11 Jahre lang soll die britische Starautorin Zadie Smith an ihrem ersten historischen Roman gesessen haben. Von ihrem Leidensweg bzw. Schaffensprozess berichtet sie immer wieder in Interviews und Essays. Und von den Fragen, die sie umtreiben: Wie sich lösen von den großen Autor:innen ihrer Jugend, die allesamt im 19. Jahrhundert lebten, also in dem Setting ihres Romans? Wie die Fülle an Informationen verarbeiten, die unweigerlich mit einer intensiven Recherche einhergehen? Und wie ist es in historischen Romanen um das Verhältnis von Wahrheit und Fiktion bestellt?
Vor Kurzem ist nun das Resultat des jahrelangen Ackerns erschienen: Betrug (im englischen The Fraud) ist Smiths sechster Roman und Tanja Handels dritter Roman, den sie von der Autorin ins Deutsche gebracht hat. Neben Zadie Smith übersetzt Handels noch Autorinnen wie Bernadine Evaristo, Nicole Flattery und Toni Morrison. Im März erzählte die Übersetzerin im Interview von ihrer Arbeit an Smiths neuestem Werk.
Dreh- und Angelpunkt des Romans ist Eliza Touchet. Sie ist die verwitwete Cousine des Schriftstellers William Harrison Ainsworth, dessen Werk in Vergessenheit geriet, obgleich er zu Lebzeiten durchaus einige Erfolge verbuchen konnte. Eliza Touchet fristete ein Schattendasein, das Zadie Smith mit Leben füllt. In Betrug kümmert sie sich um Ainsworths Ehefrau und Kinder, lektoriert seine Romane und unterhält seine illustren Gäste. Eine Liebesaffäre ist da naheliegend; Smith baut sie zu einem Dreieck aus.
Gemeinsam mit Ainsworths zweiter Ehefrau verfolgt Eliza Touchet den legendären Tichborne-Fall, der die viktorianische Gesellschaft in den 1860er Jahren in Atem hielt. Roger Tichborne war Erbe einer wohlhabenden, adligen Familie und kam im Alter von 25 Jahren bei einem Schiffsunglück auf dem Weg nach Südamerika ums Leben. Einige Jahre später gab sich ein Metzger namens Arthur Orton als der vermisste Roger Tichborne aus und reiste nach Großbritannien, wo er Tichbornes Mutter noch auf dem Sterbebett überzeugen konnte, ihren verlorenen Sohn vor sich zu haben. Der Erbstreit führte zu einem Prozess, den Eliza Touchet in Zadie Smiths Roman sehr genau verfolgt.
Smith versucht mit Betrug noch eine weitere Randfigur in den Mittelpunkt zu rücken: Andrew Bogle, der als Versklavter auf einer Zuckerrohrplantage in Jamaika aufwächst und später nach England reist, wo er als Diener unter anderem Bekanntschaft mit besagtem Roger Tichborne macht. Im Prozess sagt er für den vermeintlichen Tichborne-Erben aus und trifft auf Eliza Touchet. Auf diese Weise schließt sich der Kreis in Zadie Smiths ambitionierten und eigentümlichen Roman.
Im Folgenden tauschen wir uns über unsere Leseeindrücke aus. Lisa hat die Übersetzung gelesen, Julia das englische Original.
Lisa Mensing: Zadie Smith! Ich muss gestehen, dass Betrug das erste Buch ist, das ich von Zadie Smith gelesen habe. Ich habe also völlig ahnungslos und unbefangen angefangen zu lesen, aber ich weiß, dass es dir da ganz anders ging, Julia. Du bist ein großer Zadie-Smith-Fan und hattest dementsprechend auch eine gewisse Erwartungshaltung. Wie ist es dir mit Betrug ergangen?
