen auf einmal die „herumtollenden Jungs” oder die „Herrenhausfassade“? Die Übersetzung nimmt die Lesenden interpretatorisch an die Hand, ohne dass die tiefere Auslotung der Bedeutungsebenen dem Text helfen würde. Das Gegenteil ist der Fall, denn der sprachliche Kontrast irritiert in der gesamten Übersetzung: Auf der einen Seite sind „die Wichser […] schon voll aggro“, auf der anderen Seite kommen die Übersetzenden mit Neuschöpfungen wie „Oho, die miese Ratte hat plötzlich Oberwasser!“ um die Ecke – ob das nun dieselbe Wirkung wie das englische Original „Chippy little twat all of a sudden, aren’t you?“ entfaltet, darf angezweifelt werden.
Auch in rhythmischer Hinsicht dürfte die Übersetzung an einigen Stellen verwundern. Porters metrische Präzision im Englischen wird in dem zitierten Satz schlichtweg übergangen, obwohl eine Nachahmung möglich gewesen wäre und der deutsche Text dadurch an Geschmeidigkeit gewonnen hätte. An anderen Stellen wird zwar der Versuch unternommen, die Melodik des Originals nachzubauen. Tendenziell hangelt man sich aber so stark am Original entlang, dass der Rhythmus in vielen Passagen erstaunlich abgeflacht wirkt.
Doch die Übersetzung ist womöglich nicht das größte Problem. So populär wie im englischsprachigen Ausland sind Porters Bücher hierzulande noch lange nicht – zu dieser Feststellung kommt auch Uda Strätling auf Toledo – und sein neuester Roman wirft die Frage auf, ob das überhaupt wünschenswert wäre. Bereits auf den ersten Seiten ist der Cringe-Faktor hoch, im Englischen wie im Deutschen:
Randall back2back Kenny Ken.
Express how you’re feelin.
Jungle.
The pinnacle.
The Amen.
Almighty.
A way of life.
Big hot and heavy.
600 million years, and we think we’re tough lasting one hundred tops.
He can’t hold it still in his head.
Size.
Butterflies in his tummy.
Time.
Slightly needs a shite.
Randall Back2Back Kenny Ken.
Express how you’re feelin.
Drum’n’Bass.
Jungle.
Das Allergrößte.
Das Amen.
Absolut.
Abgefahren.
Heiß.
Richtig schwer der Scheiß.
600 Millionen Jahre, und wir bilden uns auf unsere bestenfalls hundert was ein. Das hält er im Kopf nicht aus.
Die schiere Dimension. Den Druck.
Sein Magen spielt verrückt.
Zeit.
Leichter Drang zu scheißen.
Klingt so also die britische Poesie der Zukunft? Neben solch rhythmischen Eskapaden, deren explosives lyrisches Potential nur bedingt erkennbar ist, zeichnet Max Porters Schreiben ein gewisser Hang zur Sentimentalität aus, der bereits in Trauer ist das Ding mit Federn deutlich spürbar war. Shy fordert Empathie; sein rebellisches Verhalten und seine Wut sind letztlich nicht mehr als ein Schrei nach Liebe, suggeriert Porter im faden Finale des Romans, das in einer Gruppenumarmung endet. Wenig originelle Bilder wie der „dicke Rucksack Reue“ („a heavy bag of sorry“), den Shy mit sich herumträgt, oder die eingeschobenen Therapie-Sprüche tragen kaum zur Darstellung emotionaler Tiefe bei, sondern erinnern vorrangig an Instagram-Psychologie:
Be aware of what you’re feeling, and how it’s affecting what you’re doing. You’re the driver of this vehicle, yes?
Ergründe, was du empfindest und wie es dein Verhalten lenkt. Du sitzt am Steuer, verstehst du?
Mitunter dürfte allen Beteiligten die Zielgruppe für Porters Roman nicht ganz klar gewesen sein. Da der Protagonist eben ein Teenager ist, hat der britische Verlag Faber fleißig Rezensionsexemplare an junge Bookstagrammer und BookToker verschickt, allerdings nur mit vergleichsweise mäßigem Erfolg. Obgleich der Roman in den romantisierten 90er-Jahren spielt, dürfte er dennoch wenig Projektionsfläche für eine Gen Z bieten, die sich mit viel größeren, existenziellen Fragen beschäftigt als sie dieser Roman aufwirft.
Shy ist keine Figur der Gegenwart, – was sicherlich auch nicht Porters Intention war –, sondern kaum mehr als ein jugendliches Klischee: Mit seinen dutzend Problemen ist er durchschaubar, ja sogar langweilig. Wer nicht nur die anhaltenden Forderungen nach Diversität und unerzählten Geschichten verfolgt, sondern auch deren Popularität, landet unfreiwillig bei der Frage: Besteht ein Bedarf nach einem weiteren „Boys-Tryptichon“, wie der Übersetzer Matthias Göritz Porters Romane nennt? Und gibt es nicht ohnehin schon genug Bücher, die Ähnliches versucht haben wie Porter?
Ausgerechnet Max Porters Mutter hat eine mögliche Lesart des Romans vorhergesehen, erzählt der Autor beiläufig im Interview: „Sie erwähnte sogar, dass Männer mittleren Alters möglicherweise von Shy als nostalgisches Hilfsmittel […] profitieren könnten.“ Shy ist also ein männlicher Nostalgie-Trip in Romanform. Damit haben wir die Zielgruppe, die wohl am ehesten etwas mit Shy anfangen kann. Porter-Fans mögen noch einwenden, der Autor schreibe eben nicht für die Masse. Dem ist wenig entgegenzusetzen. Trotzdem bleibt das Problem am Ende bestehen: Es gibt nicht nur andere Geschichten zu erzählen, sondern schlicht auch sehr viel interessantere.