
Die kleine Nordbahn zuckelt langsam in den Bahnhof von Bad Segeberg. Durchs Fenster sehe ich schon eine groß gewachsene Frau in Lederjacke, die suchend die Fahrgäste mustert. Es ist zwar erst unser zweites Treffen, aber es hat sich schon eine gewisse Routine eingestellt: Helga van Beuningen holt mich vom Bahnhof ab, wir fahren im Auto zu ihrem Haus, wo ihr Mann mit frisch gekochtem Hähnchen-Curry auf uns wartet. Nach dem Essen geht es an die Arbeit – Helga van Beuningen weiht mich in ihren Werdegang ein.
Wir lassen uns in gemütlichen Korbstühlen im Wintergarten mit Blick auf sattes Grün nieder. In diesem Haus hat die 78-jährige in den jetzt schon fast 40 Jahren ihrer Selbstständigkeit unzählige Werke aus dem Niederländischen ins Deutsche übertragen. Man kann mit Fug und Recht behaupten: Helga van Beuningen hat für das Übersetzen aus dem Niederländischen Pionierarbeit geleistet – doch dazu später mehr. Zu ihren festen Autor:innen gehören große Namen der alten Garde wie Cees Nooteboom, Margriet de Moor, Marcel Möring und A.F.Th. van der Heijden, aber auch die neuen Shootingstars der Literatur, wie Lize Spit und Marieke Lucas Rijneveld.
Marieke Lucas Rijneveld? Ich bin neugierig. Bald soll der neue Roman Het verdriet van Sigi F. in den Niederlanden erscheinen und mir kribbelt es schon in den Fingern – ich brauche dieses Buch! Leider wurde der Erscheinungstermin verschoben, und auch Helga van Beuningen kann mir – trotz guter Kontakte als Stammübersetzerin – keine Infos zur Veröffentlichung geben. Na gut, dann wenden wir uns eben von der Gegenwart ab und der Vergangenheit zu, schwenken von dem, was van Beuningen noch übersetzen wird, zu dem, was von ihr schon übersetzt wurde – und das liefert unendlich viel Gesprächsmaterial. Aber wie kam sie überhaupt zur niederländischen Sprache? Hatte das etwa mit ihrem doch sehr niederländisch klingenden Nachnamen zu tun?
Niederländerin ist Helga van Beuningen, geboren 1945 im Süden Deutschlands, jedenfalls nicht. Auf meine Frage, wie sie zur niederländischen Sprache gekommen ist, antwortet sie knapp: „Durch mein Studium.“ Dann holt sie aber doch weiter aus. Sie komme aus einer multilingualen Familie, erzählt sie. Ihr Vater hatte neben Englisch und Französisch auf der Schule auch Latein und Altgriechisch gelernt. Außerdem seien ihre Eltern beide Deutsch-Balten gewesen, berichtet sie. Aufgewachsen war ihr Vater in Deutschland, ihre Mutter jedoch in Riga. Mutter und Großmutter sprachen untereinander Lettisch oder Russisch, wenn die Kinder nichts verstehen sollten. All diese Sprachen schwirrten in van Beuningens Kindheit herum und beeinflussten sie maßgeblich: „Ich hatte immer fremde Sprachen im Ohr, ich habe sie nicht verstanden, aber sie haben mich maßlos fasziniert. Wenn ich mit meinem Vater spazieren ging, habe ich einfach so Worte erfunden und gefragt ‚ist da irgendwas dabei von irgendeiner Sprache, die es wirklich gibt?‘, und wenn er dann sagte ‚ja, im Französischen, da gibt es ein Wort, das so klingt‘, dann war ich überglücklich.“
In den sechziger Jahren, so van Beuningen, gab es nicht allzu viele Möglichkeiten, wenn man etwas mit Sprachen machen wollte. Es sei denn, man wurde Lehrerin – aber das wollte sie auf keinen Fall. Vor einer Schulklasse zu stehen, konnte sie sich beim besten Willen nicht vorstellen. So zog es die junge van Beuningen nach Heidelberg, wo sie Übersetzen studierte. Zwei Fremdsprachen musste man sich dafür aussuchen, van Beuningen entschied sich kurzerhand für Englisch und Spanisch. Nachdem sie festgestellt hatte, dass ihr „romanische Sprachen so viel weniger liegen als germanische Sprachen“, stieß sie auf das Fach Niederländisch. Und dann spielte die Familiengeschichte plötzlich doch eine Rolle: Helga van Beuningen erinnerte sich an schöne Urlaube in den Niederlanden – ihre Familie tauschte die Wohnung für die Ferien regelmäßig mit einer niederländischen Familie. Dort sog Helga van Beuningen im Teenageralter die fremde Sprache auf und eignete sich schnell erste Kenntnisse an. Außerdem gab es auch noch die 400 Jahre zurückliegenden Familienwurzeln im Nachbarland – van Beuningens Entschluss stand fest: Statt Spanisch wollte sie Niederländisch studieren.