Julia Rosche: Ich mag ihre Bücher, aber ich liebe auch viele viktorianische Romane. In Betrug begegnen wir ja auch einigen Größen dieser Zeit, allen voran Charles Dickens – mit dem Zadie Smith ja eine Art Hass-Liebe verbindet – oder auch William M. Thackeray, der darin als Karikatur auftaucht. Lustigerweise erinnern Smiths frühe Romane ein bisschen an Dickens. Ihr Debüt Zähne Zeigen war ein gigantisches, witziges Generationenporträt dreier Londoner Familien mit vielen Nebenhandlungen. Was könnte mehr Dickens sein als das? Sie schreibt aber im New Yorker, dass sie auf jeden Fall vermeiden wollte, einen viktorianischen Roman zu imitieren und auch mit dem Genre des historischen Romans zu kämpfen hatte. Ich glaube, dahinter steckt beim Schreiben die Angst, einen Roman zu produzieren, der entweder zu sehr Kopie oder zu sehr Klischee ist. Und das mag dazu geführt haben, dass mir in ihrem neuen Roman alles sehr skizzenhaft erscheint. Ich hatte nicht das Gefühl, dass man sich in der Historie verlieren kann, zumal der moderne Blick auf das Geschehen deutlich erkennbar ist. Wie erging es dir?
L.M.: Ich habe den Roman gern gelesen, aber lange wusste ich überhaupt nicht, wohin das ganze führen wird oder soll. Das hat mich immer wieder so sehr irritiert, dass ich mich gefragt habe, ob ich weiterlesen soll – was ich am Ende ja gemacht habe, und was sich auch gelohnt hat. Der Aufbau des Romans ist aber schon speziell, finde ich. Die Geschichte wird langsam aufgerollt, lange war mir nicht klar, wie das Leben von der Hauptfigur Eliza Touchet mit dem Tichborne-Prozess zusammenhängt und immer wieder gibt es Rückblenden, die zwar alle in gewisser Weise sinnvoll sind, aber für Handlung und Figurenzeichnung auch entbehrlich gewesen wären. Ging es dir genauso, oder ist der Aufbau für dich vollkommen schlüssig?
JR.: Ich hatte einen ähnlichen Eindruck. In dem Roman gibt es eine Stelle, an der Thackeray zu Mrs. Touchet über die Fähigkeiten ihres Schriftsteller-Cousin sagt: „[W]ell, perhaps your cousin too frequently mistakes information for interest. Especially in this latest volume.“ Es ist etwas unglücklich, wenn ein Roman selbst – ob absichtlich oder unabsichtlich – auf die eigenen Schwächen hinweist. Es gibt so viele Charaktere, die kaum signifikant zur Erzählung beitragen, angefangen bei den Dutzend Kindern von Mr. Ainsworth. Außerdem sind alle miteinander verwandt oder wechseln ihre Namen. Das erinnert zwar durchaus an Romane des 19. Jahrhunderts, aber in Kombination mit der fragmentarischen Erzählweise ergeben sich einige Längen. Ich würde zudem behaupten, Zadie Smith hat selbst damit gerungen, den Roman nicht mit Informationen zu überhäufen. Dennoch gab es einige Stellen, wo es offensichtlich nur darum ging, den Lesenden Fakten zu vermitteln oder das historische Setting einzuordnen.
Hat dich das gestört? Für mich wäre es an einigen Stellen nicht notwendig gewesen, aber ich hatte auch Vorwissen.
L.M.: Mein Vorwissen hält sich auf dem Gebiet tatsächlich in Grenzen, aber trotzdem hätte ich nicht all diese Informationen benötigt, um mir die Zusammenhänge erschließen zu können. Bis zum Schluss dachte ich, es gäbe noch eine Art große Enthüllung, die den Tichborne-Fall mit dem Leben von Mrs. Touchet stärker verknüpft, da es immer wieder lose Erzählstränge gab, die noch nicht wirklich mit anderen Erzählsträngen verbunden wurden. Dass diese Enthüllung ausblieb, ist auf historischer Ebene sicherlich korrekt, hat mich als Leserin eines Romans letztendlich aber nicht befriedigt. Vor allem, als Mrs. Touchet erkennt, bei wem es sich um den Anwalt des Angeklagten handelt, wurde ich ganz hellhörig und dachte: Jetzt kommt’s! Aber na ja, so viel kam dann nicht. Kurzum: Ein bisschen straffer hätte das Ganze mit Sicherheit erzählt werden können.
