
Clarissas Dalloways erster Auftritt in Virginia Woolfs Romanen gleicht einem Spektakel: ihre Erscheinung im weißen Kleid mitsamt funkelnder Halskette und ihr einprägsames, feines Gesicht lösen bei den Anwesenden eine eigentümliche Faszination aus. Rachel Vinrace, die Protagonistin in Woolfs Debüt Die Fahrt hinaus (1915), betrachtet Mrs. Dalloway von oben bis unten und vergleicht sie mit einem Reynolds-Gemälde des 18. Jahrhunderts. Ihr Ehemann Richard Dalloway ist da nur eine fade Beilage, die hin und wieder fragwürdige Kommentare macht.
In Virginia Woolfs Erstlingswerk sind die Dalloways lediglich Nebencharaktere, doch die Figur Clarissa Dalloway hatte es der großen Autorin wohl angetan. Dabei sind die Dalloways zunächst bloße Karikaturen, elendige Snobs und überprivilegierte Vertreter der britischen Upper Class, denen jeder Bezug zur Realität abhandengekommen ist. Erst mit der Zeit wird Clarissa Dalloway an Form und Komplexität gewinnen, als auch Woolfs Schreiben sich immer mehr vom stumpfen Edwardianischen Stil hin zum Modernismus bewegt, den ihre Texte im angloamerikanischen Raum prägen werden.
Dennoch ist unverkennbar, dass ihr Debüt Themen in scheinbar beiläufigen Dialogen anschneidet, die später in Mrs. Dalloway – sicherlich einer von Woolfs bekanntesten und beliebtesten Romanen – wieder aufgegriffen und verarbeitet werden: „Ich bin nun einmal der Meinung, dass es darauf ankommt zu leben, und nicht darauf zu sterben“, sinniert Clarissa dort in der Übersetzung von Karin Kersten. Und es ist das Leben, oder besser gesagt die Lust auf das Leben, die Mrs. Dalloway später im gleichnamigen Roman durch die wuseligen Straßen Londons treibt. Sie liebt jede Sekunde, die sie zwischen all den geschäftigen Londonern verbringt, während sie letzte Besorgungen für ihre Party am Abend erledigt. In Mrs. Dalloway erlebt man Virginia Woolf als die psychologisierende Beobachterin, als die sie später auch berühmt wird. Die Dalloways verkörpern noch immer die englische Oberschicht, die im schicken Westminster haust und hohe Gäste wie den Premierminister empfängt. Aber nun verfügt Clarissa über ein reiches Innenleben, gespickt von Erinnerungen an vergangene Zeiten, das durch die Wiederkehr ihres ehemaligen Liebhabers Peter Walsh aufgerüttelt wird.
Der Roman spielt an einem Junitag im Jahr 1923. In den Köpfen der Figuren ist der Erste Weltkrieg immer noch stetig präsent. Doch zumindest auf Clarissas Party herrscht so etwas wie Aufbruchstimmung bei den Vertreter:innen der „English Society“. Weil es jedoch kein Leben ohne den Tod geben kann, ist Mrs. Dalloway nicht die einzige Protagonistin in diesem Roman. Ihr illustres Leben wird kontrastiert mit der Geschichte von Septimus Warren Smith, einem jungen Mann, der traumatisiert aus dem Krieg zurückgekehrt ist. Ärzte wissen ihm kaum zu helfen und seine Ehefrau Rezia muss hilflos dabei zusehen, wie er sich geistig immer mehr von ihr und dem frivolen Londoner Leben entfernt. Im Laufe des Romans nimmt er sich das Leben, indem er aus einem Fenster springt, und auf diese Weise kurz zum Gesprächsgegenstand auf Clarissas Abendveranstaltung wird.
Mrs. Dalloway erschien 1925, drei Jahre nachdem sich Virginia Woolf mit ihrem dritten Roman Jacobs Zimmer in ein experimentelles Terrain vorgewagt hatte, von dem im deutlich konventionelleren Die Fahrt hinaus noch wenig zu spüren war. Ihr Ehemann Leonard Woolf, treuer Begleiter und ergebener Kritiker, hatte vorgeschlagen, dass sie ihre in Jacobs Zimmer neu erprobte Methode des Erzählens auf weniger Figuren anwende, mit dem Resultat, dass Mrs. Dalloway zwar ebenfalls ohne klassischen Plot auskommt, aber einen deutlich zielgerichteteren Fokus besitzt. Ihre moderne Erzählweise wird sie in ihren einige Jahre später erschienen, aber nicht weniger berühmten Romanen Zum Leuchtturm (1927) und Die Wellen (1931) weiter vertiefen.