Spanisch hat van Beuningen dann später aber doch noch gelernt – allerdings auf eigene Faust, um mit ihrem Mann im Camper monatelang durch abgelegene Landstriche in Südamerika zu reisen. Sowieso hat ihre Sprachbegeisterung nie nachgelassen. Weil das Ehepaar ein Haus in Griechenland hat, in dem es mehrere Monate pro Jahr lebt, spricht van Beuningen auch Griechisch.
Aber zurück nach Heidelberg: Kurz vor dem Studienabschluss wurde van Beuningen vom Institutsdirektor zu einem Gespräch eingeladen. Eine Stelle als Lektorin für das Übersetzen aus dem Niederländischen war frei geworden, und seine beiden Mitarbeiter hatten van Beuningen für die offene Stelle empfohlen. Und die sagte prompt zu. Fünf Tage nach ihrer letzten mündlichen Prüfung ging das neue Semester los – für sie diesmal aber als Dozentin. Fünfzehn Jahre lang hatte Helga van Beuningen die Stelle am Institut für Übersetzen und Dolmetschen inne, und in dieser Zeit kurzerhand alles, was ihr als Studentin nicht gefallen hatte, geändert. Die Übersetzungswissenschaften entwuchsen damals gerade erst den Kinderschuhen. Der damit einhergehende Mangel an stichhaltigen Beurteilungskriterien störte sie am meisten, und so erarbeitete sie selbst eine ganze Palette an sinnvollen Parametern, damit die Studierenden nicht mehr mit Sätzen wie „das klingt besser“ abgespeist werden mussten. Und auch heute noch sagt van Beuningen bestimmt:
„Ich bin Praktikerin geblieben, aber ich kann meine eigenen Übersetzungsentscheidungen alle begründen.“
Die meisten Absolvent:innen arbeiteten später in der Wirtschaft und der Politik – mit Literaturübersetzen hatte der Studiengang nichts zu tun. Doch Helga van Beuningen hatte eine kleine Arbeitsgemeinschaft gegründet, die gemeinsam erste Schritte im Übersetzen von Literatur wagte. Die Liebe zur Literatur, und auch die Liebe fürs Literaturübersetzen, steckte einfach in ihr: „Wir sind eine Familie von fanatischen Lesern, Bücher sind für uns das Größte“, sagt sie wie aus der Pistole geschossen, als ich sie nach den Lesegewohnheiten ihrer Familie frage.
Und die Liebe führte sie schließlich auch in die Selbstständigkeit. In erster Linie war es allerdings nicht die Liebe zur Literatur, sondern die klassische romantische Liebe, wie wir sie aus Filmen und Büchern kennen. Helga van Beuningen hatte Urlaub im Senegal gemacht – und dort einen deutschen Mann getroffen. Da ihr Partner eine Firma in Bad Segeberg hatte und nicht umziehen konnte, entschloss sich van Beuningen dazu, die Universität Heidelberg zu verlassen und sich mangels freier Stellen an den umliegenden Universitäten in Bad Segeberg als Übersetzerin selbstständig zu machen: „Jetzt probiere ich das, was ich vier Jahre lang studiert und fünfzehn Jahre lang unterrichtet hatte, selbst in die Praxis umzusetzen. Und das war anfangs schon hart“, sagt sie über diese Zeit.
