Wenn Jung­sein langweilt

Der britische Schriftsteller Max Porter versucht in seinem neuen Roman „Shy“ den Sound seiner Jugend einzufangen. Übersetzt von Matthias Göritz und Uda Strätling klingt das gewöhnungsbedürftig. Von

Max Porters Roman „Shy“ erschien bei Kein & Aber. Hintergrundbild: Fabian Jones via Unsplash

Die 90er sind zurück – und das nun schon seit min­des­tens zehn Jah­ren. Wäh­rend die Gene­ra­ti­on Y Jugend­jah­ren ohne Inter­net nach­trau­ert, ist die Roman­ti­sie­rung der 90er durch die nach­fol­gen­de Gene­ra­ti­on weni­ger nach­voll­zieh­bar. Denn streng genom­men wur­de ein Teil der Gen Z (stark ver­tre­ten auf Platt­for­men wie Tik­tok, wo der Hash­tag 1990s Mil­lio­nen von Auf­ru­fen hat) zwar Ende der 90er gebo­ren, aber im Prin­zip ken­nen sie das Jahr­zehnt nur vom Hören­sa­gen. Das macht aber nichts: Erfolg­rei­che Seri­en wer­den wei­ter­hin rege wie­der­be­lebt, Musik wie­der­ent­deckt oder nachgeahmt.

Auch die Lite­ra­tur macht vor die­sem Trend nicht halt. Der bri­ti­sche Autor Max Por­ter, selbst Jahr­gang 1981, lässt sei­nen neu­en, expe­ri­men­tel­len Roman Shy Mit­te der 90er Jah­re spie­len. Por­ter erzählt die Geschich­te von Shy, einem fünf­zehn Jah­re alten Teen­ager mit der dazu­ge­hö­ri­gen Por­ti­on Pro­ble­me. Shy redet nicht viel, dafür prü­gelt er sich, nimmt hin und wie­der Dro­gen, und hat schlech­ten Sex. Er fris­tet also ein Durch­schnittsteen­ager­da­sein und lebt in einer Art Anstalt, dem dra­ma­tisch klin­gen­den „Last Chan­ce“, wo aus ihm wie­der ein vor­zeig­ba­rer jun­ger Mann gemacht wird.

Einen klas­si­schen Plot hat Shy, über­setzt von Uda Strät­ling und Mat­thi­as Göritz, nicht. Wir begeg­nen dem Prot­ago­nis­ten in den spä­ten Abend­stun­den, als er sich aus dem Haus schleicht. Auf dem Weg zum nahe gele­ge­nen See drif­tet er durch Erin­ne­run­gen, durch Sze­nen mit Freun­den, Fami­lie oder sei­nen The­ra­peu­ten, deren Stim­men alle in sei­nem Kopf prä­sent sind. Dadurch sind Leser:innen nicht zwangs­läu­fig an Shys Per­spek­ti­ve gebun­den, aber sie über­wiegt. Lei­den­schaft­lich ist Shy – der ravt, Mix­tapes macht und mit sei­nem Walk­man durch die Gegend läuft – nur beim The­ma Musik: „Ich kann euch von der Musik erzäh­len, die ich lie­be, wie sie ent­stand, ich kann euch Acid House, Hard­core, Dance­hall und Hip-Hop erklä­ren“, behaup­tet er.

Wie auch schon in sei­nen frü­he­ren Roma­nen Lan­ny (2019) oder Trau­er ist das Ding mit Federn (2015) beweist Max Por­ter in Shy ein aus­ge­präg­tes Inter­es­se an Form und Spra­che. Mit dem gän­gi­gen Roman­auf­bau und dem vor­herr­schen­den Schreib­stil west­li­cher Lite­ra­tur kön­ne er nichts anfan­gen, sagt Por­ter in Inter­views: „Ich kann so nicht schrei­ben und will es auch nicht“. Genau wie sei­ne Haupt­fi­gur ist auch er ein Musik-Fana­ti­ker, der mit sei­ner Jugend in den 90er Jah­ren unüber­trof­fe­ne musi­ka­li­sche Höhe­punk­te ver­bin­det. Dem­entspre­chend ist Musik auch die größ­te Inspi­ra­ti­ons­quel­le für sei­nen Umgang mit Sprache.

