Das Übersetzen von graphischen Medien, insbesondere von Manga, ist mehr als das neue Befüllen von Sprechblasen. Und auch der Weg zum Mangaübersetzen steckt voller Hürden. Es spielen viele Faktoren eine Rolle, die zu einem ersten Auftrag führen. Auf einiges kann man sich vorbereiten, um eine gute Ausgangslage zu schaffen, anderes ist branchenabhängig und liegt nicht in der Hand eines Einzelnen. Gerade als Neuling in der Branche muss man sich neben den Sprachkenntnissen viel Know-How aneignen.
Zahlen und Fakten zum Manga-Boom in Deutschland
Laut dem Börsenverein des deutschen Buchhandels gab es 2021 unter den 71.640 Neuerscheinungen 8.703 übersetzte Titel. Das heißt, jedes 10. Buch war eine Übersetzung. Spitzenreiter sind natürlich die Kolleg:innen mit Übersetzungen aus dem englischen Sprachraum. Nun könnte man vermuten, es folgten Sprachen der deutschen Nachbarländer. Dem ist auch so, mit einer Ausnahme: Japanisch liegt mit 10,8 % an übersetzten Titeln auf Platz 2. Knapp vor Französisch! (Fun Fact: In Frankreich existiert ebenfalls ein sehr großer Markt für Übersetzungen aus dem Japanischen.)
Dieser verdiente zweite Platz der meistübersetzten Sprachen in Deutschland spiegelt einen parallel verlaufenden Trend wider: Den Manga- und Anime-Boom, der seit den 1990er Jahren immer wieder in Wellen zusammen mit dem Japan-Boom rüber nach Deutschland schwappt. Das Kulturgut Manga ist die japanische Version eines schwarz-weißen in „Lustiger Taschenbuch“-Manier gebundenen „Comics“, der von hinten nach vorne gelesen wird. 2021 wurden mehr als 1.000 Mangabände quer durch die Verlagslandschaft hinweg auf den Markt gebracht. Die 1.000 Bände umfassen alle Genres von Romance, Slice of Life, Coming of Age über Action, Mystery, Thriller, Horror und LGBTQ+, all diese Themen und Lebensbereiche werden von Manga abgebildet.
Der Einstieg in die Branche als Mangaübersetzer:in
Von solch einer komplexen und aus europäischer Perspektive fernen Sprache erwartet man das nicht unbedingt, aber seit Jahren, wenn nicht schon seit Jahrzehnten, lernen unglaublich viele Menschen Japanisch. Viele davon probieren sich im Übersetzen aus. So wie ich vor ein paar Jahren. Daher ist es bei Mangaverlagen gang und gäbe, dass die Übersetzenden zunächst eine Probeübersetzung anfertigen müssen, um unter den Japanfans die ehrenwerten Hobbylerner:innen (wir haben wohl alle so angefangen, oder?) von potenziellen Übersetzer:innen unterscheiden zu können. Je nach Ergebnis der Probe wird man in den bestehenden Pool der Übersetzer:innen aufgenommen. Wenn man Vollzeit-Mangaübersetzer:in werden möchte, sollte man also einen langen Atem besitzen. Erstens gibt es die Stammübersetzer:innen der Verlage: Die verlässlichen Veteranen. Zweitens bekommen die Verlage oft Zulauf durch eben diesen Boom und das Managen von neuen Freiberuflern hat nicht immer oberste Priorität im alltäglichen Verlagstrubel. Bis eine Chance auf eine Probeübersetzung zustande kommt, kann es daher etwas dauern, je nach Saison und eigenem Geschick – sprich Portfolio und Lebenslauf.
Sich selbst treu bleiben und sich einfach trauen!
Ich hatte schon im Studium der Japanologie in Frankfurt und Tokyo Berührungspunkte zum Übersetzen, arbeitete aber an Veröffentlichungen auf redaktioneller Seite und musste dadurch meine Liebe zu Manga immer etwas hinten anstellen. Lieber professioneller im Businesskontext auftreten, so lautete meine Devise als Neuling. Über sein Lieblings-OTP (one true pairing) kann man sich auch nach der ersten Manuskriptabgabe oder auf der nächsten Anime- und Mangamesse unterhalten. So leitete ich alles in die Wege, um die freiberufliche Arbeit aufzunehmen, erstellte meine Website als Anlaufstelle und Onlineportfolio als Aushängeschild. Dann begann die Akquise. Mittlerweile traue ich mich zu sagen, was ich selbst gern lese, oder worin ich im Manga- oder Japanbereich viel Erfahrungen habe. Was früher in der Schule und vor der Selbstständigkeit eher negativ oder gar peinlich aufgefallen ist, ist nun ein Vorteil. Früher war man die mit dem komischen Musikgeschmack (J‑Rock/Visual Kei) oder die, die alle Pokémon aufsagen konnte. Heutzutage ist mein angereicherter Wissensfundus zu einer Stärke geworden. Ich erkenne Referenzen innerhalb des Mediums und kann ganz andere Verknüpfungen zwischen Werken und Mangaka herstellen.