Insgesamt sind aber vor allem die Figuren wunderbar gezeichnet, Mrs. Touchet ist eine moderne feministische Frau, die mir bestimmt in Erinnerung bleiben wird und die vielen Schriftsteller, die als Hauptfiguren oder Nebenfiguren auftauchen, versehen den Roman mit einer gewissen Prise Humor, die in der Übersetzung perfekt transportiert wird. Da ist zum Beispiel die neue Mrs. Ainsworth, die von Mrs. Touchet regelmäßig verbessert wird, weil sie sehr umgangssprachlich spricht, was Handels zum Beispiel durch das Zusammenziehen der Wörter darstellt. Wirtke das Original auf dich genauso humorvoll?
Hier ein Beispiel:
“Well, it ain’t.”
“— Isn’t,” interrupted Eliza from a force of habit. “— Ain’t a pawnbroker and ain’t a marine store, neither. It’s a dolly shop.”
„Isses nicht.“
„Ist es nicht …“, korrigierte Eliza aus alter Gewohnheit.
„… isses nicht, kein Pfandleiher und auch kein Trödler. Das da, das ist ein Lumpensammler.“
J.R.: Ich finde Zadie Smiths Texte fast immer sehr witzig. Mrs. Ainsworth ist die neue Schwägerin, da Ainsworths erste Frau, Anne Frances, im Laufe des Romans verstirbt. Also heiratet Ainsworth eine jüngere Frau. Ich glaube, Mrs. Touchet fühlt sich ihr zugleich überlegen und von ihr bedroht, denn die junge Frau ist ja ganz offensichtlich eine Art Ersatz für die Verstorbene – und das zeichnet sich sprachlich ab. Nichts ist für die englische Mittelschicht so gefährlich wie der Kontakt zur Arbeiterschicht. An der ersten von dir zitierten Stelle unternehmen beide einen Ausflug durch das Arbeiterviertel, in dem Mrs. Ainsworth aufgewachsen ist, weil sie Mrs. Touchet zeigen will, wie wirkliche Armut aussieht. An der Stelle wird deutlich, dass Mrs. Touchet bei aller Intelligenz und bei allem Bewusstsein für soziale Ungerechtigkeiten doch recht weltfremd ist. Interessant ist der „Dolly Shop“, was tatsächlich eine Art viktorianischer Slang ist. Der geht in der deutschen Übersetzung etwas verloren.
L.M.: Bei der deutschen Übersetzung steht im Impressum ganz klein: „Sprache und Sprachgebrauch in diesem Roman folgen der historischen Epoche, in der er spielt. Die Übersetzung orientiert sich bei kritischen Begriffen, Sprachfärbungen und Vergleichen eng am Original.“ Dieser Satz soll Kritiker:innen in Bezug auf sensible Begriffe vermutlich den Wind aus den Segeln nehmen, ich bin aber eher an dem ersten Teil des Satzes hängen geblieben: „Sprache und Sprachgebrauch in diesem Roman folgen der historischen Epoche“. Grundsätzlich kam mir die Sprache – abgesehen von fein gesetzten älteren Begriffen – durchaus modern vor. Wie ging es dir beim Lesen des englischen Originals?
J.R.: Historisch erschien mir lediglich die Aufteilung in „Volumes“, die ist ganz typisch in viktorianischen Romanen, und natürlich die Geschichte an sich. Alles andere – beispielsweise die kurzen Kapitel, die Perspektivwechsel oder die Zeitsprünge – sind sehr moderne Elemente, dazu zählt auch die Sprache. In dem sehr aufschlussreichen New-Yorker-Essay begründet Zadie Smith das wie folgt: „Memoirs of Hadrian, by Marguerite Yourcenar, is not written in Latin, and Measuring the World, by my friend Daniel Kehlmann, is not in old German. Even the language of Wolf Hall has very little to do with real Tudor syntax.“ Sie sieht also von einer sprachlichen Imitation ab.