Aus der Wirtschaft gab es so gut wie keine Resonanz auf ihre Anschreiben. Als sie im Oktober 1984 nach Bad Segeberg zog, ging es wenige Tage später auf ihre erste Frankfurter Buchmesse – mit frisch gedruckten Visitenkarten in der Tasche, tingelte van Beuningen von einem Verlagsstand zum nächsten, doch dort reagiert man auf ihre Bemühungen nicht gerade interessiert. Mit einer ehemaligen Studienkollegin hatte van Beuningen vorab schon eine Marketingoffensive gestartet – zusammen schrieben sie 300 deutschsprachigen Verlagen und boten ihre Dienste als Übersetzerinnen an. Auch hier gab es so gut wie keine Reaktionen – höchstens die leeren Worthülsen, man nehme sie in die Übersetzer:innenkartei auf. An den ersten Auftrag kamen die beiden schließlich über persönliche Kontakte. Die Kollegin hatte einen Draht zu Diogenes, wo gerade eine Übersetzerin für den Roman Onder professoren von Willem Frederik Hermans gesucht wurde. Nach einer Probeübersetzung bekam das Übersetzerinnenduo den Zuschlag. Die Freude war groß – Hermans gilt als einer der bedeutendsten Autoren der Niederlande. Leider veröffentlichte Diogenes nach Unter Professoren keine weiteren Bücher von Hermans. Van Beuningen musste sich weiter um neue Aufträge bemühen.
1985 kam eine Anfrage von Suhrkamp, ob Helga van Beuningen zwei Seiten Probeübersetzung von einem Text von Renate Rubinstein anfertigen wolle. Zu jenem Zeitpunkt war der zuständige Lektor des Verlags kurz davor gewesen, die Reißleine in Bezug auf niederländische Literatur zu ziehen. Zwar wurden ihm immer wieder spannende Bücher vorgestellt, doch die Projekte scheiterten an der geringen Qualität der Übersetzungen. Der Niederlandistikprofessor Carel ter Haar, der Verlage mit Tipps über niederländischsprachige Neuerscheinungen versorgte, hatte Helga van Beuningen empfohlen. Man kannte sich von Tagungen und er wusste um ihre frische Selbstständigkeit. Bei ihr solle es der Lektor doch einfach mal versuchen. Und dieser Versuch glückte. Zufrieden mit der Probeübersetzung erhielt van Beuningen nicht nur den Auftrag, sondern durfte gleich das zweite Buch von Rubinstein übersetzen. Die niederländische Literatur im deutschsprachigen Raum war gerettet!
Langsam schaffte es Helga van Beuningen, sich von Sachbüchern, die sie zwischenzeitlich aus dem Englischen und Niederländischen übersetzt hatte, zu Literatur hinzuarbeiten und sich auf die niederländische Sprache zu spezialisieren. Ihre Bemühungen trugen schnell Früchte, „zu früh, viel zu früh“, wie sie selbst nachdrücklich sagt. Denn sieben Jahre, nachdem sie sich selbstständig gemacht hatte, erhielt sie gleich zwei Preise: den wichtigsten niederländischen Preis für Übersetzung, und den Kunstpreis des Landes Schleswig-Holstein. Beide Preise waren etwas ganz Besonderes – der Martinus-Nijhoff-Preis ist eine renommierte Auszeichnung, bei der das Oeuvre oder ein bestimmtes Werk einer übersetzenden Person gewürdigt wird.
„Mir war bewusst, was für ein großer Preis das ist, und wie prestigeträchtig. Ich war absolut der Meinung, dass ich noch nicht so weit war, aber ich habe natürlich nicht Nein gesagt.“
In Schleswig-Holstein wurde der Preis zum ersten Mal an eine Übersetzerin verliehen, nachdem es ausführliche Diskussionen darüber gegeben hatte, ob Übersetzen überhaupt eine Kunstform darstelle. Auch hier war van Beuningen also eine Wegbereiterin.
Nicht unwesentlich für ihren Erfolg sind die Bücher von Cees Nooteboom. Und andersrum haben Helga van Beuningens brillante Übersetzungen zum enormen Erfolg des niederländischen Autors in Deutschland beigetragen. Als Nootebooms Het volgende verhaal im Deutschen 1991 unter dem Titel Die folgende Geschichte veröffentlicht wurde und die Kritik in Jubel ausbrach, war das für van Beuningen der Karrieredurchbruch. Als dann auch noch 1993 die Niederlande und Flandern auf der Frankfurter Buchmesse Ehrengast waren, war sie gefragt wie nie – und diese Auftragsflut ist erst in den letzten Jahren langsam abgeebbt. Inzwischen hat Helga van Beuningen knapp fünfzig Bücher von Cees Nooteboom übersetzt.