Bereits zu Lebzeiten konnte sich Woolf, Tochter des Intellektuellen Leslie Stephens und dem präraffaelitischen Fotomodel Julia Jackson, ihres Erfolges freuen. Die Veröffentlichung von Mrs. Dalloway bescherte ihr einigen Ruhm und ihr ungewöhnlicher Erzählstil passte zum Lebensgefühl der wilden Zwanzigerjahre. Als Teil der legendären Bloomsbury Group hatte sie Kontakt zu anderen bedeutenden Denkern und Künstlern ihrer Zeit, darunter E. M. Foster, Roger Fry oder John Maynard Keynes. Gemeinsam mit ihrem Mann führte sie zudem den Verlag Hogarth Press, für den sie anfangs noch selbst die Buchbindung übernahm. Hogarth Press veröffentlichte nicht nur Virginia Woolfs eigene Romane, sondern auch T. S. Eliots bahnbrechendes Gedicht Das wüste Land (1922) und einige übersetzte Texte von Freud, Rilke und Dostojewski. Woolf, die als Frau nie eine formale Bildung erhalten hatte und eine unermüdliche Autodidaktin war, führte im Großen und Ganzen ein komfortables Leben. Es war jedoch von Krankheit und depressiven Schüben geprägt, die sie schließlich auch ihr Leben kosten sollten.
Woolfs Bekanntheit hatte zur Folge, dass bereits in den Zwanzigerjahren die ersten Übersetzungen ihrer Romane erschienen. 1928 veröffentlichte der Leipziger Insel Verlag die erste deutschsprachige Übersetzung von Mrs. Dalloway unter dem Titel Eine Frau von fünfzig Jahren (die Übertragung stammt von Theresia Mutzenbecher). Ein Jahr später folgte die erste französische Übersetzung durch Simone David. Das breite Interesse verebbte jedoch in den Dreißiger- und Vierzigerjahren, in denen die Rezeption ihrer Texte deutlich verhaltener ausfiel – Woolf galt als bourgeois und der berühmte Bekanntenkreis als weltfremd. Hinzu kam, dass Woolfs Ehemann jüdischer Herkunft war und sie mit dem 1929 erschienenen Essay Ein Zimmer für sich allein ihre Allianz mit der Frauenrechtsbewegung endgültig besiegelt hatte.
Mit der zweiten großen Welle des Feminismus wuchs zwar in Europa sowohl das literaturwissenschaftliche als auch das öffentliche Interesse an Woolfs Werken, aber viele Übersetzungen (beispielsweise ins Italienische oder ins Spanische) entstanden erst in den ausgehenden Neunzigerjahren. Bedeutsam für die Übersetzungsgeschichte von Woolfs Gesamtwerk ist zudem, dass sich die öffentliche Wahrnehmung ihrer Person im Laufe der Zeit stetig gewandelt hat und damit auch der übersetzerische Schwerpunkt. Mal war Woolf vor allem als große Romanschreiberin bekannt, mal als scharfsinnige Essayistin und Literaturkritikerin. Auch ihre dutzenden Briefe und berühmten Tagebücher, die einen umfassenden Einblick in Woolfs Arbeitsweise geben und für die Nachwelt bewusst konzipiert wurden, sind inzwischen fester Bestandteil des Kanons. Überschattet wurde ihr Werk zudem von Woolfs eigener durchaus fesselnden Lebensgeschichte – die Liebesbeziehung mit der unkonventionellen Vita Sackville-West, die Machtspiele innerhalb der Bloomsbury Group und schließlich der Selbstmord bieten seit jeher Stoff für Spekulationen und Legenden.