Auffällig ist das zum einen, wie du bereits sagst, bei den Dialogen. Es gibt sehr viele emphatische Ausrufe wie „Ha! Ha! Ha!“ oder „Hear! Hear!“. Und Ainsworths neue Frau, über die wir gerade gesprochen haben, sagt beispielsweise auch: „And what sort of thing does a Lord like? I’ll tell you: fighting, fucking, drinking, and kicking a pigskin about.“ Das ist eine ganz andere Sprache, als man sie in vielen Romanen der Zeit oder gar in Übersetzungen von Romanen des 19. Jahrhunderts finden würde. Zum anderen sind viele Sätze – gerade in Beschreibungen – mitunter extrem kurz, teilweise handelt es sich um Ellipsen. Es ist ja kein Muss, dass ein historischer Roman eine reine Nachahmung sein muss. Aber es stellt sich natürlich die Frage, ob die Verwendung bestimmter Begriffe wirklich notwendig ist, wenn auf sprachlicher und gestalterischer Ebene historische Elemente nicht eingebaut werden. Am ehesten lässt sich hier die Verwendung rassistischer Bezeichnungen mit Blick auf den Plot begründen.
L.M.: Im Deutschen sagt sie: „… und was gefällt so einem Lord? Ich will’s euch sagen: prügeln, rammeln, saufen und gegen einen Ball aus Schweinsleder treten.“ Die zweite Mrs. Ainsworth hat wirklich, wie oben bereits erwähnt, eine besondere Sprechweise, die im Deutschen wunderbar funktioniert, sie wiederholt bestimmte Phrasen immer wieder, zum Beispiel „wenn ihr wisst, was ich meine“ am Ende des Satzes, sie zieht Wörter zusammen und sie schreckt nicht vor Schimpfwörtern zurück, was Eliza Touchet immer wieder zusammenzucken lässt. Bei dem von dir genannten Beispielsatz ist die Übersetzung vielleicht nicht ganz so knackig wie das Original, weil „pigskin“ den deutschen Leser:innen zwangsläufig erklärt werden muss.
Aber nochmal zu dem Hinweis im Impressum: Ist dieser Hinweis bei diesem Roman nötig? Hast du Anstoß an bestimmten Worten oder Beschreibungen genommen?
J.R.: Aus meiner Sicht sind die rassistischen Beschreibungen von Figuren oder die Darstellungen von Rassismen Teil der Geschichte, die sie erzählen möchte. Beim Lesen des Romans wird klar, dass Smith solche Begriffe strategisch und bewusst einsetzt. Ich störe mich nur ein bisschen an der Begründung, da – wie gerade angeschnitten – der Roman zwar inhaltlich historisch, aber sprachlich an vielen Stellen recht modern wirkt. Es geht also primär um den Plot. Die Verwendung lässt sich nicht dadurch begründen, dass Zadie Smith hier ältere Konventionen des Schreibens oder Sprechens imitiert – gerade das will sie ja nicht. Letztendlich kann aber niemand einer Autorin, im Fall von Zadie Smith einer Person of Colour mit Wurzeln in Jamaika und Großbritannien vorschreiben, mit welchen Wörtern sie die Geschichte erzählen darf und mit welchen nicht. Wie übersetzt Handels beispielsweise das N‑Wort?
A meaningful look – don’t poke the Targe – passed swiftly round the room without managing to catch William’s attention. He was preparing his pipe, and seemed to address the tobacco itself as he tamped it down. ‘Cousin … really, you exaggerate. I’ve read quite a bit about it and it seems clear that this Reverend Gordon was a rabble-rouser – a mulatto. He whipped up the people, which we know by now these Baptists have a habit of doing … And Gordon conspired with the … well, with this other negro lay-preacher fellow, and all the other conspirators. Eighteen white men died in the original disturbance.’
