In dieser Reihe stellen Übersetzer:innen Bücher aus „ihrem“ Land vor – spannend, wegweisend, romantisch, subtil, haarsträubend oder urkomisch – und in jedem Fall lesenswert. Ob Klassiker oder Zeitgenössisches, Krimis, Poesie oder Kinderbücher … diese ganz persönliche Leseliste lädt dazu ein, die literarische Landschaft des Landes vom Sofa aus zu bereisen. Viel Spaß beim Schmökern!
Roman
Eeva-Liisa Manner: Das Mädchen auf der Himmelsbrücke
Aus dem Finnischen übersetzt von Maximilian Murmann. Guggolz 2022
„Es war einmal, nicht weit von hier und vor nicht allzu langer Zeit, ein Stück Geometrie, das zu Holz und Stein geworden war, eine Stadt, die es nicht mehr gibt.“ Eine wunderbar träumerische Stimmung, in der man am liebsten versinken würde – wäre da nicht plötzlich das harsche Klatschen der Lehrerin, die ihre Klasse zum Marschieren im Gleichschritt anspornt. Wer Das Mädchen auf der Himmelsbrücke liest, dem geht es wie der jungen Leena: Auf der Flucht vor der schulischen Disziplin wandert das Mädchen inmitten der schläfrigen Magie ihrer Heimatstadt und staunt über die Geheimnisse der Welt: die tiefe und doch tränenlose Trauer der Großmutter, das Flunkern des Wassers und den unwiderstehlichen Sog der himmlischen Musik, der aus der kleinen, schiefen Kirche dringt. In ihrem Debütroman fängt Eeva-Liisa Manner – inspiriert von den eigenen Kindheitserinnerungen – die Poesie der Einsamkeit und den Schmerz eines Kindes ein, das sich der Welt unmittelbar ausgesetzt sieht. Bereits 1951 erschienen, liegt das Buch nun erstmals auch in deutscher Übersetzung von Maximilian Murmann vor, die Stimmen und Stimmungen der Figuren geschickt einfängt. Ergänzt um ein Nachwort von Antje Rávik Strubel sowie private Fotos der Autorin bietet es einen Einblick in Leben und Werk einer der bedeutendsten Modernist*innen des 20. Jahrhunderts.
Roman
Rosa Liksom: Die Frau des Obersts
Aus dem Finnischen übersetzt von Stefan Moster. Penguin 2020
„Die Freude am früheren Leben besteht darin, dass es nicht wiederkommt.“ In einem großen Haus am äußersten Rand eines finnischen Dorfes sitzt eine alte Frau nachts am Kamin und erinnert sich: daran, wie sie im Lappland der Zwischenkriegszeit als Tochter eines überzeugten Nationalisten aufwuchs, inmitten von Bewunderung für die Deutschen, Hass auf die Russen und Träumen von Großfinnland, mit einer Mutter aus einem finnlandschwedischen Adelsgeschlecht und einer samischen Großmutter. Wie sie an der Seite eines fast 30 Jahre älteren Oberst der Weißen Armee zur glühenden Anhängerin der Nazis wurde und mit ihm Reisen in die von Deutschland besetzten Gebiete unternahm. Dann die Niederlage der Nationalsozialisten, die furchtbaren Gewaltausbrüche ihres Ehemannes und das Leben danach – nach dem Krieg und nach der Trennung. Rosa Liksom erzählt in der ihr eigenen kraftvollen und von Eindrücken der nordfinnischen Natur durchtränkten Sprache und scheut dabei weder vor ideologischen Abgründen noch vor der hemmungslosen Brutalität der zwischenmenschlichen Gewalt zurück. Brutal ist aber auch die Ehrlichkeit der Hauptfigur, denn das Buch ist kein Läuterungsbericht einer Reumütigen. Auch nach der Trennung von ihrem Mann legt die Frau Oberst ihren Titel nicht ab und hat am Ende ihres Lebens vor allem eines zu sagen: Ich schäme mich nicht. Stefan Moster bewegt sich gekonnt im Spannungsfeld zwischen nüchterner Beschreibung und rauschartigen Gefühlen und gibt der Hauptfigur auch in der Übersetzung eine markante Stimme.