Das Studium und die Arbeit als Übersetzerin hat geholfen, diese Stärken herauszuarbeiten und zu verknüpfen. Daher ein Tipp: Es ist sinnvoll, herauszufinden, wo die eigenen Stärken und Interessen liegen und sich darauf zu konzentrieren. Denn so wird die Arbeit einfacher und am Ende auch rentabler. Außerdem ist es besser, sich authentisch zu geben und zu den eigenen Interessen zu stehen. Offen zu sagen: Ich kann gut Boys Love übersetzen oder ich habe viel Hintergrundwissen zum Thema der Mensch-Tier-Beziehungen und Katzen in Japan in meinem Fall. Es ist nämlich gefährlich, als Neuling zu allem Ja und Amen zu sagen. Man muss die Balance zwischen Generalist und Spezialist für sich finden und immer wieder neu ausloten. Gerade in einem so weiten Feld an Genres und Themen wie in der Mangalandschaft.
Man ist nicht alleine in der Branche
Sind diese Hürden geschafft, muss eine entsprechende Lizenz beim Verlag verfügbar bzw. noch ohne festgelegten Übersetzer sein, also ein Platz im nächsten oder eher übernächsten Verlagsprogramm frei sein. Etwas, was man einem Neuling zutraut. Etwas, das nicht zu viel Recherche benötigt, wofür man aber dennoch jemanden mit guten Japanischkenntnissen und noch besseren Deutschkenntnissen braucht. Für diese Erstlingsübersetzungen werden gerne sogenannte „One Shots“, also Einzelbände, oder Kurzreihen, von den Verlagen ausgewählt. An solch einem Auftrag lässt sich feststellen, ob eine zukünftige Zusammenarbeit gelingt, ohne gegenseitig längere Verpflichtungen einzugehen. Das möchte ich an dieser Stelle besonders betonen, denn auch als Neuling in der Branche sollte man weder als Bittsteller noch als Riesenfan auftreten. Man ist von der ersten Sekunde an Übersetzer:in, Freiberufler:in – ein:e Dienstleister:in. Oft beginnt man diesen Beruf aus Liebe zum Medium und zur Sprache. Sei es Manga, Literatur, Animation, Film oder Videospiele. Doch diese rosarote Brille sollte man sich abtrainieren und nur für das private Vergnügen wieder aufsetzen. Man tappt gerade am Anfang schnell in die Falle „alles für sein Traumprojekt zu geben“. So lässt man sich schnell ausbeuten, damit man endlich was im Portfolio stehen hat und dann bei anderen Bewerbungen etwas vorweisen kann. Doch die eigene Zeit und Fähigkeit sollte immer entsprechend honoriert werden!
Was braucht man nun zum Mangaübersetzen und wie funktioniert das?
„Nur“ sehr gut Japanisch zu können, reicht im Bereich des Übersetzens von popkulturellen Medien bei Weitem nicht aus. Das ist leider ein weitverbreiteter Trugschluss unter Japanfans. Man konzentriert sich jahrelang auf den Erwerb der Kanji, Kultur, Redewendungen und des Fachvokabulars, aber das alles ist nur ein Baustein der beruflichen Wirklichkeit. Die eigenen Deutschkenntnisse müssen sitzen und sollten akkurat und jederzeit abrufbereit sein. Es ist von nun an die eigene Arbeitssprache. Gerade bei einem Medium wie Manga, dessen Zielgruppe 10 bis 20-jährige sind, ist die allseits angepriesene und vermeintlich genutzte Jugendsprache ebenfalls ein Muss. Aber alles trotzdem bitte Duden- und DWDS- konform, wo kämen wir denn sonst hin?!
Die Vorarbeit und Rahmenbedingungen sind nun geklärt. Jetzt liegt der japanische Band oder das eBook vor einem auf dem Schreibtisch. Und nun?