Beredthe Blicke – bloß nicht die Tartsche aufstacheln – flogen rasch durch den Raum, doch es gelang ihnen nicht, Williams Aufmerksamkeit zu erheischen. Er stopfte gerade seine Pfeife und sprach scheinbar direkt zum Tabak, während er ihn feststampfte.
„Cousinchen … ehrlich, du übertreibst. Ich habe einiges darüber gelesen, und es hat den Anschein, als sei dieser Reverend Gordon ein Aufwiegler – ein Mulatte. Er hat die Leute angeheizt, wie es diese Baptisten, wir wissen es inzwischen, gewohnheitsmäßig tun … Und er hat auch mit diesem … ach, mit diesem anderen schwarzen Laienprediger und den ganzen weiteren Verschwörern konspiriert. Bei den ursprünglichen Unruhen haben achtzehn Weiße ihr Leben gelassen.“
L.M.: Das N‑Wort kommt nicht vor, in dem genannten Beispiel wird es durch „Schwarze“ ersetzt. Für mich hat das sehr gut funktioniert. Die Haltung der Weißen gegenüber den Schwarzen, gegenüber den versklavten Menschen, wird auch ohne das N‑Wort deutlich. Daher hat dieser Eingriff für mich keinen negativen Effekt, denn es ist trotzdem erkennbar, in welchem Setting wir uns befinden. Andere Wörter wie „Mulatte“ hingegen kommen auch in der deutschen Übersetzung vor und wurden 1:1 übersetzt. In diesem Beispiel handelt es sich allerdings auch um die Personenrede, die authentisch wirken soll. Ich finde die Entscheidung also nachvollziehbar.
In übersetzerischer Hinsicht fand ich außerdem vor allem die Ausführungen von William Ainsworth über die Gaunersprache spannend:
„Er war ganz vernarrt in sein Vorhaben, besonders in die ‚derben Lieder‘, die von den Figuren aus der kriminellen, Cockney sprechenden Unterwelt gesungen werden sollten und deren Texte er in einer ‚Gaunersprache‘ verfasste, die er irgendwo aufgeschnappt hatte. Wo?
‚Wie meinst du das, wo?‘
‚Nun, Gaunersprache ist ja nicht überall gleich, nicht wahr? Ein Cockney-Jargon etwa wird sich sicherlich vom schottischen Jargon unterscheiden. Und die Gaunersprache in Manchester ist gewiss wieder eine ganz andere.‘
‚Eliza Touchet, was bist du bloß für eine Krämerseele. Ist das denn wichtig?‘
‚Müssen Figuren nicht glaubhaft sprechen? Damit wir an sie glauben können?‘
Hier konfrontiert Mrs. Touchet ihren Cousin mit einem Problem, dem sich Übersetzer:innen auch immer wieder stellen müssen. Aber es wird noch konkreter:
‚Gib mir ein Beispiel für einen Satz aus der Gaunersprache.‘
‚Aber liebend gern! Nix my doll, pals – fake away!’
Mrs Touchet lachte schallend auf.
,Ist das nicht großartig? Bloßes Kauderwelsch für anständige, aufrechte Menschen wie uns, aber für die verbrecherischen Elemente ist es eine Art Geheimsprache. Die sich ganz exakt übersetzen lässt. Dieser Satz bedeutet: Sorgt euch nicht, Freunde, stehlt einfach weiter.‘
Tanja Handels präsentiert hier eine optimale Lösung, indem sie die Gaunersprache auf Englisch stehen lässt und den Satz danach auf Deutsch erklärt. So bleibt man im Land der Handlung, kann sich ein Bild von der angeblichen Gaunersprache machen und trotzdem geht auf der Inhaltsebene nichts verloren.