In den Fünfzigerjahren erschien in Westdeutschland eine weitere Übersetzung von Mrs. Dalloway: Der S. Fischer Verlag veröffentlichte 1955 eine Übertragung durch Herberth und Marlys Herlitschka mit einer Auflage von 6000 Exemplaren. Ende der Siebzigerjahre wurde dann auch in der DDR die Insel-Ausgabe unter dem strengen Lektorat von Wolfgang Wicht neu herausgegeben. Nach der Wende brachte der S. Fischer Verlag, bei dem auch alle anderen Woolf-Romane in der Übersetzung erschienen sind, eine erste Neuübersetzung durch Walter Boehlich heraus. Als Woolfs Gesamtwerk knapp zehn Jahre später gemeinfrei wurde, legten drei weitere Verlage mit Übersetzungen von Mrs. Dalloway nach. Gegenstand dieses Artikels sind lediglich Übersetzungen, die noch immer aufgelegt werden und derzeit im Handel verfügbar sind:
Virginia Woolf: Mrs Dalloway; übersetzt von Walter Boehlich (1997; Verlag: S. Fischer)
Virginia Woolf: Mrs Dalloway, übersetzt von Hans-Christian Oeser (2012; Verlag: Reclam)
Virginia Woolf: Mrs Dalloway, übersetzt von Hannelore Eisenhofer (2012; Verlag: Nikol)
Virginia Woolf: Mrs Dalloway, übersetzt von Kai Kilian (2013; Verlag: Anaconda)
Virginia Woolf: Mrs Dalloway, übersetzt von Melanie Walz (2022; Verlag: Manesse)
Zuletzt erschien die Neuübersetzung von Melanie Walz für den Manesse Verlag. Walz, die bekannt für ihre Romanübersetzungen von A. S. Byatt und Patricia Highsmith ist, hat sich in den letzten zehn Jahren an so einige englischsprachige Klassiker herangewagt: 2016 veröffentlichte der Insel Verlag ihre Neuübersetzung von Jane Eyre; 2019 folgte eine Neuübersetzung von George Eliots Meisterwerk Middlemarch, die für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert war. Mrs. Dalloway ist zudem nicht ihre erste Woolf-Übersetzung: Vor rund zehn Jahren erschien im Insel Verlag ihre Neuübersetzung von Orlando, sicherlich einer von Woolfs interessantesten Texten.
Walz’ Neuübersetzung enthält ein Nachwort der österreichischen Schriftstellerin Vea Kaiser, die sich in den letzten Absätzen auch der Frage widmet, warum es überhaupt eine Neuübersetzung von Mrs. Dalloway braucht. Laut Kaiser hätten Woolfs Werke (vor allem Ein Zimmer für sich allein) „im Jahr zwei der Pandemie, in dem allzu viele Frauen unter Homeoffice und Haushaltspflichten leiden, neue Brisanz gewonnen“. Mrs. Dalloway lese sich „brandaktuell“, heißt es weiter. Nun könnte man den Gedanken weiterspinnen und gegenfragen, welcher Klassiker es denn nicht schaffe, Leser:innen auch noch hundert Jahre später zu fesseln? Eint nicht alle guten Bücher, dass sie zwar oftmals in einem konkreten historischen Kontext verankert sind, sich aber eigentlich mit überzeitlichen Fragen beschäftigen und dadurch ihre Relevanz festigen?
Es hat den Anschein, dass die Produktion von Neuübersetzung permanent gerechtfertigt werden muss. In Anbetracht dieser Tatsache wäre es sinnvoller, wenn nicht illustre Personen des öffentlichen Lebens mit solchen Rechtfertigungen beauftragt werden würden – solche Texte enden fast immer mit Plattitüden. Dabei lässt sich eine Neuübersetzung ausgehend von übersetzerischen Überlegungen (die leider fast nie in den Nachwörtern aufgegriffen werden) viel besser legitimieren. „Die Interpretation des Originals ändert sich, je mehr Übersetzungen da sind“, erzählt Larisa Schippel im ÜberÜbersetzen-Podcast. Und auf Toledo schreibt Olga Radetzkaja: „In der neuen Übersetzung wird nicht nur die Vergangenheit lebendig(er), sondern – indem sie an diese Vergangenheit neu anknüpft – auch die Gegenwart“. Jede Übersetzung birgt also das Potenzial, eine neue Lesart des Originals zu eröffnen und jede Neuübersetzung schlägt die Brücke zur Vergangenheit, ist aber gleichzeitig in ihrerer eigenen Entstehungszeit verankert. Das alles sind wesentlich interessantere Beobachtungen als die elendige Frage nach der Relevanz.