Por­ters Über­set­zungs­duo Mat­thi­as Göritz und Uda Strät­ling, das gemein­sam bis­lang alle sei­ne Roma­ne ins Deut­sche gebracht hat, dürf­te Shy beson­ders gefor­dert haben. Einen ers­ten Ein­druck ver­schafft ihr Tole­do-Jour­nal, in dem sie abschnitts­wei­se sogar den Stil nach­ah­men, den sie für ihre Über­set­zung gefun­den haben. Ihr „Mix­tape“ ver­eint Jugend­spra­che und Slang mit Ele­men­ten aus Hip-Hop sowie elek­tro­ni­scher Musik. Der Roman erin­nert dabei weni­ger an Por­ters lite­ra­ri­sche Vor­bil­der, Dich­ter wie Ted Hug­hes oder Anne Carson, son­dern eher an das inzwi­schen aus­ge­reiz­te Gen­re der Slam Poet­ry, bei dem rege gereimt und anein­an­der­ge­reiht wird. Sowohl die Über­set­zung als auch das Ori­gi­nal klin­gen bes­ser, wenn man sie laut vorliest:

Good rid­dance, boys.
Peace out, ghosts.

Bm-psh – bm-psh
bm-psh – bm-psh
his spit­ty inter­nal beat­box
wal­king in time
step by dark­step nod and step,
one, two, gumf, click,
pala­te sna­re,
throat kick, snea­king away from the Last Chance.

Das wars, ihr Pen­ner, ich bin weg.
Bis spä­ter, Gespenster.

Bm-psh – bm-psh
bm-psh – bm-psh
Die Beat­box in sei­nem Innern zischt
wei­ter im Takt
step, dark­step nod, step,
eins, zwei, gumpf, klick,
Gau­men-Snare­drum,
Keh­len-Schlag, – auf Schleich­pfa­den fort vom fuck­ing Last Chance.

Die Über­set­zen­den muss­ten sich gezwun­ge­ner­ma­ßen vom Aus­gangs­text weg­be­we­gen, was allein in der deut­lich län­ge­ren ers­ten Zei­le bereits offen­sicht­lich wird. „Good rid­dance“ kann weder ste­hen blei­ben (wie vie­le ande­re eng­li­sche For­mu­lie­run­gen) noch lässt sich dafür leicht ein deut­sches Äqui­va­lent fin­den – höchs­te Krea­ti­vi­tät war also gefragt. Strät­ling und Göritz nut­zen hier­für Schimpf­wör­ter und Belei­di­gun­gen, die sich ohne­hin durch den gesam­ten Text zie­hen. Inter­pre­ta­to­risch leh­nen sie sich dabei ein Stück weit aus dem Fens­ter und mar­kie­ren den Spre­cher (und auch die Adres­sa­ten) deut­li­cher als das Ori­gi­nal. Auch Shys „Last Chan­ce“ büßt in der letz­ten Zei­le an Dop­pel­deu­tig­keit ein, da das vor­an­ge­stell­te „vom“ kla­rer einen Ort markiert.

Wäh­rend die ers­te Zei­le noch idio­ma­tisch klingt, ver­wun­dert die zwei­te Zei­le. „Peace out“ wird mit „bis spä­ter“ schwach über­setzt und wirkt in Kom­bi­na­ti­on mit „Gespens­ter” albern. Und auch die letz­te Zei­le sticht auf­grund des Kon­trasts im Regis­ter her­vor: „auf Schleich­pfa­den“ bewe­gen sich ten­den­zi­ell eher Shys Groß­el­tern oder eine ande­re Erzähl­in­stanz; ein „fuck­ing“ muss her, um wie­der im Mikro­kos­mos eines wüten­den Teen­agers zu landen.

Sol­che über­trie­be­nen bzw. unter­trie­be­nen Über­tra­gun­gen sind für die Über­set­zung ins­ge­samt sym­pto­ma­tisch. Stel­len wie das zitier­te Bei­spiel gibt es in Por­ters Text eini­ge, doch im Sin­ne der Les­bar­keit sind nicht alle Pas­sa­gen in Jugend­spra­che for­mu­liert oder so stark rhyth­mi­siert wie die oben­ste­hen­de. Wenn dann in der Über­set­zung bei ver­gleichs­wei­se nor­ma­len Beschrei­bun­gen von Emo­tio­nen oder Hand­lun­gen plötz­lich auch jugend­li­cher Slang auf­taucht, wirkt das mit­un­ter bemüht und büßt an Natür­lich­keit ein. Aus „he’s exci­ted“ wird in der Über­set­zung „er ist geflasht“; aus „They try and figu­re each other out“ wird „Sie che­cken sich gegen­sei­tig ab“.