Bevor es an den Text in und außerhalb der Sprechblasen im Manga geht, muss dieser noch mit Rotstift massakriert werden. Sorry, nummeriert natürlich. Das mache ich am Tablet. Dieser Schritt in der Mangaübersetzung ist auch ein exzellentes Beispiel für den sich in der Schwebe befindlichen Zustand der Mangabranche. Einerseits Rekordverkäufe und immer mehr Lizenzen, die den deutschen Markt erweitern. Andererseits veraltete Guidelines, dass man den händisch nummerierten Band bitte wieder auf dem Postweg an den Verlag zurückschicken soll. In Zeiten von PDF-Druckdaten und papierlosen Arbeitsplätzen würde ich mir in diesen Bereichen auch eine einheitliche Digitalisierungsstrategie wünschen.
Jeder Verlag ist auf die eine oder andere Art historisch mit dem Manga-Boom gewachsen und bis zu unterschiedlichen Ebenen mit der Zeit gegangen. Auf diesem Weg gab es anscheinend für den Bereich der Mangaherstellung keinen gemeinsamen Konsens unter den Verlagen. Jeder kocht sein eigenes Süppchen und das ist am Anfang sehr verwirrend. Jeder Verlag tritt mit eigenen Guidelines, Seitenformatierungen und Fußnotenregelungen an uns Übersetzer:innen heran. In solchen Guidelines steht zum Beispiel, ob das Wort „oden“ übersetzt wird, oder ob eine *-Fußnote gesetzt werden soll, in der erklärt wird, was das ist. (Bei dem Begriff handelt es sich um einen japanischen Eintopf der überwiegend in der Winterzeit zubereitet wird.) Das Guideline-Dokument ist daher immer griffbereit für die //bold italic// richtige Letteringanweisung. Mangaübersetzer:innen markieren nämlich in der Regel auch, an welchen Stellen der Text fett, kursiv oder in sonstiger Weise formatiert werden muss.
Diese Anweisungen sind wiederum situationsabhängig. Erinnert sich ein Charakter an etwas? Ist es ein innerer Monolog? Ein unbekannter Erzähler? Ein Soundwort oder doch ein Kommentar außerhalb der Sprechblase? Diese Formatierungsarbeit unterbricht den eigenen Workflow öfter als man vielleicht denken würde. Gerade, wenn man mehrere Mangaprojekte bei verschiedenen Verlagen hat und dementsprechend verschiedenen Guidelines befolgen muss. Allerdings wird man zur parallelen Arbeit an mehreren Projekten gezwungen, um genügend Einnahmen zu generieren. Es erscheint paradox, denn wir haben ein Rekordhoch an Auflagen und Neuerscheinungen. Dennoch stehen die, die an vorderster Front am Text arbeiten, am Ende der Nahrungskette in diesem Segment des Buchmarktes.
In der Regel erscheinen Manga neun bis zwölf Monate nach dem japanischen Original. In Deutschland erscheinen mehrbändige Reihen im zwei- oder dreimonatigen Rhythmus. In Ausnahmefällen auch nur halbjährlich. Das heißt, man arbeitet als Übersetzer:in zwischen den Manuskriptabgaben ebenfalls in diesem Rhythmus. Die Verlage und Redakteur:innen, mit denen ich bisher arbeiten durfte, waren sehr darauf bedacht, den Übersetzer:innen das Material frühzeitig und mit genügend Vorlauf zur Verfügung zu stellen.
Hat man die letzte Sprechblase und Dankesworte des Mangaka zu Papier gebracht, beginnt natürlich noch der eigene Korrekturdurchgang. Bei ca. 150–200 Seiten pro Manga mit im Schnitt 5–25 Textfeldern pro Seite kann einem nämlich auch mal ein Soundwort oder eine Sprechblase durchrutschen. Ich versuche mir auch knifflige Stellen für diesen Durchgang aufzuheben. Dann hat man einen Gesamteindruck vom Band, der Story und den Charakteren und eine kryptische Formulierung zu Anfang kann plötzlich Sinn ergeben. Ist man zufrieden oder die Deadline naht (eher Letzteres) wird das Manuskript an den Verlag zurückgeschickt und in die Hände fähiger Lektor:innen (oft auch mit Japanischkenntnissen) und Redakteur:innen übergeben. Falls keine größeren Logikfragen oder schwierigen Passagen auftauchen, erhält man teilweise vor dem Druck noch eine Korrekturfahne zur letzten Durchsicht. Meistens befindet man sich dann schon im nächsten Projekt und ist überrascht, sobald das eigene Belegexemplar eintrudelt.