Virginia Woolfs Mrs. Dalloway enthält sowohl auf inhaltlicher als auch sprachlicher Ebene Herausforderungen, die in jedem Jahrzehnt und jedem Kulturkreis unterschiedlich übersetzt wurden. Inhaltlich problematisch waren zunächst vor allem die homoerotischen Darstellungen und die Schilderung des Selbstmords von Septimus Smith, die oftmals entweder einer Zensur unterlagen oder abgeschwächt wurden – aus heutiger Sicht sicherlich unverständlich. Sprachlich waren die mittlerweile hundert Jahre alten Werke der Vertreter:innen des angoamerikanischen Modernismus revolutionär. Der fehlende Plot, das Wirrwarr an Erzählperspektiven, die fließenden Übergänge zwischen inneren Monologen, direkter Rede und erlebter Rede markierten den Bruch mit literarischen Konventionen.
Da sich die Lesegewohnheiten in den letzten hundert Jahren rasant gewandelt haben, ändert sich die Wirkung eines Textes. Und weil die meisten Menschen (vor allem der jüngeren Generation) näher mit der englischen Sprache vertraut sind, ist die Toleranz für die Imitation des englischen Schreibstils im Deutschen gestiegen. Dies bedeutet nicht, dass der übersetzte Text eine wortgetreue Abhandlung sein darf, sondern lediglich, dass Fremdheit im Text in einigen Fällen nicht mehr als solche identifiziert wird. Es bedeutet auch nicht, dass Virginia Woolfs Romane heutzutage einfacher zu lesen oder zu verstehen oder gar zu übersetzen wären. Wie schwierig die Übertragung der Woolf’schen Sätze in der Praxis ist, zeigt Cécile Wajsbrot (eine ihrer französischen Übersetzerinnen) in dem Roman Nevermore, in dem die Protagonistin einzelne aus Zum Leutturm übersetzte Wörter, die wiederum Anne Weber ins Deutsche übertragen hat, stundenlang hin und her schiebt.
Bei den hier besprochenen Übersetzungen handelt es sich gewissermaßen um „moderne“ Übersetzungen von Mrs. Dalloway, die alle in einem ähnlichen Zeitfenster entstanden sind. Die Übersetzungen von Kai Kilian, Hannelore Eisenhofer und Hans-Christian Oeser wurden alle 2012 bzw. 2013 veröffentlicht, nachdem der Roman gemeinfrei wurde, und es scheint, als hätten alle Übersetzer:innen das Ziel gehabt, so viel wie möglich aus dem Original ins Deutsche zu retten – sei es die Zeichensetzung, die Wortstellung oder der ungewöhnliche Satzbau. Eine fundamental neue Interpretation des Ausgangstextes, die mal mehr oder mal weniger gelingen kann, hat hier niemand gewagt; vielleicht muss dafür noch ein bisschen Zeit vergehen, die Fallhöhe ist bei Klassikern oft hoch.
Virginia Woolf ist bekanntermaßen eine Meisterin der Bewusstseinsstromtechnik. Die wechselnde Erzählperspektive und Verwendung der erlebten Rede machen die Wahl der passenden Zeitform und richtigen Modi zu einer Herausforderung. Das Problem beginnt gleich mit den ersten Sätzen des Romans:
Zu Beginn des Romans wird berichtet, was Mrs. Dalloway gesagt hat. Im ersten Satz ist die indirekte Rede klar identifizierbar und wird auch in den Übersetzungen als solche übertragen. Eisenhofers „würde“ sticht hier direkt heraus. Zum einen ist es streng genommen nicht korrekt (obgleich die Handhabung der indirekten Rede sich schon lange jeglicher Systematik entbehrt hat), zum anderen entsteht durch das darauffolgende „würde gehoben werden“ und anschließende „käme“ eine unelegant klingende Überfrachtung des Satzes. Erwähnenswert ist zudem, dass Eisenhofer als einzige nicht der exakten Zeichensetzung des Originals gefolgt ist und anstelle des Semikolons ein „und“ eingefügt hat; vielleicht um sicherzugehen, dass die Sätze nicht abgehackt wirken. Auf jeden Fall deutet die Übersetzerin an dieser Stelle bereits an, dass sie sich in puncto Zeichensetzung und Satzbau weiter vom Original entfernen wird als einige ihrer Mitstreiter:innen.