J.R.: Die Stelle ist sehr spannend, weil man im Deutschen denken würde, dass dahinter vielleicht eine übersetzerische Entscheidung steht. Aber die Übersetzung ist eng am Original:
‘Give me an example.’ ‘What?’ ‘Give me an example of a line of cant.’ ‘Happily! Nix my doll, pals – fake away!’
Mrs Touchet laughed out loud.
‘Marvellous, isn’t it? Nonsense to good, upstanding people like ourselves, of course, but to the criminal element it’s a form of code.
Which may be translated exactly. That one means: Don’t worry, lads, you carry on stealing!’
Der Witz ist ja, dass Ainsworth ein schlechter Autor und seine Prosa wohl sehr zäh und langweilig ist. Er versucht an dieser Stelle, Mrs. Touchet weiszumachen, dass er Ahnung hat, wie Menschen wirklich sprechen. Die Szene erinnert auch an den Dialog zwischen Mrs. Ainsworth und Mrs. Touchet, den wir uns vorhin angeschaut haben. Im Prinzip fetischisieren beide das Arbeitermilieu, mit dem sie eigentlich so gut wie nichts gemein haben. Mr. Ainsworth ist zusätlich noch ein elendiger Besserwisser, weshalb er ihr den Satz noch mal übersetzt. Vermutlich wurde die Übersetzung aber auch eingebaut, weil nicht alle englischsprachigen Leser:innen die Redewendung kennen oder verstehen würden.
Hinter dem „Don’t characters have to speak believably? So we believe in them?“ vielleicht auch die Erklärung dafür, warum der Roman „modern“ wirkt: Es mag im Sinne der Charakterisierung sein, wenn die Figuren auf eine Art und Weise sprechen, die auf uns authentisch wirkt. Ich glaube, die Gefahr bei historischem Material ist immer, dass es auf Lesende sehr trocken und steif wirken kann, und vermutlich wollte Smith genau das umgehen.
Dieses Verlangen nach Authentizität steht ja auch im Kontrast zum eigentlichen Motiv: „Betrug“ (oder im Englischen „the Fraud“). Der Begriff fällt ja an einigen Stellen. Wie fandest du den Umgang damit?
L.M.: Erstmal finde ich interessant, dass der Titel schon verrät, wie es um den Tichborne-Prozess bestellt ist – jemand versucht, allen anderen einen Bären aufzubinden und kommt damit fast durch. Trotzdem habe ich mich immer wieder dabei erwischt, beim Lesen darüber zu spekulieren, ob der vermeintliche Tichborne-Erbe wirklich die Person ist, die er zu sein vorgibt – aber dann ist mir wieder der Titel des Buches eingefallen und die Spannung war dahin. Trotzdem ist der Titel meiner Meinung nach perfekt gewählt, gerade weil er auf so vielen Ebenen im Buch eine Rolle spielt, es wird in allen Lebensbereichen gelogen und betrogen, jede Person hat ihre Geheimnisse und geht mit der Informationspreisgabe sehr bewusst um. Spannend ist übrigens, dass das Buch in der niederländischen Übersetzung „Charlatan“ heißt, also „Scharlatan“. Dieser Titel ist auch sehr passend, verschiebt aber den Fokus.
J.R.: Die Entscheidung für „Charlatan“ im Niederländischen passt tatsächlich besser zum englischen Originaltitel. „The Fraud“ kann sich auf ein Verbrechen beziehen, aber auch gleichzeitig eine Person, also ein Betrüger, sein.
Es gibt ja in dem Roman auch andere Formen des Betrugs, zum Beispiel die Dreiecksbeziehung zwischen Mrs. Touchet und dem Ehepaar Ainsworth. An vielen Stellen wird die Dynamik nur angedeutet, vor allem, was die Liebesgeschichte der zwei Frauen betrifft. Smith umgeht an vielen Stellen sehr explizite Darstellungen, aber ich fand die Umschreibungen auch nicht immer gelungen. Im Englischen sind solche Stellen nah am Kitsch. Wie hast du das in der deutschen Übersetzung empfunden?