An ande­rer Stel­le schlägt die Über­set­zung plötz­lich ins Gegen­teil um:

They igno­re the others lea­ping about, they don’t even look at the front of the house.

Die bei­den beach­ten die ande­ren her­um­tol­len­den Jungs gar nicht, auch nicht die Herrenhausfassade.

„Die bei­den“ sind hier Ste­ve und Aman­da, Shys Betreu­er, die auf Shy zuge­hen. Die­ser hat­te zuvor die Fens­ter des Hau­ses ein­ge­schla­gen. Doch woher kom­men auf ein­mal die „her­um­tol­len­den Jungs” oder die „Her­ren­haus­fas­sa­de“? Die Über­set­zung nimmt die Lesen­den inter­pre­ta­to­risch an die Hand, ohne dass die tie­fe­re Aus­lo­tung der Bedeu­tungs­ebe­nen dem Text hel­fen wür­de. Das Gegen­teil ist der Fall, denn der sprach­li­che Kon­trast irri­tiert in der gesam­ten Über­set­zung: Auf der einen Sei­te sind „die Wich­ser […] schon voll aggro“, auf der ande­ren Sei­te kom­men die Über­set­zen­den mit Neu­schöp­fun­gen wie „Oho, die mie­se Rat­te hat plötz­lich Ober­was­ser!“ um die Ecke – ob das nun die­sel­be Wir­kung wie das eng­li­sche Ori­gi­nal „Chip­py litt­le twat all of a sud­den, aren’t you?“ ent­fal­tet, darf ange­zwei­felt werden.

Auch in rhyth­mi­scher Hin­sicht dürf­te die Über­set­zung an eini­gen Stel­len ver­wun­dern. Por­ters metri­sche Prä­zi­si­on im Eng­li­schen wird in dem zitier­ten Satz schlicht­weg über­gan­gen, obwohl eine Nach­ah­mung mög­lich gewe­sen wäre und der deut­sche Text dadurch an Geschmei­dig­keit gewon­nen hät­te. An ande­ren Stel­len wird zwar der Ver­such unter­nom­men, die Melo­dik des Ori­gi­nals nach­zu­bau­en. Ten­den­zi­ell han­gelt man sich aber so stark am Ori­gi­nal ent­lang, dass der Rhyth­mus in vie­len Pas­sa­gen erstaun­lich abge­flacht wirkt.

Doch die Über­set­zung ist womög­lich nicht das größ­te Pro­blem. So popu­lär wie im eng­lisch­spra­chi­gen Aus­land sind Por­ters Bücher hier­zu­lan­de noch lan­ge nicht – zu die­ser Fest­stel­lung kommt auch Uda Strät­ling auf Tole­do – und sein neu­es­ter Roman wirft die Fra­ge auf, ob das über­haupt wün­schens­wert wäre. Bereits auf den ers­ten Sei­ten ist der Crin­ge-Fak­tor hoch, im Eng­li­schen wie im Deutschen:

Rand­all back2back Ken­ny Ken.
Express how you’re fee­lin.
Jungle.
The pin­na­cle.
The Amen.
Almigh­ty.
A way of life.
Big hot and hea­vy.
600 mil­li­on years, and we think we’re tough las­ting one hundred tops.
He can’t hold it still in his head.
Size.
But­ter­flies in his tum­my.
Time.
Slight­ly needs a shite.

Rand­all Back2Back Ken­ny Ken.
Express how you’re fee­lin.
Drum’n’Bass.
Jungle.
Das Aller­größ­te.
Das Amen.
Abso­lut.
Abge­fah­ren.
Heiß.
Rich­tig schwer der Scheiß.
600 Mil­lio­nen Jah­re, und wir bil­den uns auf unse­re bes­ten­falls hun­dert was ein. Das hält er im Kopf nicht aus.
Die schie­re Dimen­si­on. Den Druck.
Sein Magen spielt ver­rückt.
Zeit.
Leich­ter Drang zu scheißen.