Die ersten paar Sätze werfen Fragen auf, die sich durch den gesamten Roman ziehen werden: Wer spricht? Und wer spricht wie lange? Das Englische lässt in Redeberichten mehr Ungenauigkeiten zu, vor allem wenn die einleitenden Inquitformeln („sagte“) fehlen. Es gibt im Englischen keinen Konjunktiv wie im Deutschen, daher findet in der indirekten Rede lediglich eine zeitliche Verschiebung der Verben statt. Verbformen wie „were coming“ oder „had“ könnten somit sowohl noch immer Teil der indirekten Rede sein oder eben den Indikativ markieren. Die meisten Übersetzer:innen verwenden daher im dritten Satz den Konjunktiv, da sie ihn als Teil der indirekten Rede identifizieren. Walz hingegen übersetzt den Satz als Einzige völlig unbeirrt im Indikativ, was die ambivalente Erzählsituation im Deutschen verstärkt – denn wer erzählt hier? – und in dem Sinne die erste Loslösung vom Original markiert, die zugleich im Sinne des Originals ist. Wer die Konjunktivformen in den anderen Übersetzungen als anstrengend empfindet, mag ihr danken.
In diesem Zusammenhang lohnt sich auch ein Blick auf die letzten Sätze des Romans. Die Geschichte endet mit Clarissas Party, auf der alle wichtigen Charaktere (bis auf Septimus Smith) zusammengeführt werden. Das letzte Wort hat Peter Walsh, der Clarissa genau beobachtet und mit seinen gemischten Gefühlen ihr gegenüber hadert:
Eisenhofer sticht auch hier durch eine interessante, wenn auch fragwürdige übersetzerische Entscheidung hervor: „Es sei Clarissa, sagte er“, heißt es an dieser Stelle in ihrer Übersetzung. Rein grammatikalisch betrachtet ist der Konjunktiv an dieser Stelle passend, denn es gibt eine eindeutige Kennzeichnung der indirekten Rede („er sagte“). Aber es fällt dennoch auf, dass die anderen Übersetzer:innen den kurzen Satz alle anders übersetzt haben. Warum?
Die letzten Sätze folgen Peter Walshs Gedankengängen, die zunächst von rhetorischen Fragen im Indikativ durchzogen werden. Die Antwort auf diese Fragen, „es ist Clarissa“, ist ebenso Teil seiner Gedanken, er spricht vermutlich mit sich selbst, jongliert Sätze hin und her, so wie er es im restlichen Roman auch getan hat. Der Indikativ verleiht dem letzten Satz zusätzliche Prägnanz, lässt ihn wie eine unwiderrufliche Feststellung klingen; denn es ist Clarissa, die alle Gedankengänge und Handlungsstränge in diesem zusammenführt.
Es gibt jedoch noch einen anderen Grund, warum der Indikativ hier passend ist. Wenige Absätze zuvor hat Peter Walsh Clarissas Tochter auf der Party entdeckt und sagt in direkter Rede: „There’s Elizabeth“. Mit dieser Äußerung antizipiert er den Auftritt der Mutter, den er ähnlich kommentiert. Eisenhofer hat nicht nur den Satz, sondern die gesamte Unterhaltung in der er fällt als indirekte Rede übersetzt – damit die Wiederholung am Ende in ihrer Übersetzung funktioniert: „Da sei Elizabeth, sagte er“ heißt es in ihrer insgesamt unebenen Übersetzung.
Nicht unkommentiert bleiben soll Walz’ Entscheidung, die Struktur der Fragen aufzubrechen und sich vom Original loszulösen. Peters Frage „Woher kommt … ?“ betont die Suche nach dem Ursprung der Erregung. Verloren geht dabei die chiastische Struktur, die alle andere Übersetzer:innen gelungen ins Deutsche gebracht haben: „Was ist es […] Es ist Clarissa“. Auch an anderen Stellen fällt auf, dass Walz darauf verzichtet hat, andere syntaktische Wiederholungen ins Deutsche zu übertragen, obwohl dies durchaus möglich gewesen wäre.