Die grundsätzliche freundliche und gute Zusammenarbeit mit den Verlagen ändert leider jedoch nichts an der überwiegend niedrigen Entlohnung für diese aufwändige Tätigkeit, in der nicht nur translatorisches, technisches und kulturelles Know How gefragt ist. Wahre Hirnakrobatik unter Zeitdruck findet an den Schreibtischen statt. So fallen oft die medien- und genrespezifischen Faktoren in der Bezahlung unter den Tisch. Vor allem, da nicht alle Mangaverlage mit der empfohlenen Normseite arbeiten. Ein paar Stichworte für Aufgaben, die neben dem reinen Übersetzen bei Manga anfallen: Nummerierung des Bandes, Letteringanweisungen, Soundworte, Recherche, Glossar erstellen, Übersetzen graphischer Einheiten, Sprechblasengröße beachten, Nachworte, Korrekturfahnen, vorauslesen der nächsten Bände, um Missverständnisse und kulturelle Fallstricke zu vermeiden etc.
Wie sieht das alles denn konkret aus?
Hier sieht man einen Panelauszug einer Mangaseite. Es handelt sich um zwei Bodyguards und der eine klärt den anderen über eine gewisse „Liste“ mit potenziellen Gefahren für ihren Schützling auf . Wir haben hier eine Stelle, in der sehr viel auf engem Raum passiert. Zwei Sprechblasen, eine zackige Sprechblase aus der Erinnerung des blonden Charakters und ein Kommentar über der linken Sprechblase. Dieser Kommentar vereint vier Schriftsysteme. Kanji (die komplexen Schriftzeichen), Hiragana (zeigen Partikel und Grammatikstrukturen an), Katakana (werden für die Aussprache ausländischer Begriffe, hier „A – list“, verwendet) und das Alphabet. Das wird im Japanischen als Stilmittel und zur Betonung genutzt, da es für die japanischen Leser:innen hipp, cool und anders im Schriftbild wirkt. Hinzu kommt, dass es sich um einen Wortwitz handelt. Im Japanischen stehen die Kanji für ein „Warnung/Achtung“-Schild. Dann folgen die englischen Begriffe, die durch japanische Schriftzeichen in eine japanische Satzstruktur gebracht werden. Und die Betonung liegt die ganze Zeit auf dem „A“ im Englischen, welches ebenfalls in der rechten Sprechblase zu finden ist. Daher wurde darauf in der deutschen Übersetzung der Fokus gelegt. Und der Witz auf die Sprechblase, denn eine „A‑Liste“ kann im ersten Moment natürlich auch eine ganz andere Liste sein.
Hier sieht man eine Beispielseite, wie die Nummerierung einer Mangaseite aussehen kann. Von oben rechts nach unten links werden alle Blasen, Kommentare und Soundwörter durchnummeriert. Auf dieser Seite befinden sich viele verschiedene Schriftarten, also auch jede Menge Letteringanweisungen, die wir Übersetzer angeben müssen. Von einem Erzählerfont, einer Erinnerungsfont, Kommentarfont, Soundwordfont und technischen Font für das Gesagte aus der Gegensprechanlage.
Ist Manga übersetzen den Aufwand wert? – Ja!
Gerade in der Anfangsphase sind die Hürden und finanziellen Belastungen für Neulinge aus den genannten Gründen meiner Meinung nach ziemlich hoch. Das möchte ich nicht schön reden oder jemandem ein falsches Bild vermitteln. Dennoch bin ich sehr froh, den Sprung ins kalte Wasser fernab einer Festanstellung gewagt zu haben. Man lernt viel über sich und seine Grenzen, seine Stärken und seine Schwächen, so wie ich es in keinem Job zuvor erfahren habe. Ich kann mich mit dem Land und der Sprache meines Interesses auseinandersetzen und den Geschichten sowie Charakteren aus Japan eine deutsche Stimme verleihen.
All dies tröstet natürlich nicht über die geringe Honorierung und das hohe Arbeitspensum in der Branche hinweg. Schließlich fußt jede weitere Bearbeitung auf dem Ausgangstext der Übersetzer:innen. Ein positives Beispiel ist hier das Manga-Label „Hayabusa“ von Carlsen Manga. Dort werden Übersetzer:innen mittlerweile auf der ersten Seite und im Impressum genannt. Mit Bewegungen wie #namethetranslator, dieser Plattform Tralalit, der Sensibilisierung für „kleine Sprachen“, gemeinsame Übersetzungsanforderungen usw. kann eine Diskussionsgrundlage geschaffen werden. Damit wir alle das machen können was wir lieben: über Grenzen hinweg Verbindungen schaffen und Welten durch Sprache eröffnen.
Danke an dieser Stelle an meine Vorbilder des Übersetzens aus dem Japanischen und mittlerweile lieben Kolleg:innen Dr. Verena Maser, Miryll Ihrens und Ursula Gräfe. Das ist nämlich das Schöne in der Branche: Man ist nicht alleine und steht sich mit Rat und Tat zur Seite.