Die Übersetzerin sagt über diese Zeit: „Ich hatte wahnsinniges Glück , dass zeitgleich mein Anfang in der Selbstständigkeit, die Buchmesse und Nooteboom zusammenfielen. Und das hat sich gegenseitig verstärkt, jeder wollte die Bücher, die er eingekauft hatte, von mir übersetzt haben. Ich hätte damals fünfmal so viele Bücher machen können.“ Nach der über dreißigjährigen Zusammenarbeit pflegen sie und der kürzlich 90 Jahre alt gewordene Nooteboom ein freundschaftliches Verhältnis. Der Autor sei unglaublich loyal und melde sich immer mal bei ihr, um sich nach ihr zu erkundigen.
Helga van Beuningen hat meterweise Literatur übersetzt, das sieht man auch an ihrem Regal mit den Belegexemplaren. „Ich ersticke in Büchern“ sagt sie, und erzählt, sie wolle bald das Regal aufräumen, damit alle Bücher einen vernünftigen Platz haben. Ich staune angesichts der Autor:innen, die ganze Regalreihen in Beschlag nehmen. Ungefähr sieben feste Autor:innen habe sie lange gehabt, so van Beuningen, und dadurch sei sie immer ein Jahr im Voraus ausgebucht gewesen – ein Umstand, von dem die meisten Literaturübersetzer:innen nur träumen können. Einige dieser Autor:innen schreiben mittlerweile nicht mehr oder werden nicht mehr in Deutschland veröffentlicht.
Eigentlich hatte sie damals schon keine neuen Autor:innen annehmen wollen, um langsam den Ruhestand einzuläuten. Doch als sie De avond is ongemak (dt. Was man sät, Suhrkamp) las, blieb ihr nichts anderes übrig, als den Auftrag anzunehmen, das Buch beeindruckte sie einfach zu sehr. Auch jetzt dürfe sie eigentlich keine neuen Bücher mehr lesen, doch wenn ein Text überzeugend sei, schaffe sie es einfach nicht, Nein zu sagen. Ich muss lachen, aber Helga van Beuningen ist es ernst:
„Wenn mich ein Buch begeistert, dann gibt es kein Halten mehr und keine vernünftigen Gründe für mich, es nicht zu machen, dann will ich es nur noch machen.“
Marieke Lucas Rijneveld hat van Beuningen auch noch zwei äußerst schöne Momente in ihrer Übersetzungskarriere beschert: 2021 wurde sie mit dem Straelener Übersetzerpreis der Kunststiftung NRW für Rijnevelds Debüt ausgezeichnet, 2022 war sie mit dem Zweitling Mein kleines Prachttier für den Leipziger Buchpreis für Übersetzung nominiert. Die Freude über die Auszeichnungen (2006 gewann sie auch noch den Helmut M. Braem Preis und den Else-Otten-Preis) ist immer noch spürbar, denn Übersetzer:innen werden nur selten angemessen gewürdigt. Als sie vom Preis und der Nominierung für die Rijneveld-Übersetzungen erzählt, strahlen ihre Augen. Vor der Preisverleihung in Leipzig sei sie unglaublich nervös gewesen, berichtet sie und schildert die Vergabe so lebendig, dass ich selbst ganz hibbelig werde. Am Ende hat sie den Preis nicht gewonnen, aber das stört sie nicht. In der Sekunde der Verkündung sei sie vor allem froh darüber gewesen, nicht auf die Bühne zu müssen, um eine kurze Dankesrede zu halten. Eine Nominierung in Leipzig sorgt also auch nach einer so langen und erfolgreichen Karriere immer noch für große Emotionen.
Nach fast vierzig Jahren der Selbstständigkeit, habe sie sich etwas vor dem Ruhestand gefürchtet, gibt van Beuningen zu. Sie habe gedacht, sie würde unglücklich sein, wenn sie nicht übersetzen würde. Jahrzehntelang hat sie täglich mindestens acht Stunden übersetzt, was bei einem geistig derart herausfordernden Job enorm ist. Sie sagt selbst, dass sie sich jahrelang ausgebeutet und immer nur gearbeitet habe. Jetzt weiß sie, nachdem sie zum ersten Mal mehrere freie Monate hatte, dass ihr das unglaublich guttue und sie endlich Zeit zum Lesen finde. Aber wenn dann doch wieder ein interessantes Buch kommt, freue sie sich, sagt van Beuningen und sieht dabei richtig zufrieden aus. Nach einer so beeindruckenden und erfolgreichen Karriere kann sie das auch wirklich sein.