Wiederholungen sind wichtige strukturierende und klangliche Elemente in Mrs. Dalloway. Mit dem sich mehrere Absätze lang wiederholenden Ausruf „Look!“ („Sieh nur“) weist beispielsweise Rezia ihren depressiven Ehemann an, seine Aufmerksamkeit auf die Londoner Umgebung zu richten. Wortwiederholungen verbinden zudem die Gedanken und Handlungen einzelner Figuren. „There she was“ ist ein Satz, den Peter Walsh mit Bezug auf Clarissa mindestens fünf weitere Male im Original verwendet, wann immer er in Erinnerungen an sie schwelgt. Einige Übersetzer wie Kilian oder Boehlich haben diese Wiederholung aufgegriffen und sein finales „da war sie“ bereits an vorherigen Stellen untergebracht, um die Struktur des Originals nachzuahmen.
Komplex sind in Mrs. Dalloway nicht nur Erzählstil und Wortwiederholungen, sondern auch der Satzbau. Dabei sind nicht zwangsläufig die gefürchteten Schachtelsätze schwierig; auch kurze Kommentare können tückisch sein. „Musing among the vegetables?“, fragt Peter Walsh Clarissa. Auf Deutsch kann die Frage entweder ausformuliert so „Grübelst du mitten im Gemüsebeet?“ (Oeser) oder verkürzt so „Grübelei im Gemüse?“ (Kilian) klingen, wobei Letzteres aufgrund seiner Präzision vorzuziehen wäre. Hier ein weiteres Beispiel, wie unterschiedlich kurze Sätze klingen können:
Hugh Whitbread, ein alter Freund Clarissas, läuft ihr zufällig in London über den Weg und stellt diese Frage. Die kurze Unterhaltung, bei der sich Clarissa mehr Gedanken über ihren Hut macht als über die Antworten von Hugh Whitbread, ist nichts weiter als typisch englischer Small Talk. In diesem Sinne trifft das „Wohin führt Sie der Weg?“ mit seiner steifen Sie-Form nicht ganz den ungezwungenen Plauderton des Originals. Oftmals hat das Englische den Ruf, knappere und prägnantere Formulierungen hervorzubringen als das Deutsche, wo so einiges in Nebensätze verpackt wird. Viele Mrs.-Dalloway-Übersetzungen zeigen aber, dass auch die deutsche Sprache überaus kompakt sein kann.
Das Zitat deutet außerdem das Alleinstellungsmerkmal der Übersetzung von Kai Kilian an. Anders als seine Mitstreiter:innen übersetzt Kilian Verkürzungen bzw. baut diese ein, um Umgangssprachlichkeit zu suggerieren. „I’ll give it you!“ wird bei Kilian zu „Euch zeig ich’s!“ (Walz schreibt das „es“ an dieser Stelle aus). Und den Satz „You’ll get married, for you’re pretty enough“ übersetzt er als „Heiraten wirste, hübsch genug biste ja“. Die Äußerung stammt von Mrs. Dempster, einer einfachen alten Frau, die auf einer Londoner Parkbank über ihr Leben nachdenkt. Der umgangssprachliche Tonfall ist somit recht treffend, weil er nicht zu übertrieben eingesetzt wird. Im Gegensatz dazu übersetzt beispielsweise Boehlich den Satz etwas formell als „Du wirst heiraten, denn du bist hübsch genug“, was keinen eigenen Figurensprech erkennen lässt.
Die meisten Übersetzer:innen haben im Fall von Mrs. Dalloway generell die Tendenz, den Satzbau sehr nah am Original gestalten zu wollen:
Ohne ein Prädikat ergibt eine wortwörtliche Übersetzung des durch ein Komma getrennte „Then Clarissa“ zu Beginn des Satzes keinen Sinn. Folglich besteht die Option, das Prädikat („got up“) nach vorne zu ziehen oder Clarissas Namen später zu erwähnen (siehe Kilian). Am ausladendsten ist die Lösung von Boehlich, der das „auf“ nach hinten zieht und durch zwei Kommas vom ersten Teil trennt. Darauf folgen lediglich noch mehr Kommas, die weniger den Eindruck der Kontrolle, sondern eher des totalen Entgleitens des Satzes vermitteln. Kontrastprogramm bieten an dieser Stelle Walz und Eisenhofer, die alles sorgfältig sortieren, aber auch glätten. Clarissa beleidigt in dieser Szene ihre engste Freundin und fällt kurz in Ungnade. Aus diesem Grunde bietet das nachgeschobene, syntaktisch allein stehende „allein“ zusätzliche Emphase, die auch im Deutschen möglich gewesen wäre.