Gedichte
Niillas Holmberg: Der dem Wind auf dem Schoß sitzt
Aus dem Samischen übersetzt von Katrin Merz. hochroth 2017
Mit diesem Buch bietet sich eine im deutschsprachigen Raum seltene Gelegenheit: nordsamische Gedichte zu lesen, und das nicht nur in deutscher Übersetzung, sondern Seite an Seite mit dem Original. Niillas Holmberg, der auch als Musiker und Aktivist tätig ist und 2021 den viel beachteten Debütroman Halla Helle veröffentlichte, demonstriert in dem schmalen Band seine Vielseitigkeit und thematische Experimentierfreude. Zur Sprache kommen interkulturelle Begegnungen und Konflikte in einer globalisierten Welt ebenso wie die Identität als Künstler und die Beziehung zur Natur und deren Ausbeutung: „ja dál go riggát riggot / guđđet guorusin johkagieđait“ („und die Reichen bereichern sich / lassen das Fjell wie leere Taschen zurück“). So auch die Perspektive eines Sámi im Nationalstaat Finnland: Eines der Gedichte erzählt etwa von der kindischen Wut eines finnischen Freundes ob der Aussage des lyrischen Ichs, dass beim Skilaufen im Fjell nur das Fjell existiere, und legt damit in wenigen Zeilen die Fragilität der geopolitischen Konstrukte offen, auf denen die finnische Gebietshoheit beruht.
Ausgewählt und ins Deutsche übertragen wurden die Gedichte von Katrin Merz, die seit 2013 mit dem Kollektiv Bie aus dem Nordsamischen übersetzt. Ergänzt um die Titelgrafik „Sodjun ii dodjun“ (Geknickt, aber nicht gebrochen) des samischen Künstlers Hans Ragnar Mathisen konfrontieren sie mit einer sonst selten beachteten Sprache und vermitteln einen kleinen Einblick in die Gegenwart der einzigen indigenen Kultur Fennoskandinaviens.
Roman
Emmi Itäranta: Der Geschmack von Wasser
Aus dem Finnischen übersetzt von Anu Stohner. dtv 2014
Um die Kostbarkeit von Trinkwasser geht es in Emmi Itärantas Debütroman. Seine Knappheit hat große Teile der Welt unbewohnbar gemacht und in anderen Teilen erbitterte Kämpfe um die letzten Wasserreserven ausgelöst. Inmitten dieser postapokalyptischen Verheerung wird die angehende Teemeisterin Noria von ihrem Vater nach altem Brauch zur Hüterin des Wassers ausgebildet. Aus ihrem Bericht entspinnt sich in einem kleinen Dorf im Lappland der Zukunft eine Erzählung über die Beziehung der Menschen zum Wasser und zur eigenen Vergänglichkeit. In leisen Tönen, dafür aber umso erschütternder offenbart sich die Brutalität, die nicht nur dem Versuch innewohnt, Menschen den Zugang zum Wasser zu verwehren, sondern auch dem Eigentumsanspruch, der diesem Versuch zugrundeliegt. Itärantas auf Deutsch leider schon vergriffener Roman zählt zu den Vertretern der Climate Fiction, das als vergleichsweise junges und internationales Genre unlängst auch in Finnland Anklang gefunden hat. Der Geschmack von Wasser steht dabei beispielhaft für das Selbstbewusstsein und die Hybridität der finnischen Phantastik, die verschiedene Einflüsse zu integrieren weiß und sich zugleich ihre heimischen Wurzeln bewahrt. Anu Stohner trägt dieser Hybridität Rechnung und lässt Fantastisches und Vertrautes in ihrer Übersetzung nahtlos miteinander verschmelzen.