Klingt so also die bri­ti­sche Poe­sie der Zukunft? Neben solch rhyth­mi­schen Eska­pa­den, deren explo­si­ves lyri­sches Poten­ti­al nur bedingt erkenn­bar ist, zeich­net Max Por­ters Schrei­ben ein gewis­ser Hang zur Sen­ti­men­ta­li­tät aus, der bereits in Trau­er ist das Ding mit Federn deut­lich spür­bar war. Shy for­dert Empa­thie; sein rebel­li­sches Ver­hal­ten und sei­ne Wut sind letzt­lich nicht mehr als ein Schrei nach Lie­be, sug­ge­riert Por­ter im faden Fina­le des Romans, das in einer Grup­pen­um­ar­mung endet. Wenig ori­gi­nel­le Bil­der wie der „dicke Ruck­sack Reue“ („a hea­vy bag of sor­ry“), den Shy mit sich her­um­trägt, oder die ein­ge­scho­be­nen The­ra­pie-Sprü­che tra­gen kaum zur Dar­stel­lung emo­tio­na­ler Tie­fe bei, son­dern erin­nern vor­ran­gig an Insta­gram-Psy­cho­lo­gie:

Be awa­re of what you’re fee­ling, and how it’s affec­ting what you’re doing. You’re the dri­ver of this vehic­le, yes?

Ergrün­de, was du emp­fin­dest und wie es dein Ver­hal­ten lenkt. Du sitzt am Steu­er, ver­stehst du?

Mit­un­ter dürf­te allen Betei­lig­ten die Ziel­grup­pe für Por­ters Roman nicht ganz klar gewe­sen sein. Da der Prot­ago­nist eben ein Teen­ager ist, hat der bri­ti­sche Ver­lag Faber flei­ßig Rezen­si­ons­exem­pla­re an jun­ge Booksta­gramm­er und Book­To­ker ver­schickt, aller­dings nur mit ver­gleichs­wei­se mäßi­gem Erfolg. Obgleich der Roman in den roman­ti­sier­ten 90er-Jah­ren spielt, dürf­te er den­noch wenig Pro­jek­ti­ons­flä­che für eine Gen Z bie­ten, die sich mit viel grö­ße­ren, exis­ten­zi­el­len Fra­gen beschäf­tigt als sie die­ser Roman aufwirft.

Shy ist kei­ne Figur der Gegen­wart, – was sicher­lich auch nicht Por­ters Inten­ti­on war –, son­dern kaum mehr als ein jugend­li­ches Kli­schee: Mit sei­nen dut­zend Pro­ble­men ist er durch­schau­bar, ja sogar lang­wei­lig. Wer nicht nur die anhal­ten­den For­de­run­gen nach Diver­si­tät und uner­zähl­ten Geschich­ten ver­folgt, son­dern auch deren Popu­la­ri­tät, lan­det unfrei­wil­lig bei der Fra­ge: Besteht ein Bedarf nach einem wei­te­ren „Boys-Tryp­ti­chon“, wie der Über­set­zer Mat­thi­as Göritz Por­ters Roma­ne nennt? Und gibt es nicht ohne­hin schon genug Bücher, die Ähn­li­ches ver­sucht haben wie Porter?

Aus­ge­rech­net Max Por­ters Mut­ter hat eine mög­li­che Les­art des Romans vor­her­ge­se­hen, erzählt der Autor bei­läu­fig im Inter­view: „Sie erwähn­te sogar, dass Män­ner mitt­le­ren Alters mög­li­cher­wei­se von Shy als nost­al­gi­sches Hilfs­mit­tel […] pro­fi­tie­ren könn­ten.“ Shy ist also ein männ­li­cher Nost­al­gie-Trip in Roman­form. Damit haben wir die Ziel­grup­pe, die wohl am ehes­ten etwas mit Shy anfan­gen kann. Por­ter-Fans mögen noch ein­wen­den, der Autor schrei­be eben nicht für die Mas­se. Dem ist wenig ent­ge­gen­zu­set­zen. Trotz­dem bleibt das Pro­blem am Ende bestehen: Es gibt nicht nur ande­re Geschich­ten zu erzäh­len, son­dern schlicht auch sehr viel interessantere.


Max Por­ter | Mat­thi­as Göritz | Uda Strät­ling

Shy



Kein & Aber 2023 ⋅ 144 Sei­ten ⋅ 17.99 Euro


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