Die Mrs.-Dalloway-Übersetzungen unterscheiden sich auch darin, welche Wörter ihre Verfasser übersetzen und welche sie unübersetzt lassen. In Walz’ Übertragung veranstaltet Clarissa keine „Gesellschaft“, sondern wie im Englischen eine „Party“; die Figuren gehen in die „Music Hall“ und nicht ins „Varieté“ und Hugh Whitbread wird als „Public-School-Abgänger“ bezeichnet. Für viele deutschsprachige Leser:innen wird das potenziell missverständlich sein, da sich hinter dem britischen Begriff „public school“ nicht die staatlichen, sondern die privaten Schulen verbergen. Im Originaltext gibt es zudem ein herausgestelltes Shakespeare-Zitat, das Clarissa in einem Buch liest: „Fear no more the heat o’ the sun Nor the furious winter’s rages“. Warum einige Übersetzer (beispielsweise Boehrlich) das Zitat im Original stehen lassen und dessen Übersetzung in den Fußnoten verbergen, wo dann wiederum zwei verschiedene Übersetzungen zitiert werden, ist fragwürdig. Leser:innen, die über keine Englisch-Kenntnisse verfügen, können auf diese Weise nicht im Fließtext verstehen, was Clarissa genau liest.
Die folgende Szene bietet ein weiteres Beispiel für eine nicht-übersetzte Nuance und zeigt den zurückhaltenden Stil, zu dem einige Übersetzer:innen stellenweise tendieren. Wir sind mitten im Londoner Trubel und ein Wagen fährt vor, der allerlei Spekulationen auslöst:
Der Witz besteht darin, dass Watkiss dem Wagen eine Bedeutung zuschreibt, die ihm mit hoher Wahrscheinlichkeit gar nicht zusteht. Aus dem Original geht jedoch klar hervor, dass der Witz auch darin liegt, wie sich Watkiss ausdrückt. „Witzig“ steht bei Boehrlich an letzter Stelle des einleitenden Satzes und soll den Ausspruch als solchen charakterisieren. Aber was genau an „Dem Premierminister sein Wagen“ witzig sein soll, wenn man den Satz ohne jegliche sprachliche Verzerrung übersetzt, bleibt unklar. Man wünscht sich stattdessen, dass einige Übersetzer:innen angesichts der großen Virginia Woolf manchmal weniger einknicken würden.
Die Neuübersetzung durch Melanie Walz schreckt vor solchen Stellen weniger zurück. Walz orientiert sich insgesamt nicht unbedingt weniger eng am Original als ihre Vorgänger:innen, aber sie nimmt sich Freiheiten. Im direkten Vergleich fallen ihre Loslösungen vom Ausgangstext besonders auf. So baut sie klangliche Spielereien und eigenwillige Interpretationen ein, die sich nicht in den anderen Übersetzungen finden lassen. Eine beiläufige Bemerkung wie „Ah yes, she did of course“ wird zu „Ach ja, sie verstand selbstverständlich“ und in ihrer Übersetzung „lächelt“ Peter, „als er seine neue Frau derart lächerlich Clarissa präsentierte“ („he smiled as he placed her in this ridiculous way before Clarissa“). Und während beispielsweise Boehrlich „He pursued; she changed“ mit „Er setzte ihr nach; sie wechselte“ runter übersetzt, baut Walz einfach ein Stilmittel ein: „Er verfolgte sie, sie veränderte sich“.