Roman
Johanna Holmström: Die Frauen von Själö
Aus dem Schwedischen übersetzt von Wibke Kuhn. Ullstein 2019
Aus einem dunklen Kapitel der finnischen Geschichte erzählt Die Frauen von Själö. Kristina, eine völlig erschöpfte Magd, die ihre beiden Kinder Endes des 19. Jahrhunderts im Fluss ertränkt, und die 17-jährige Elli, die in den 1930er-Jahren aus der Enge des Elternhauses flieht, könnten unterschiedlicher nicht sein. In den Augen der finnischen Gesellschaft sind sie jedoch nur eines: verrückt. Und so weist man sie beide in die Nervenheilanstalt auf Själö ein, einer Insel im Schärengarten Finnlands. Einst ein Leprakrankenhaus, ist die Anstalt dort längst zur Endhaltestelle für Frauen geworden, mit denen niemand mehr etwas anzufangen weiß. Auch Sigrid, die dort als junge Frau als Krankenschwester anfing, lässt die Insel nicht mehr los. Für ihren Roman hat die finnlandschwedische Autorin Johanna Holmström sowohl in Regionalarchiven als auch zur Entwicklungsgeschichte der modernen Psychiatrie recherchiert. Mit ruhiger und zugleich unerbittlich präziser Sprache zeichnet sie ein Bild der Gesellschaftsstrukturen des historischen Südwestfinnlands, in denen die Rädchen der Ausgrenzung unaufhaltsam ineinandergreifen, und erzählt vom in jeder Hinsicht jenseitigen Leben der vermeintlich Verrückten. Die Übersetzung von Wiebke Kuhn führt mit sicherem Gespür sowohl für Zeitkolorit als auch für die Erwartungen des deutschen Lesepublikums durch die Welt der Vergangenheit.
Erzählung
Aleksis Kivi: Sieben Brüder
Aus dem Finnischen übersetzt von Gisbert Jänicke. Jung und Jung 2014
Zum Schluss kehren wir zurück an den Anfang der finnischen Literaturgeschichte. Die Geschichte von sieben Brüdern, die im bäuerlichen Finnland der fernen Vergangenheit an der Hürde des Lesenlernens scheitern und in die Wildnis fliehen, mutet zunächst vor allem komisch an. Die Brüder streiten, fluchen, saufen und brennen aus Versehen die selbstgebaute Sauna ab. Zu Kivis Lebzeiten war es eben dieser derbe, lebhafte Humor, der dem Werk und seinem Autoren zum Verhängnis wurde – einen „Schandfleck der finnischen Literatur“ nannte der einflussreiche Schriftsteller und Kritiker August Ahlqvist den Roman. Ein Schandfleck wohlgemerkt, der inzwischen in mehr als 30 Sprachen übersetzt ist und als eines der wichtigsten Werke der finnischen Literatur gilt. Denn so wenig der Roman die Erwartungen des zeitgenössischen Publikums an eine angemessene Repräsentation der Finnen als ernstzunehmendes Kulturvolk erfüllte, so deutlich stellte sich im Rückblick heraus, dass Kivi seiner Zeit voraus war. Sieben Brüder erwies sich als Vorreiter des Realismus, wie er in der finnischen Literatur noch lange vorherrschen sollte. Zugleich ist der Roman vielschichtiger als viele seiner Nachfolger: Kivi bedient sich volkstümlicher Legenden ebenso wie der Sprache der Bibelübersetzung, deren feierlicher Stil auch als humoristisches Stilmittel für die heute noch witzigen Dialoge herhalten darf. Die Neuübersetzung von Gisbert Jänicke beruht auf der Originalversion der Geschichte, die 1870 in vier Teilen noch vor der Veröffentlichung als Roman erschien. Ein ausführliches Nachwort des Übersetzers zum Leben des Autors ordnet den Roman in seinen zeithistorischen Kontext ein und beleuchtet die spannungsreiche Zeit des ausgehenden 19. Jahrhunderts, als die Finnen sich als Land und Volk zu definieren suchten.
Noch mehr zur finnischen Sprache, Literatur und Kultur erfahrt ihr in unserem Beitrag Große kleine Sprache Finnisch!