Like a finger. Like two penetrating fingers. Like two fingers penetrating a flower. In complete, candle-less darkness. As if the fingers and the flower were not separate but one, and so incapable of sinning the one against the other. Two fingers entering a bloom not unlike the wild ones in the hedgerow – layered like those, with the same overlapping folds – yet miraculously warm and wet, pulsing, made of flesh. Like a tongue. Like the bud of a mouth. Like another bud, apparently made for a tongue, lower down.
Ein Finger etwa. Zwei eindringliche Finger. Zwei Finger, die in eine Blume dringen. In vollständiger, kerzenloser Dunkelheit. Als wären die Finger und die Blume nicht zweierlei, sondern eins und folglich gar nicht fähig, sich aneinander zu versündigen. Zwei Finger schieben sich in eine BLüte, ganz ähnlich jenen wilden, die zwischen den Hecken wuchsen – ganz ähnlich angeordnet, mit den gleichen, ineinander gebetteten Blättern –, und doch wundersam warm und feucht, pochend, aus Fleisch gemacht. Wie eine Zunge. Wie die Knospe eines Mundes. Eine zweite Knospe, wohl ebenfalls gemacht für eine Zunge, nur weiter unten.
L.M.: Insgesamt ist mir das glücklicherweise nicht so oft aufgefallen, aber das von dir gewählte Beispiel ist mir auch negativ in Erinnerung geblieben. Erneut bewegt sich die Übersetzung sehr dicht am Original – was bleibt ihr auch anderes übrig? Das Bild ist im Deutschen genauso unrund, wie im Englischen, es verliert mich zwischenzeitlich auch komplett, die Mischung aus zu abstrakt und dann doch viel zu offensichtlich wirkt verwirrend und etwas ungelenk.
J.R.: Setzt sich der Eindruck auch in dem Teil, der aus der Perspektive von Mr. Bogle erzählt wird, fort? Im Englischen las sich seine Geschichte fast wie ein Protokoll – sehr nüchtern, mit extrem kurzen Sätzen und im Vergleich zu den Kapiteln mit Mrs. Touchet viel ernsthafter.
L.M.: Letztendlich war es genauso diese Geschichte, die mich dazu gebracht hat, das Buch nicht wegzulegen. Mr. Bogle erzählt chronologisch seine Lebensgeschichte und die seines Vaters, der in jungen Jahren entführt und versklavt wurde. Die Zeitsprünge und Perspektivwechsel fallen weg und obwohl die erzählte Geschichte über die Versklavten Jamaikas auf inhaltlicher Ebene durch ihre Grausamkeit fordernd ist, ist sie in ihrem Aufbau weniger herausfordernd und viel stringenter. Hier wurde ich stärker in die Geschichte hineingezogen als bei den Handlungssträngen in England.
J.R.: Wir müssen noch ein Fazit ziehen. Wie haben dir dein erster Zadie-Smith-Roman und die Übersetzung gefallen?
L.M.: Was den Roman betrifft, bin ich noch unschlüssig – ich habe das Gefühl, dass Smith versucht hat, zu viele Themenfelder miteinander zu verknüpfen. Grundsätzlich hängen die Haupterzählstränge zwar alle zusammen, aber die vielen Nebenschausplätze lenken immer wieder von der eigentlichen Geschichte ab. Trotzdem bin ich froh, das Buch gelesen zu haben und ich bin jetzt neugierig auf die anderen Romane der Autorin. Bei der Übersetzung ist mein Urteil viel klarer, die finde ich absolut gelungen. Tanja Handels hat geschickt immer wieder etwas ältere Begriffe eingestreut, die dem Text in die erzählte Epoche helfen, und trotzdem wirkt er modern und frisch. Wie wir an den Beispielen sehen konnten, bleibt sie dicht am Original, was mir hier auf jeden Fall sehr gut gefällt. Während der Roman an sich ein paar Mängel aufweist, überzeugt die Übersetzung auf ganzer Linie.