Als Clarissa über ihre Erzfeindin Miss Kilman nachdenkt, deutet Walz Clarissas Abneigung an Stellen an, wo andere sie eher übergehen. Clarissas Mann Richard sagt über Miss Kilman: „[she] had a really historical mind“. Kilian übersetzt das als „sie […] habe wirklich Sinn für Geschichte“; Walz hingegen neigt mit „sie […] habe einen wahrhaftig historisch versierten Verstand“ zur Übertreibung, die dem ganzen einen ironischen Unterton verleiht bzw. ihn verstärkt, da dieser bei Virginia Woolf fast immer vorhanden ist. Die Strategie setzt Walz in dem Absatz weiter fort, wo Clarissa über Kilmans Verhalten nachdenkt und zu einem „Quälgeist in ihrem grünen Regenmantel“ macht. Das Wort „Quälgeist“ findet sich in keiner anderen Übersetzung; Walz fügt die Bezeichnung hier ein, weil Clarissa den Umgang mit ihr als „Private inflicted positive torture“ (was sich sehr schwer übersetzen lässt) charakterisiert.
Um die Eigenwilligkeit der Walz’schen Übersetzung in Gänze nachvollziehen zu können, schauen wir uns ein letztes Beispiel an. Ausrufe mitten im Text, unvollendete Gedankengänge, Einschübe und Aufzählungen sind typisch für Virginia Woolf:
Jeden Gedankenstrich, jede ungewöhnliche Wortstellung, jeder Einschub hat bei Virginia Woolf eine Bedeutung, die es ins Deutsche zu bringen gilt – sie ist nun mal als große Stilistin bekannt. Das Bestreben, ihren Stil so genau wie möglich auch im Deutschen zu imitieren, ist daher nachvollziehbar. Aber muss es immer so eng sein? Im Fall von Mrs. Dalloway wird deutlich, dass die Übersetzer:innen sehr bemüht sind, so nah am Text wie möglich übersetzen wollen, um jeder noch so kleinen Nuance gerecht zu werden.
Auffällig ist auch hier wieder, dass Walz einen anderen Weg einschlägt als ihre Vorgänger:innen (sicherlich ein Luxus, den man hat, wenn es schon viele Übersetzungen gibt). Der Augenblick hat bei Walz kein Herz, sondern eine „Seele“, die Clarissa bannt – es verleiht dem Ganzen etwas Mystisches, das durchaus zur weißhaarigen, oftmals enigmatischen Clarissa passt. Im letzten Satz des Zitats gibt es einen erkennbar klimatischen Aufbau. Clarissa erkennt das Gesicht einer Frau, das sie schließlich als ihr eigenes identifiziert. In Walz’ Übersetzung wiederholt sich das Wort „Gesicht“, wodurch die Bezüge deutlicher hervorgehoben werden. In anderen Übersetzungen stehen an dieser Stelle recht einsame Genitivformen, die durch einen klassisch Woolf’schen Einschub vom Rest getrennt wurden und nicht ganz die volle Wirkung erzielen.
Die Frage ist: Funktioniert diese Strategie innerhalb der gesamten Neuübersetzung? In den allermeisten Fällen durchaus. Es gibt Stellen (wie das Ende), an denen man die Herangehensweise infrage stellen könnte, aber insgesamt ist die Neuübersetzung lesbar, melodisch und bemerkenswert ungekünstelt. Ist die Neuübersetzung nun besser als vorherige Übersetzungen? Nicht unbedingt. Die aufgegriffenen Eigenheiten der Übersetzung sollen vor allem auf die unterschiedlichen Textauslegungen hinweisen. Walz’ Übersetzung ist jedoch keineswegs radikal anders als die ihrer Vorgänger:innen. Und die anderen Übersetzungen sind wiederum keineswegs schlecht.
Zwei der Übersetzungen schaffen es nicht, gänzlich zu überzeugen: Die Fassung von Walter Boehrlich geriet etwas zu starr und förmlich, während Hannelore Eisenhofer offenbar mit der Sprache zu kämpfen hatte. Aber die Übersetzungen von Kai Kilian und Hans-Christian Oeser sind genau wie die schöne Neuübersetzung durch Melanie Walz empfehlenswert. Diese erschien genau rechtzeitig: In wenigen Wochen ist wieder Juni – ein guter Anlass also, um Mrs. Dalloway neu zu entdecken und mit Clarissa durch die Straßen Londons zu flanieren.